EINUNDZWANZIG
Das Traurige an der Sache war, dass am Ende nur fünf von uns - Cosabella nicht mitgerechnet - nach Westchester fuhren. Und einer von uns war bewusstlos.
Es war nicht nett oder fair gewesen, Brandon Stark so auszunutzen. Doch wir brauchten nun mal dringend seine Limousine. Wie wären wir denn sonst zu Dr. Fong gekommen? Kein Taxi hätte uns so weit rausgefahren und Züge gab es bis zum nächsten Morgen keine mehr. Christopher hatte zwar gesagt, dass seine Tante Jackie uns sicher ihren Minivan leihen würde, aber dann hätten wir uns erst den ganzen weiten Weg nach Brooklyn schleppen müssen, um ihn abzuholen. Außerdem hätten wir auch erklären müssen, wozu wir ihn brauchten.
Na ja, und dann lag da Brandon völlig reglos auf meinem Sofa. Die vielen Litschitinis hatten ihm den Rest gegeben.
Immerhin hatten wir ihn ja mitgenommen. Allerdings hatten wir Tom, seinen Chauffeur, losgeschickt, um im Laden an der Ecke irgendwas mit viel Magnesium für ihn zu besorgen. Und als er dann weg war, setzte Steven sich kurzerhand ans Steuer und düste mit uns los.
Die einzige Hürde war, Gabriel zu erklären, weshalb er nicht mitkommen konnte. Er hatte keinen Schimmer, wohin wir wollten (außer natürlich, dass wir nach Westchester fuhren) oder aus welchem Grund wir dorthin mussten. Aber er wollte unbedingt mitkommen. Als ich mich bei ihm dafür bedankt hatte, dass er sich so nett um Frida gekümmert hatte, und meinte: »Also, wir müssen jetzt leider auf eine wichtige Mission. Wir sehen uns dann später«, da erwiderte er: »Das ist ja cool. Ich helfe euch.« Und dann hatte er sämtliche Türen aufgehalten, während Christopher und Steven den halb bewusstlosen Brandon anschleppten.
Na ja, und weil er unbedingt mitwollte, wollte Frida natürlich auch mit. Irgendwann nahm ich ihn dann am Arm und flüsterte ihm zu: »Würdest du mir bitte einen Riesengefallen tun? Könntest du sie nach Hause bringen? Sie ist doch viel zu jung, um so spät noch unterwegs zu sein, und ich hab Angst, dass ihr was zustoßen könnte, wenn ich sie allein nach Hause schicke. Du hast ja gesehen, was bei der Party passiert ist. Kannst du dafür sorgen, dass sie sicher bei ihren Eltern daheim ankommt? Ist nur ein paar Blocks von hier.«
Gabriel erklärte sich schließlich einverstanden, aber nur unter der Bedingung, dass wir auf ihn warten würden. Na ja, und als Frida erfuhr, dass sie - sie allein! - mit Gabriel Luna zusammen in einem Taxi fahren durfte, da war sie natürlich mehr als bereit gewesen, mit ihm zu kommen. Als wir uns zum Abschied umarmten, flüsterte sie mir ins Ohr: »Tut mir leid, dass ich vor ein paar Tagen so gemeine Dinge zu dir gesagt habe. Ich hab nichts davon ernst gemeint, ehrlich. Du bist eine echt coole große Schwester. Und vielen Dank für die hier.« Sie deutete auf ihre Ohrläppchen, in denen die Diamantohrstecker steckten, die ich ihr geschenkt hatte.
»Die hättest du aber eigentlich erst an Weihnachten auspacken dürfen«, sagte ich enttäuscht. »Jetzt hast du nichts mehr, worauf du dich freuen kannst.«
»Doch, ich freu mich drauf, dich zu sehen«, wisperte sie und gab mir zum Abschied einen Kuss. Dann hakte sie sich bei Gabriel unter und entschwand mit ihm die Centre Street runter.
Natürlich hatten wir nicht die leiseste Absicht, auf Gabriel zu warten. Steven setzte mit dem Wagen zurück und fuhr sofort in Richtung Highway los, weil er so schnell wie möglich zu Dr. Fong wollte. Klar hatte weder er noch irgendeiner von uns eine Ahnung, was uns dort erwarten würde. Von uns allen war ich wohl die Einzige, die immer noch an nichts anderes als an Dinosaurier-Sticker denken konnte. Diese E-Mails wusste ich mir noch nicht zu erklären …
… aber die Dinosaurier-Sticker, die ich Christopher damals gegeben hatte, die hatten damals genauso wenig Sinn ergeben. Zumindest für Christopher. Aus dem Kontext gerissen, konnten sie nichts bedeuten, genauso wenig wie diese E-Mails, die Justin angeblich die ganze Zeit von mir erhielt.
