ACHTZEHN
»Sei bitte nicht böse«, wimmerte Frida.
Ich saß im Stark-Tonstudio auf einem der
Schminkstühle und hoffte inständig, dass diese Kostümprobe ein
bisschen besser lief als die Anprobe und der Probelauf am Tag
zuvor.
Selbstverständlich hatte es nicht zu meinem Plan
gehört, dass ich meine kleine Schwester im Schlepptau haben
würde.
»Ich mach mir doch nur voll Sorgen um dich«, sagte
sie zu ihrer Verteidigung.
Die Visagistin befestigte gerade die letzte einer
ganzen Reihe von falschen Wimpern aus Kunstpelz auf meinen eigenen.
Ich versuchte krampfhaft, mich nicht zu bewegen, damit sie mir
nicht aus Versehen mit der Pinzette ein Auge ausstach.
»Ich wusste doch gar nicht, wer der Typ war«,
erklärte Frida. Sie meinte Steven. »Ich dachte, er wolle dich
entführen oder so.«
»Das ist jetzt wirklich nicht der richtige
Zeitpunkt, um sich darüber zu streiten«, meinte ich ruppig.
»Aber wann können wir denn dann darüber reden?«,
fragte Frida mit jammernder Stimme. »Du wolltest ja schon im Taxi
zurück nach Manhattan nicht darüber sprechen. Weshalb können wir
uns denn hier nicht unterhalten?«
Weil, so hätte ich ihr am liebsten
entgegengebrüllt, das hier die Zentrale von Stark ist. Und dass,
auch wenn der Raum nicht verwanzt war (das hatte ich vorsorglich
überprüft), jeder - und damit meinte ich vor allem Jerri, die
Visagistin - uns belauschte.
So wie uns auch unser Taxifahrer, der uns nach
Manhattan zurückgefahren hatte, belauscht hatte.
Und außerdem, je weniger Frida wusste, desto
sicherer war sie. Natürlich war ihr selbst das nicht klar. Und wenn
sie es gewusst hätte, dann hätte sie dennoch protestiert.
Sie saß zusammengesunken direkt hinter mir auf
einem Stuhl und hielt den D&G-Rucksack, den ich mir bei einer
Laufstegshow für Dolce & Gabbana für sie geschnappt hatte, fest
umklammert. Sie machte echt einen jämmerlichen Eindruck. Schon den
ganzen Nachmittag sah sie so mitgenommen aus. Wobei, eigentlich
hatte ich keine Ahnung, warum sie so geknickt war. Ich konnte mir
keinen Grund vorstellen. Okay, ja, sie hatte einen Tag Unterricht
in der Schule verpasst - schlimmer noch, einen Tag der
Abschlussprüfungen zum Schulhalbjahresende.
Und während ich sie wegen der Sache bei Felix im
Keller angebrüllt hatte, hatte plötzlich Nikkis Handy geklingelt.
Der Anruf kam von Rebecca, die mich ermahnte, dass ich zu spät zur
Probe käme - schon wieder.
Ich hatte die Wahl: Entweder ich ließ Frida allein
in Brooklyn zurück (und zwar ohne einen Cent in der Tasche, denn
sie hatte schließlich ein Taxi bezahlen müssen, um uns zu Felix
nach Hause zu folgen), oder ich nahm sie kurzerhand mit. Ich hatte
versucht, sie an der Schule abzusetzen, doch sie hatte sich
geweigert, auszusteigen. Nein, ich hatte keine Chance. Frida klebte
an mir wie Kaugummi.
Nur dass Kaugummi irgendwie angenehmer gewesen
wäre.