Immer noch echoten mir Christophers Worte durch den Kopf: »Kein Mensch verschwindet einfach so für immer… diese Menschen können nicht gegen das Gefühl an, ihren Freunden von früher ein Zeichen zu senden … Das ist nun mal die Macht der Gewohnheit. Alle machen früher oder später diesen Fehler.«
Doch wer schrieb dann diese ganzen Textnachrichten? Vielleicht war das alles ja nur ein gemeiner Scherz. (Okay, aber woher sollte irgendeins von den Kids, die so etwas normalerweise tun, Justin Bays Nummer haben?) Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten. Möglicherweise war das Ganze total umsonst.
Vielleicht aber auch nicht.
Als wir Manhattan verlassen hatten und in Westchester angekommen waren, gab es nur ein kleines Problem: Christopher wollte nicht, dass Steven das GPS-Navi der Limousine einschaltete, damit wir die Adresse leichter fanden.
»Willst du mich verarschen?«, rief er. »Wenn wir das tun, dann haben die von Stark sofort all ihre Satelliten auf uns gerichtet. Und binnen fünf Sekunden holen uns die Cops.«
Das schreckte Lulu auf. »Tun wir jetzt echt was, womit wir gegen das Gesetz verstoßen?«, wollte sie wissen.
Christopher warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Hallo? Wir haben eine Limousine geklaut, das allein reicht schon.«
»Äh, na ja«, rief ich dazwischen. »Streng genommen haben wir sie uns eigentlich nur geliehen.« Ich warf einen Blick auf Brandon, der auf seinem Sitz tief und fest schlief. Ein schlummernder Engel im Smoking. Dazu trug er seine rote Weihnachtsmannmütze aus Samt. »Der Besitzer des Wagens ist immerhin auch da, oder nicht?«
»Hier«, meinte Christopher. Er hatte einen Straßenplan auf seinem i-Phone aufgerufen und hielt Steven jetzt das Display hin. »Wir müssen noch zwei Meilen auf dieser Straße bleiben.«
»Danke«, erwiderte Steven vom Fahrersitz aus. Die kurvige Landstraße, auf der wir uns befanden, war von riesigen, herrschaftlichen Villen gesäumt. Doch die Straße war um diese nächtliche Stunde verlassen. Große fluffige Schneeflocken kamen vom Himmel niedergerieselt, zwar noch nicht so viele, als dass der Schnee liegen geblieben wäre, aber genug, dass es einfach wunderschön aussah. Ich war immer noch heilfroh, dass ich meine Stiletto-Sandalen vorhin gegen ein Paar Stiefel von Marc Jacobs eingetauscht hatte. Steven hatte die Heizung aufgedreht, aber sobald ich aus dem Auto stieg, würde meine Lederjacke nicht warm genug sein. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich immer noch mein Neckholder-Abendkleid trug. Wenigstens hatte sich Cosabella auf meinem Schoß breitgemacht und spendete mir ein bisschen Wärme.
»Ich hab noch nicht ganz verstanden, wohin wir eigentlich wollen«, fragte Lulu jetzt. Sie hatte sich die Chauffeursmütze von Tom aufgesetzt, die er im Wagen liegen gelassen hatte. Sie passte ziemlich gut zu ihrem blondierten Pagenkopf, den sie hin und wieder mal mit Extensions verlängerte, jedoch nicht heute Abend. »Aber das ist eigentlich gerade das Aufregende daran! Das ist wie eine Schnitzeljagd! Ist Nikki nicht großartig? Sie weiß einfach, wie man auf einer Party den meisten Spaß hat!«
Keine Ahnung, ob Lulu sich nur einreden wollte, dass alles in Ordnung war, oder ob sie sich tatsächlich nicht darüber im Klaren war, dass die Sache hier ernst war. Sie schien immer noch auf Wolke sieben zu schweben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie und Steven astrologisch betrachtet bestens zueinander passten, wenn man denn ihrer Astrologin glauben wollte.
Plötzlich sagte Christopher: »Die nächste Einfahrt müsste es eigentlich sein.«
Steven bog in eine lange Auffahrt ein, die zu beiden Seiten von einer Mauer aus aufeinandergestapelten runden Steinen gesäumt war. Dahinter war ein leicht hügeliger Garten zu erkennen, der mit wunderschönen Bäumen bepflanzt war. Zu dieser Jahreszeit trugen sie allerdings nichts als kahle Äste. Der Himmel färbte sich im Westen bereits zartrosa, und da die Schneewolken ziemlich tief hingen, reflektierten sie die Lichter der nahen Stadt. So war das Gebäude trotz der späten Stunde ziemlich leicht auszumachen. Es handelte sich um ein altmodisches Haus aus roten Ziegeln im Kolonialstil mit schwarzen Fensterläden. In jedem der Fenster brannte ein elektrisches Licht, das aussah wie eine Kerze.
Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass in Kriegszeiten die Frauen immer Kerzen in die Fenster stellten, damit ihre Lieben den Weg nach Hause fänden. Heutzutage hatten die Leute diesen uralten Brauch für die Weihnachtszeit übernommen. Wen wollte wohl Dr. Fong damit nach Hause locken?
Steven fuhr bis zum Ende der Auffahrt, wo sie sich vor dem Eingang zum Gebäude zu einem großen runden Vorplatz erweiterte. Dann erst hielt er an und schaltete den Motor aus.
»Also«, fragte Lulu. Dabei drehte sie sich zu uns um und sah uns erwartungsvoll vom Vordersitz aus an. Die Chauffeursmütze hatte sie sich schief aufgesetzt, was frech wirkte. »Was jetzt?«
Durch die getönten Scheiben der Limousine betrachtete ich das Haus. Auch wenn es nicht eben klein war, hatte es doch auch nicht die einschüchternde Größe von ein paar der anderen Villen, an denen wir vorbeigekommen waren. Fast wirkte es schon »normal« - die Art von Haus, an dem man vorbeifährt und das einem nicht sonderlich auffällt, bei dem man sich nicht fragt, wer wohl darin wohnen mag, bei dem man nicht denkt: Himmel, genau in so einem Haus möchte ich eines Tages auch wohnen. Es war einfach nur … da.
Abgesehen von Brandons sanftem Geschnarche herrschte im Wagen Totenstille.
Ich hob Cosabella hoch, die immer noch reglos auf meinem Schoß lag, und kletterte über Christophers Beine auf die Wagentür zu.
»Was …« Christopher klang beunruhigt. »Warte auf mich.«
»Und auf mich auch«, meinte Steven, der ebenfalls ausstieg.
»Ich komm auch mit«, rief Lulu.
Und so folgte mir auf dem Weg zu Dr. Fongs Haustür eine kleine Schar von Menschen - eigentlich alle, die in der Limo mitgefahren waren, außer Brandon, der keinen Mucks getan hatte. Draußen war es unglaublich kalt. So kalt, dass ich das Gefühl hatte, meine Nasenlöcher würden zufrieren, wenn ich zu tief Atem holte. In der Luft lag ein angenehmer Duft nach Holzfeuer. Es war völlig still - totenstill - in Dr. Fongs Nachbarschaft, nur unsere Schritte waren zu hören, als wir den vereisten Pfad zur Haustür entlangmarschierten.
Als wir dort angekommen waren, hob ich den schweren gusseisernen Türklopfer und ließ ihn zwei oder drei Mal runterkrachen. Der Lärm, den er verursachte, erschien in der Stille so überdimensional laut, dass ich schon Angst hatte, wir hätten die halbe Nachbarschaft geweckt.
Als nach einer Minute immer noch nichts geschah, meinte Lulu: »N-niemand zu Hause, wie es scheint.« Ihre Zähne klapperten wegen der Kälte. »L-lasst uns ins A-Auto zurückgehen. Da ist es wenigstens schön warm.«
Ich schenkte ihr keine Beachtung. Stattdessen griff ich wieder nach dem Türklopfer und ließ ihn noch einmal herunterfallen.
Dieses Mal ging über uns im Haus tatsächlich Licht an. Ich konnte Fußtritte hören. Dann öffnete sich die Tür, und vor uns stand ein Mann mittleren Alters im Bademantel, der uns aus verschlafenen Augen ansah. Als er mein Gesicht erblickte, wurden seine Augen jedoch plötzlich ganz groß.
»Hi«, sagte ich.
Dr. Fong schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, entfuhr es ihm. Weiter nichts. Nur dieses eine Wort.
Aber es sagte alles: Er hatte Angst, riesige Angst.
Er wollte uns die Tür vor der Nase zuschlagen, doch er hatte nicht mit Steven gerechnet, der schnell seinen Fuß in die Tür stellte.