»Natürlich musste ich mir ein Taxi nehmen und dem
Fahrer sagen, er solle euch hinterherfahren, nachdem ihr einfach so
aus der Schule rausgestürmt seid«, plapperte sie weiter. »Er dachte
echt, ich würde ihn veräppeln. Aber dann habe ich ihm erklärt, dass
es um Leben und Tod ginge. Und wenn diese dicke Lady mit ihren
Brownies mich nicht so lange in der Küche aufgehalten hätte und ich
ihr nicht hätte erklären müssen, dass Nikki Howard unten im Keller
bei ihrem Sohn zu Besuch war, dann wäre ich viel früher bei euch
gewesen, um dich zu retten.«
»Frida«, ermahnte ich sie mit einem nervösen Blick
in Jerris Richtung. »Ich bin doch nicht …«
»Also echt«, sagte sie schmollend. »Ist doch nicht
meine Schuld, dass du gar nicht gerettet werden wolltest. Zumindest
behauptest du, dass es nicht nötig war.«
»Du hast sie echt meinetwegen verpasst«, sagte ich
kopfschüttelnd zu ihrem Spiegelbild in dem riesigen Schminkspiegel.
Ich hoffte, so das Thema zu wechseln. »Deine Prüfungen, meine
ich.«
»Und was ist mit dir?«, empörte Frida sich. »Du
hast sie doch genauso verpasst. Du bist mit einem völlig Fremden
nach Brooklyn abgehauen. Ich geb ja zu, süß war er schon,
aber…«
»Er ist kein völlig Fremder«, fiel ich ihr ins
Wort. »Er ist Nikkis - äh, ich meine, mein Bruder.«
Frida starrte mich ungelogen eine ganze Minute lang
mit offenem Mund voll belämmert an, bevor es aus ihr herausplatzte:
»Dein Bruder? Aber was treibst du denn zusammen mit Christopher,
Lulu Collins und Nikki Howards Bruder in einem Keller mitten
in Brooklyn?« Genau in dem Moment, als sie das sagte, kam Gabriel
Luna in die Umkleide spaziert.
Perfektes Timing. Wie immer.
»Hey, tut mir leid«, sagte er höflich. »Hab ich
euch bei irgendwas unterbrochen?«
»Oh, hi, Gabriel«, meinte Jerri mit ihrem
breitesten Lächeln. Man sah genau, dass sie jede Sekunde genoss,
obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, was hier vor sich ging,
geschweige denn wer Frida überhaupt war und was sie mit Nikki
Howard zu tun hatte. Sie hatte einfach nur Spaß an dem Gekeife.
»Bist du hier, um dich nachschminken zu lassen? Dann nimm bitte
Platz.«
»Nein, danke«, lehnte Gabriel ab. Angewidert
blickte er auf die ganzen Pinsel und Puderquasten. »Ist doch nur
eine Kostümprobe.«
»Gabriel Luna«, keuchte Frida. Ihre Wangen standen
sofort in Flammen. »Äh, hi!«
Gabriel musterte sie eindringlich. Ganz
offensichtlich hatte er sie erkannt. Sie waren sich damals im
Krankenhaus begegnet, als er mich gleich nach dem Unfall besucht
hatte - oder besser gesagt, als er Nikki besucht hatte. Aber ob er
eine Ahnung hatte, wer sie war und was sie mit mir zu tun hatte,
blieb unklar. Wir hatten nie wirklich darüber gesprochen.
»Wie geht’s?«, erkundigte sich Frida bei Gabriel,
ehe er irgendwas erwidern konnte. Ihre schwesterliche Fürsorge war
für einen Moment vergessen. Sie hatte nun ihren Schwarm zu
begrüßen. Ihr Zimmer bei uns zu Hause war mit Postern von Gabriel
Luna zugepflastert, ähnlich wie Felix’ Keller zugekleistert war mit
Bildern von Al Pacino. Ständig stalkte sie ihn auf ihrem Mac daheim
über Google. »Ist ja eine halbe Ewigkeit her.«
»Mir geht’s gut«, meinte Gabriel. Dann richtete er
seine Aufmerksamkeit auf mich. »Brooklyn? Im Ernst?«
»Lange Geschichte«, seufzte ich und warf Frida
einen verächtlichen Blick zu. Die kriegte das natürlich überhaupt
nicht
mit, weil sie nur Augen für Gabriel Luna hatte und dafür, dass er
sich im selben Raum befand wie sie und dieselbe Luft atmete wie
sie.
Na ja, man konnte ihr keinen Vorwurf machen.
Wahrscheinlich fiel es ihr tatsächlich total schwer, sich auf
irgendwas anderes zu konzentrieren, denn Gabriel trug schon die
Klamotten für den Auftritt, die Stark ihm besorgt hatte: eine
ziemlich enge Smokinghose, eine Weste, passend zur Anzughose, und
ein weißes Button-down-Hemd, das er bis zur Brustmitte offen trug,
die Ärmel hochgekrempelt. Der Anblick konnte einen echt ganz schön
aus dem Konzept bringen …
Allerdings hatte das Outfit diese Wirkung
anscheinend bloß bei jemandem, der so attraktiv war wie Gabriel
Luna. Der Beweis kam eine Sekunde später in die Umkleide spaziert
in Gestalt von Robert Stark, der ein ganz ähnliches Outfit trug.
Vielleicht lag es ja daran, dass Robert Stark sein Hemd bis obenhin
zugeknöpft und dazu eine Fliege angelegt hatte. Oder dass direkt
hinter ihm sein Sohn hereinkam, ebenfalls im Smoking … und der
machte ein extrem angespanntes Gesicht, ganz so als wäre es für
Brandon Stark wirklich das Allerletzte, kurz vor der Probe für die
Stark-Angel-Modenschau ausgerechnet zusammen mit seinem Vater in
die Umkleiden zu spazieren.
Sein Blick verfinsterte sich merklich, als er mich
sah. Seit jenen peinlichen Ereignissen und dem Heimflug am Tag,
nachdem wir uns in dem Hotel auf Saint John geküsst hatten, hatten
wir nicht mehr miteinander gesprochen.
Als Brandon mich jetzt also in der Umkleide
bemerkte, wurde sein eh schon finsterer Blick noch ein ganzes Stück
bedrohlicher.
Gut zu wissen, dass ich eine solche Wirkung auf
Jungs habe. Ich meine, Christopher wusste noch nicht einmal, dass
ich existierte, und Brandon Stark fing fast an zu kotzen, wenn er
mich sah. Also echt: Dass man mein Gehirn in den Körper eines
Supermodels verpflanzt hatte, hatte sich echt prima auf mein
Liebesleben ausgewirkt.
Wie auch immer, jedenfalls verfiel niemand beim
Anblick von Robert Stark oder seinem Sohn in entzücktes Seufzen,
wie Frida das noch vor ein paar Sekunden wegen Gabriel Luna getan
hatte. Und dabei trugen sie beide denselben Smoking wie
Gabriel.
»Nikki!«, rief Robert Stark erfreut. Er riss beide
Arme hoch, um mich zu begrüßen. Ich war so perplex, dass ich nicht
wusste, was ich tun sollte. Das war das erste Mal, dass Robert
Stark in aller Öffentlichkeit zeigte, dass er mich überhaupt
kannte. Ich meine, seit wir uns das letzte Mal bei einem
Fotoshooting für Vanity Fair begegnet waren. »Schön, dich zu
sehen! Du siehst ja wirklich bezaubernd aus!«
Nach einer Sekunde wurde mir klar, weshalb er mich
so überschwänglich begrüßte. Denn den Herren Stark auf den Fersen
war eine Meute Fotografen. Ein Blitzlichtgewitter ging über uns
nieder, als der CEO von Stark das »Gesicht von Stark« in seine Arme
schloss. Morgen früh schon würden sämtliche Zeitungen voll mit
unseren Fotos sein.