Dann sagte Steven: »Wir haben einen weiten Weg hinter uns. Wir würden gern auf einen Sprung reinkommen und mit Ihnen reden.«
»Nein«, sagte Dr. Fong wieder. Er wirkte immer noch angsterfüllt. »Ich glaube, ihr habt euch in der Tür vertan. Ich kenne euch nicht …«
»Äh«, meinte Christopher, während er sich dicht hinter Steven stellte. »Ich glaube schon, dass Sie Nikki Howard kennen - oder sollte ich besser sagen: Em Watts -, und zwar recht gut sogar. Oder wollen Sie abstreiten, dass Sie einer der Chirurgen sind, die vor einigen Monaten im Stark Institute für Neurologie und Neurochirurgie an ihrer Gehirntransplantation beteiligt waren? Ich konnte nämlich ihre Patientenakte einsehen und daher weiß ich alles darüber. Sofern Sie also verhindern wollen, dass ich mit diesen Informationen an die Presse gehe, sollten Sie uns besser einlassen.«
Dr. Fong, der den Eindruck machte, als würde man ihm ein Messer an die Kehle halten - was wir wohl im übertragenen Sinne auch taten -, dachte eine Weile darüber nach. Endlich trat er einen Schritt zurück und ließ uns herein. Wir betraten nacheinander das Foyer, das im Neuengland-Stil eingerichtet war, mit dunklen, glänzenden Möbeln und Porträts von Hunden auf Entenjagd. Cosabella hielt höflich, aber auch neugierig ihr Näschen hoch und schnupperte.
»Das hier ist kein Spiel«, sagte Dr. Fong schließlich grollend, als wir alle drinnen waren und er die Tür hinter uns zugemacht hatte. »Die machen euch kalt, wenn die das herausfinden. Das wäre nicht das erste Mal. Diese Leute gehen über Leichen. Wie, glaubt ihr wohl, bin ich in diesen Schlamassel geraten?«
Als ich diese Worte hörte, und zwar von einem Doktor, der absolut liebenswürdig wirkte, wie er da mit seinem roten Schottenkaro-Bademantel in seinem altmodischen Flur vor uns stand, da lief mir ein Schauer über den Rücken, wie die Kälte da draußen ihn nie hätte verursachen können.
Auch wenn seine Worte mich frösteln ließen, so hatten sie doch einen weit schlimmeren Effekt auf Lulu, die wirklich keine Ahnung gehabt zu haben schien, worauf sie sich einließ. Sie wurde auf einmal mucksmäuschenstill - und machte ein düsteres Gesicht. Tja, zu erfahren, dass man womöglich umgebracht werden würde, ruinierte wohl die beste Partystimmung. Ich weiß, wovon ich rede.
»Warum setzen wir uns nicht und Sie erzählen uns alles in Ruhe?«, schlug Steven vor, immer noch genauso ruhig und besonnen wie zuvor. Offensichtlich war es nicht das erste Mal, dass er mit einem hysterischen Gehirnchirurgen zu tun hatte.
Dr. Fong tat, wie ihm geheißen. Doch er gab, wie nur allzu deutlich wurde, nach, weil er sich in die Enge getrieben sah, nicht weil er es so wollte. In Pantoffeln schlurfte er ins Wohnzimmer, ein quadratischer Raum, der ebenfalls in neuenglischer Schlichtheit eingerichtet war. Früher am Abend hatte dort allem Anschein nach ein offenes Feuer geflackert. Inzwischen war es ausgegangen, doch der angenehme Geruch nach verbranntem Holz hing immer noch in der Luft. Dr. Fong schaltete eine Lampe an, die auf einem Tischchen beim Fenster stand, allerdings erst, nachdem er sorgfältig sämtliche Vorhänge im Zimmer zugezogen und vorab einen kurzen Blick durch jedes Fenster geworfen hatte, ob auch wirklich kein anderes Auto als das unsere in der Einfahrt stand.
»Ihr seid euch ganz sicher, dass euch niemand gefolgt ist?«, fragte er streng.
Christopher und ich tauschten besorgte Blicke. Ich hatte tatsächlich darauf geachtet, auch wenn mich das endgültig zum totalen Psycho machte.
»Ja, ganz sicher«, antwortete ich. »Und nein, uns ist niemand gefolgt.«
»Hättet ihr nicht ein weniger auffälliges Fahrzeug wählen können?«, wollte Dr. Fong nun wissen. »Glaubt ihr vielleicht, dass eine Stretchlimousine in dieser Gegend unbemerkt bleibt?«
»Wir hatten keine andere Wahl«, erklärte ich verblüfft.
Dr. Fong ließ seinen Blick wandern - erst zu Lulu, die immer noch die Chauffeursmütze und ihr weites Cocktailkleid trug und auf der Armlehne eines Chippendale-Sofas saß; dann zu Steven, der stocksteif und in Hab-acht-Stellung bei der Tür zur Eingangshalle stand, als erwartete er, dass die Leute von Stark jeden Moment hereinstürmen könnten; Christopher und ich standen gleich neben dem erloschenen Kamin. Und Cosabella saß zu unseren Füßen und starrte Dr. Fong an, der in seinem Schlafanzug und seinem Bademantel einen ziemlich konfusen Eindruck machte, weil ihm auch noch ein Büschel seiner schwarzen Haare vom Kopf abstand. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er nicht besonders erfreut über das, was er sah.