»Äh«, stammelte ich. »Danke.«
»Und Gabriel Luna.« Nachdem er mich endlich
losgelassen hatte, drehte Robert Stark sich um und hielt Gabriel
seine Hand hin, die dieser artig ergriff und schüttelte.
Selbstverständlich schossen die Fotografen auch von dieser Szene
ein paar Aufnahmen. Robert achtete streng darauf, dass er sich den
Kameras zuwandte, und setzte ein breites Blendax-Lächeln auf. »Wir
sind ja so froh, dich hier bei uns auf dem Stark-Label an Bord zu
haben. Ich hoffe, du legst einen einwandfreien Auftritt hin heute
Abend. Ist zwar nur eine Probe,
ich weiß, ich weiß, aber wir haben heute Stark-Aktionäre zu Gast
im Publikum, gerade pünktlich für deinen Probegig. Anschließend
geht es für sie gleich weiter zum großen Weihnachtsessen heute
Abend. Sie sind schon richtig heiß darauf, dich zu sehen.«
»Vielen Dank, Sir«, erwiderte Gabriel strahlend. Er
wirkte total verblüfft wegen der ganzen Sache. Das Oberhaupt des
Konzerns, unter dessen Dach sein Label war, begrüßte ihn
höchstpersönlich? Offensichtlich war ihm das in seiner ganzen
bisherigen Laufbahn noch nicht passiert. »Ich hoffe sehr, es
gefällt ihnen.«
»Ich wollte nur persönlich meinen Dank
überbringen«, meinte Robert Stark gerade. »Ich muss doch
sichergehen, dass meine beiden größten Stars auch genau wissen, wie
wichtig sie mir sind. Und außerdem wollte ich euch das hier
geben.«
Er schnippte mit den Fingern. Darauf sagte Brandon,
der hinter ihm stand und dessen Miene sich noch weiter
verfinsterte, in einem total genervten Tonfall: »Was
denn?«
»Die Tasche, Bran«, ermahnte Robert Stark ihn, ohne
dass er aufgehört hätte zu lächeln. »Die Tasche.«
Brandon verdrehte die Augen. Dann hielt er eine
riesige rote Samttasche hoch, die er wohl schon die ganze Zeit mit
sich herumschleppte. Was ihm ganz und gar nicht gefiel, so viel war
klar. Robert Stark griff in die Tasche und holte eine ungefähr
dreißig Zentimeter lange Schachtel heraus, in der ein Stark-Quark
steckte - Farbe: rot -, den er nun stolz an Gabriel übergab.
»Frohe Weihnachten«, rief Robert. »Den ersten wären
wir los. Viel Spaß damit.«
Gabriel betrachtete den Computer. Sein Gesicht
zeigte keinerlei Regung. »Besten Dank, Sir«, sagte er noch einmal.
Schwer zu sagen, was ihm in dem Moment durch den Kopf
ging. Ganz oben auf meiner Liste der geschätzten Gedanken stand
definitiv: Warum zum Teufel schenkt der Kerl mir so
einen?
»Und hier ist einer für dich«, meinte Robert Stark
nun und griff wieder in die Tasche, um einen pinkfarbenen Quark für
mich daraus hervorzuzaubern. Na ja, klar, Pink für Mädchen.
»Oh Mann«, sagte ich und starrte auf den Computer,
den ich im Stark-Quark-Werbespot angeblich so toll gefunden hatte.
(Nur dass das damals nur eine leere Hülse gewesen war und nicht der
echte Laptop, weil sie damals noch nicht viel mehr als den
Prototypen gehabt hatten.) Mein MacBook Air war tausendmal
benutzerfreundlicher und auf lange Sicht auch viel weniger
absturzgefährdet.
Allerdings kostete es im Handel auch ungefähr das
Fünffache. Und außerdem kriegte man dazu nicht Realms, den
Nachfolger von Journeyquest.