»Gibt es«, fragte ich ihn jetzt, weil es mir soeben erst in den Kopf geschossen war, »denn auch eine Mrs Fong?«
Dr. Fong sah mich verächtlich an. »Nein«, erwiderte er schließlich. »Nein, meine Mutter lebt nicht bei mir.«
Ich hatte eigentlich wissen wollen, ob er verheiratet war, aber damit war diese Frage wohl auch schon beantwortet.
Christopher kam jetzt ohne Umschweife zu unserer eigentlichen Frage. »Weshalb schickt irgendjemand von einem Computer in diesem Haus aus E-Mails an einen Exfreund von Nikki Howard?«
Daraufhin verbarg Dr. Fong sein Gesicht in beiden Händen. Dann drehte er sich um, ging auf einen kleinen Sekretär zu und holte einen Dekanter aus geschliffenem Kristall mit Whiskey hervor. Mit zitternden Händen schenkte er sich ein Glas ein.
Anschließend stürzte er den kompletten Inhalt in einem Zug runter und schenkte sich sogleich ein weiteres Glas ein.
Damit ging er zum Sofa rüber und ließ sich neben Cosabella darauf nieder. Cosy hatte sich wieder mal das bequemste Möbelstück im ganzen Haus ausgesucht. Als Dr. Fong uns nun ansah, fuhr mir ein Schreck in die Glieder. Er war so weiß im Gesicht wie die Segel des Schiffes auf dem Bild direkt hinter ihm.
»Wer weiß sonst noch von der Sache?«, erkundigte er sich.
»Niemand«, erklärte ich und warf Steven einen kurzen Blick zu. »Ich meine, niemand außer allen hier im Raum. Plus die Person, die die E-Mail hierher zurückverfolgt hat.«
»Wird die ihren Mund halten?«, fragte Dr. Fong und hob mit zitternden Händen das Glas an die Lippen.
»Ganz sicher«, sagte ich entschieden. Ich durchquerte das Zimmer und ließ mich in einen Sessel sinken, der genau gegenüber von Dr. Fong stand. »Dr. Fong, was geht hier vor sich?«
Dr. Fong schwieg einen kurzen Moment und starrte in die bernsteinfarbenen Tiefen seines Drinks. Als er endlich anhob zu sprechen, fragte er Folgendes: »Wisst ihr, was der Eid des Hippokrates bedeutet?«
Lulu starrte ihn verständnislos an. Steven stand immer noch an der Tür, bereit, jeden Eindringling sofort mit einem einzigen Karatestoß k. o. zu schlagen oder etwas in der Richtung.
Dann sagte Christopher: »Klar. Es handelt sich um einen Eid, den alle Ärzte ablegen müssen, bevor es ihnen erlaubt ist, als Mediziner zu praktizieren.«
»Primum non nocere, niemandem schaden, so lautet doch der erste Grundsatz«, sagte ich.
»Das ist korrekt«, erwiderte Dr. Fong. »Und das sagen wir uns auch im Stark-Institut regelmäßig. Dass wir niemandem schaden. Wir verpflanzen Gehirne aus schrecklich entstellten Körpern, die nicht überlebensfähig wären, in gesunde Körper von gehirntoten Spendern, sodass unsere Patienten eine zweite Chance auf ein Leben erhalten. Und genau das ist mit dir passiert.« Er blickte zu mir auf. »Ich arbeite schon seit zehn Jahren im Stark-Institut, und kein einziges Mal habe ich bisher die moralischen Implikationen dessen, was wir dort tun, infrage gestellt. Bis zu dem Tag, an dem du deinen Unfall hattest.«
Sein Blick wanderte hilflos durchs Zimmer. Er sah erst Steven an, dann Christopher und zum Schluss wieder mich.
»Was ist an jenem Tag geschehen?«, erkundigte ich mich nun mit belegter Stimme. Ich räusperte mich.
»Ich habe nur assistiert«, erklärte Dr. Fong, sein Blick nun in die Ferne gerichtet. »Dr. Holcombe war für deinen Fall verantwortlich. Nikki Howard war viel zu wichtig, um von jemand anderem als ihm behandelt zu werden. Normalerweise leite ich nämlich den Lehrtrakt des Instituts …«
»Den Lehrtrakt?«, unterbrach ich ihn verstört.