»Toll, ich wollte schon immer so einen«,
schwindelte ich. »Woher wussten Sie das?«
Brandon, der immer noch hinter seinem Vater stand,
würdigte mich auch jetzt keines Blickes. Deshalb konnte ich
schlecht einschätzen, ob er wusste, dass ich log.
»Der Weihnachtsmann weiß alles«, erwiderte Brandons
Dad kichernd, und einige der anwesenden Journalisten stimmten in
sein Lachen mit ein.
Brandon murmelte irgendwas von wegen, wie toll es
doch sei, Promis mit Laptops zu beschenken, statt sie den Armen zu
geben. Ich zog die Augenbrauen hoch, gerade als sein Vater immer
noch im selben herzlichen Ton fragte: »Was meintest du da gerade,
Bran?«
»Nichts«, murmelte er. Ich fing seinen Blick auf,
und für einen kurzen Moment, als wir uns in die Augen sahen, schien
irgendetwas zwischen uns zu geschehen. Ich kann nicht sagen,
was es genau war. Ich war so überrascht wegen dem, was Brandon
gerade gesagt hatte, dass ich überhaupt nicht wusste, was ich davon
halten sollte. Ganz ehrlich.
Und dann war der Moment auch schon wieder vorbei
und Brandon starrte mit versteinerter Miene geradeaus.
»Wen haben wir denn hier?«, erkundigte sich Robert
Stark nun, als er endlich auch Frida bemerkte.
»Oh, äh«, piepste Frida verschämt. »Ich bin
niemand. Nur eine Freundin von … Nikki.«
Eine F von N! Frida hatte sich selbst gerade als
eine F von N bezeichnet!
»Nun, junge Lady, heute Abend«, sagte Robert Stark
in dramatischem Tonfall und griff noch einmal in die rote
Samttasche, »ist jede Freundin von Nikki Howard auch meine
Freundin.« Mit diesen Worten zog er einen leuchtend orangen Quark
aus der Tasche und überreichte ihn ihr feierlich.
Kurz zuvor hatte Frida noch den Eindruck gemacht,
als würde sie sich am liebsten umbringen. Und obwohl sie noch nie
in ihrem Leben auch nur die geringste Andeutung gemacht hatte, dass
sie gerne einen Quark hätte, stieß sie jetzt einen begeisterten
Schrei aus und fing an, wie blöd auf und ab zu hüpfen.
»Oh mein Gott, das sind doch die, die man erst an
Weihnachten in den Geschäften kriegt! Vielen Dank, vielen, vielen
Dank, Sir«, jubelte sie und warf ihm den freien Arm, mit dem sie
nicht das Geschenk umklammert hielt, um den Hals und gab ihm einen
Kuss auf die Wange. »Oh, vielen Dank, Sir!«
Von dieser Szene schossen die Journalisten die
allermeisten Fotos, ungelogen. Ein aufgeregtes junges
Teenie-Mädchen, das einem der reichsten Männer der Welt um den Hals
fiel? In weniger als fünf Minuten würde man das in den
Fox-Business-News zu sehen bekommen, garantiert.
Und das nicht nur, weil die ganze Szene so rührend
war. In Wirklichkeit war es nämlich zum Kotzen, wenn man Stark
dabei zusah, wie er seine Masche durchzog. Indem er Geschenke
verteilte an Leute, die gar nicht gewusst hatten, dass sie dieses
Geschenk wollten, erzeugte er bei seinen Opfern Wohlwollen sowohl
ihm als auch seinem Unternehmen gegenüber. Zugleich stellte er mit
seinem Geschenk sicher, dass Frida von jetzt an nur noch einen
Quark haben wollen würde, und das passende Zubehör würde sie sich
exklusiv in allen Stark-Megastores besorgen können.
Genau das machte diesen Mann zu solch einem Genie.
Und zum Milliardär.