»Ja, selbstverständlich«, antwortete Dr. Fong. »Die Nachfrage nach Gehirntransplantationen ist dermaßen hoch, dass es eine lange Warteliste gibt. Leider muss man ungefähr zwei Jahre warten und einige Patienten haben nicht so viel Zeit - oder wollen nicht so lange warten. Deshalb haben Chirurgen aus aller Welt die Möglichkeit, gegen ein gewisses Entgelt zu uns ins Institut zu kommen, und wir bringen ihnen dann bei, wie man diese Transplantationen durchführt. Bei uns können sie an Spenderkörpern üben…«
»Spenderkörper?« Ich war echt erschüttert. Christopher warf mir einen genervten Blick zu, weil ich das Ganze schon wieder unterbrochen hatte, aber ich konnte doch nichts dafür. Hallo? Spenderkörper?
»Oh, von denen bekommen wir eine ganze Menge«, erklärte Dr. Fong. »Die unterschiedlichsten Menschen, die rechtlich und ganz offiziell für gehirntot erklärt worden sind und die ihre Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt haben. Leider herrscht ja, dank häufiger Unfälle und immer öfter auch dank Überdosen an Drogen und Alkohol, keine Knappheit an Spendern, die in einem solchen Dämmerzustand dahinvegetieren. Was uns allerdings fehlt, sind natürlich gesunde, funktionstüchtige Gehirne, die wir diesen Körpern einpflanzen könnten, und für solche Gehirne sorgen wiederum Patienten wie du …«
Ich riss die Hand hoch, da ich keinen Ton mehr hören wollte. Mir war kotzübel. »Okay, geht schon wieder«, presste ich dann hervor. »Fahren Sie fort.«
»Nun ja«, meinte Dr. Fong. »Wie ich schon sagte, offensichtlich waren in deinem Fall Dr. Holcombe und Dr. Higgins verantwortlich. Aber irgendetwas war da … irgendetwas war seltsam bei deiner Operation. Dr. Holcombe sagte mir, dass in Nikki Howards Familie schon zahlreiche genetisch bedingte Gehirnschäden vorgekommen wären und dass sie das umgebracht hätte.«
Ich merkte, dass Lulu jetzt noch verwirrter dreinschaute als vorher. Aber als niemand sonst auf Dr. Fongs Feststellung reagierte, dass ich ja tot sei, obwohl ich doch eindeutig hier war, und zwar ziemlich lebendig, da blieb auch sie stumm.
»Nachdem er deine Wunden vernäht hatte, tat ich etwas, was ich unter normalen Umständen nie getan hätte«, erzählte Dr. Fong weiter. »Ich habe nämlich das entnommene Gewebe untersucht. Ich habe mich schon immer sehr für Anomalitäten des Gehirns interessiert, und ich wollte erfahren, welchen Defekt das Gehirn von Nikki Howard gehabt hatte.«
Irgendwo oben hörte ich, wie sich eine Tür öffnete und dann wieder zuging, gefolgt von ein paar dumpfen Geräuschen. Über unseren Köpfen ging ganz offensichtlich jemand umher. Doch Dr. Fong schien dies überhaupt nicht zu registrieren.
»Nikki Howards Gehirn wies allerdings keinerlei Anomalität auf. Es war nahezu perfekt. Keinerlei Defekt zu finden. Und das Aneurysma, das sie Dr. Holcombe zufolge gehabt haben sollte? Die vorrangige Ursache für ihren Tod und für diese Nottransplantation, wo war die nun? Sie war vollkommen gesund.«
Ich warf Christopher einen Blick zu. Er hatte ja bereits gesagt, dass es keinen Unfall gegeben hatte. Gibt es irgendjemanden, der genau sagen kann, was an dem Tag mit Nikki passiert ist? Sie ist zusammengebrochen und nicht wieder aufgestanden. Die von Stark behaupten, es habe sich um ein Aneurysma gehandelt … aber woher wollen wir wissen, dass das stimmt?, hatte er gefragt.
Jetzt hatten wir unsere Antwort. Es war mitnichten ein Unfall gewesen. Christopher sah mich ebenfalls an und schien auch noch stolz zu sein, dass er recht behalten hatte.
»Und dann … was haben die dann mit ihr gemacht?«, erkundigte ich mich weiter. »Wie haben die sie denn in diese Ohnmacht versetzt?«
»Das werden wir womöglich nie erfahren«, erklärte Dr. Fong traurig. »Als die Operation vorbei war, durfte ich nicht mehr in die Nähe ihres Körpers - Nikkis Körper. Ich durfte mich nur noch um die medizinischen Abfälle kümmern.«
Lulu holte tief Luft, einen Ausdruck des Grauens im Gesicht. »Sie meinen Nikkis … Gehirn?«
Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu, als würde er plötzlich feststellen, dass sie doch weitaus intelligenter war, als er ihr zugetraut hätte.
»Das ist korrekt«, meinte er. »Ich hatte den Auftrag, es zu entsorgen.«
»Aber«, warf Steven nun ein, »Sie haben doch einen Eid geschworen.«
»Ja, niemandem zu schaden«, murmelte ich.
»Aber warum nur?«, fragte Steven. Er machte ein ähnlich schockiertes Gesicht wie Lulu. »Wie kommt jemand auf die Idee, einem jungen Mädchen ein tadelloses, funktionstüchtiges Gehirn zu entfernen?«
»Ich denke, ich weiß die Antwort«, erwiderte Christopher finster.
Doch in diesem Augenblick war plötzlich ein dumpfes Poltern auf der Treppe zu hören und kurz danach ein ziemlich vertrautes Trippeln, das Cosabella dazu veranlasste, ihre Ohren neugierig aufzustellen.
Und im nächsten Moment fing sie auch schon an zu bellen. Ihr Bellen wurde von aufgeregten Japsern und Jaulen erwidert, als zwei Minipudel ins Zimmer gestürmt kamen. Sie waren völlig identisch, nur dass einer schwarz und der andere schokobraun war. Sie liefen auf Cosy zu, die mittlerweile von ihrem Sessel runtergesprungen war und nun ihrerseits auf die beiden zurannte, wobei sie aufgeregt mit dem Schwänzchen wedelte, als sie zwei lange verloren geglaubte Freunde begrüßte.
»Harry! Winston!« Eine ältere Dame in einem Frotteemantel kam hinter den Hunden ins Zimmer geeilt und klatschte in die Hände. »Runter! Runter mit euch!«
Obwohl ihr das Haar vom Schlaf noch am Kopf klebte und sie kein Make-up trug, erkannte ich die Frau sofort. Noch bevor Steven sich von seinem Posten an der Tür entfernt und völlig verblüfft »Mom?« gerufen hatte, wusste ich, wer sie war.
Dee Dee Howard. Nikki Howards Mutter wohnte bei Dr. Fong.
Das Seltsame war, dass ich das irgendwie geahnt hatte. Von der Sekunde an, als ich eins und eins zusammengezählt hatte und mir klar geworden war, was diese E-Mails, von denen Veronica mir erzählt hatte, wirklich bedeuteten. Warum sonst hätte Nikkis und Stevens Mom wohl ihr Geschäft und alles, was ihr wichtig war, im Stich lassen sollen, wenn sie es nicht für etwas - oder jemanden - tat, der ihr noch Milliarden Mal mehr bedeutete?
»Steven!«, rief sie, als sie ihn erblickte. Mit offenen Armen stürmte sie auf ihn zu und strahlte dabei vor Freude. Er war so viel größer als sie, dass er sich bücken musste, damit sie ihn in die Arme schließen konnte. Er sah aus, als könnte er das alles nicht glauben. »Ich wusste gar nicht, dass du hier bist!«
Er schien wie benommen. »Mom«, sagte er, als sie ihn umarmte, »ich hab überall nach dir gesucht. Alle haben sich tierisch Sorgen gemacht: Leanne. Mary Beth. Hast du denn die Nachrichten im Fernsehen nicht gesehen? Wir dachten echt, die hätten dich umgebracht.«
»Oh«, meinte Mrs Howard. »Es tut mir ja so leid, mein Schatz. Ja, wir haben die Berichte gesehen. Doch wir dachten, Stark stecke dahinter und wolle mich damit hereinlegen. Ich hätte nicht gedacht, dass tatsächlich du dahintersteckst.« Sie warf einen kurzen Blick auf mich. Dann erstarrte sie. »Oh. Oh mein Gott«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ließ ihren Blick mit einer Mischung aus Grauen und Faszination über mich schweifen. »Ich … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Du … du siehst genau aus wie …«
Sie konnte den Satz nicht beenden. Aber das war auch nicht nötig. Ich wusste ja, wem ich ihrer Meinung nach ähnlich sah.
Das Blöde war nur, dass ich genau wusste, dass ich nicht nur so aussah wie diese Person. Ich war diese Person. Na ja, zumindest in gewisser Weise.
Christopher kam nun zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. Er wollte mir mit dieser Geste offenbar Mut machen und ich war ihm wirklich unglaublich dankbar dafür.
»Das muss echt schwer für Sie sein«, sagte Christopher sanft zu Mrs Howard.
»Es ist…« Stevens Mutter schüttelte den Kopf. Ihr Südstaatenakzent war noch stärker ausgeprägt als der von ihrem Sohn. Doch irgendwie fand ich ihn nett, genau wie ihre leicht verblasste Schönheit. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so anstarren. Du siehst ihr nur so verblüffend ähnlich.«
Weil ich sie bin, wollte ich schon rufen. Tja, wenigstens lebe ich in ihrem Körper.
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich stattdessen. Zu meinen Füßen feierte Cosabella immer noch die freudige Wiedervereinigung mit ihren Cousins - oder ihren Brüdern, wer weiß - Harry und Winston, die außer sich vor Freude auf dem Teppich von Dr. Fong herumtollten.
Ich beschloss, das Thema zu wechseln. »Sie waren also die ganze Zeit über hier?«
»Oh, äh, ja«, erwiderte Mrs Howard. Sie hatte Stevens Hand genommen und hielt ihn nun überglücklich am Arm fest. »Dr. Fong rief mich an und erklärte mir, was geschehen war. Er sagte mir, dass es vor allem darauf ankam, keine Spuren zu hinterlassen, sodass Stark mich nicht finden könnte. Also bin ich schnurstracks hierhergekommen. Es tut mir so leid, dass ich euch allen Sorgen bereitet habe, mein Schatz«, sagte sie zu Steven. »Aber ich habe mich nicht getraut, Leanne irgendwas zu verraten. Du weißt doch, wie gern sie tratscht. Und Mary Beth ist sowieso ein hoffnungsloser Fall. Aber jetzt bist du ja hier, das ist die Hauptsache. Ach, ich muss dir ja so viel erzählen! Wie geht es dir? Oh, ich bin ja so glücklich, dass du wieder zu Hause bist!«
Steven machte den Eindruck, als wäre er hin und her gerissen, ob er nun lachen oder weinen sollte. Ich kannte das Gefühl nur allzu gut. Zu Hause. Er war so weit von zu Hause entfernt wie nie zuvor.
Trotzdem lag er ihr in den Armen. Also war er dann genau genommen nicht doch zu Hause?
Von dem Sessel, in den Lulu gesunken war, drang ein Laut zu mir. Als ich zu ihr hinüberblickte, sah ich, wie sie sich nervös eine Strähne ihres blonden Pagenkopfes um den Finger wickelte. Als sie bemerkte, dass fast alle im Zimmer sie ansahen, durchfuhr sie ein Ruck, und sie sagte entschuldigend: »Tut mir leid! Ich wollte nur…« Sie wirkte blass und zerbrechlich im schwachen Licht von Dr. Fongs Wohnzimmer. »Ich versteh das alles nicht. Was machen wir hier eigentlich?«
»Wir waren auf der Suche nach ihr«, erklärte ich mit einem Kopfnicken in Richtung von Mrs Howard. »Aber eigentlich geht es darum, aus welchem Grund sie hier ist. Nicht wahr, Doktor?«
Dr. Fong stieß einen tiefen Seufzer aus. Er wollte sichtlich nicht darüber sprechen.
»Ich brauchte ihre Hilfe. Ich habe einen Eid geschworen«, brachte er schließlich müde und erschöpft hervor. »Die haben mir den Auftrag gegeben, Nikkis Gehirn zu entsorgen. Aber wie sollte ich das über mich bringen, wo es doch völlig in Ordnung war? Das wäre doch blanker Mord gewesen. Ich schulde Stark Enterprises verdammt viel. Aber mit dem Mord an einer unschuldigen Frau will ich nichts zu tun haben.«
»Wenn Sie also Nikkis Gehirn nicht entsorgt haben«, meinte Steven mit verwirrter Miene, »was haben Sie denn dann damit getan?«
Wie auf Befehl öffnete sich in dem Moment eine Tür, und eine junge Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, betrat den Raum. Sie war mittelgroß, Durchschnittsgewicht, mit kastanienbraunem Haar, das weder gelockt noch völlig glatt war. Sie ächzte und stöhnte, als wäre sie soeben erst aufgewacht und als würde die Lampe, die gar nicht mal so besonders hell brannte, sie blenden.
»Himmel«, beschwerte sie sich. »Könnt ihr vielleicht noch ein bisschen lauter sein? Es gibt hier auch Leute, die stehen nicht schon bei Morgengrauen auf, sondern versuchen noch zu schlafen, wisst ihr?«
Doch dann schien ihr aufzufallen, dass außer Dr. Fong und Mrs Howard noch andere Leute im Raum waren. Ihre Augen begannen, sich ein wenig zu weiten.
Aber erst als ihr Blick auf mich fiel, riss sie die Augen ganz auf. Ihr volles, leicht engelhaftes Gesicht wurde von einem zarten Rot überzogen, und ihre grünen Augen leuchteten auf.
Dann war sie mir auch schon mit der Hand übers Gesicht gefahren, und zwar mit so viel Kraft, wie sie nur aufbringen konnte.
Ganz genau: Sie hatte mir eine gewischt.
»Du Schlampe«, giftete Nikki Howard mich an.