»Nun«, fuhr Brandons Dad fort. »Frohe Weihnachten
euch allen. Und euch wünsche ich einen guten Auftritt. Ich muss
wieder los. Ich darf die Investoren nicht länger warten
lassen.«
Er verabschiedete sich mit großer Geste und drehte
sich um. Brandon folgte ihm mit verkniffenem Gesicht.
Ich hätte nur zu gern gewusst, was passiert wäre,
wenn ich mich jetzt geräuspert und gefragt hätte: »Entschuldigen
Sie, Mr Stark? Wie stehen Sie eigentlich zum Stark Institute für
Neurologie und Neurochirurgie und zu dem, was Ihre Leute dort so
treiben? Ich meine, diese ganze Angelegenheit mit den
Ganzkörpertransplantationen? Möchten Sie sich dazu nicht
äußern?«
Wahrscheinlich würde noch nicht einmal was
passieren. Robert Stark würde mich mit seinen ausdruckslosen Augen
ratlos anblinzeln und dann sagen, er habe keine Ahnung, wovon ich
spräche. Und später würde man mich dann wieder einmal ins Institut
zitieren, wo ich mir einen Vortrag von Dr. Higgins anhören müsste.
Vielleicht würden sie aber dieses Mal auch Dr. Holcombe schicken,
oder, wenn sie mir ernsthaft
Angst einjagen wollten, einige Anwälte von Stark, die meiner
Familie drohen würden.
Selbstverständlich durfte ich nicht über das
sprechen, was mit mir geschehen war.
Allerdings hatte mir nie jemand das Wort verboten
in Bezug auf…
»Entschuldigen Sie bitte, Mr Stark?«, rief ich ihm
hinterher.
Robert Stark drehte sich in der Tür zu mir um. Noch
immer hatte er wegen dem erfreulichen Zwischenspiel mit meiner
Schwester ein selbstzufriedenes Grinsen im Gesicht.
»Ja, was ist denn, Nikki?«, fragte er
freundlich.
»Ich frage mich nur«, fing ich an. Mein Herz schlug
bis zum Hals, doch das war mir egal. Ich wusste, dass ich das jetzt
durchziehen musste. Ich kriegte es einfach nicht mehr aus meinem
Kopf, was Steven in Felix’ Keller für ein Gesicht gemacht hatte.
Ich musste einfach etwas unternehmen.
Das hier war meine Gelegenheit. Vielleicht sogar
meine einzige Chance.
»Wissen Sie vielleicht, wo meine Mutter
steckt?«
Ein paar Sekunden herrschte absolutes Schweigen,
bis meine Worte schließlich zu ihm durchdrangen. Dann redeten
plötzlich alle durcheinander. Ihre Mutter? Hat sie gerade von
ihrer Mutter gesprochen?
»Entschuldige bitte, wie war das?« Robert Stark
hatte scheinbar verständnislos die Augenbrauen hochgezogen.
»Meine Mutter«, wiederholte ich. Mir war klar, dass
die Journalisten eifrig Wort für Wort mitschrieben. Einige von
ihnen hielten bereits kleine Aufnahmegeräte in meine Richtung. Ich
versuchte also, sehr deutlich zu sprechen. »Sie ist verschwunden.
Ich dachte nur, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo sie
steckt?«
»Woher sollte ich denn wissen, wo deine Mutter ist,
mein Kind?« Robert Stark grinste, gerade so als hätte ich etwas
höchst Amüsantes gesagt.
»Na ja«, meinte ich, »ich dachte bloß, weil sie
ganz kurz nach meinem Unfall verschwunden ist.« Ich betonte
das Wort Unfall ganz besonders. Allerdings registrierten nur
er und ich - und natürlich Frida, die mich fassungslos anstarrte -
diese subtile Betonung. »Und seitdem hat keiner mehr etwas von ihr
gesehen oder gehört. Ich dachte, Sie könnten vielleicht irgendwas
wissen, wohin sie verschwunden ist.«
»Nein«, sagte Robert Stark mit fester Stimme und
schüttelte vehement den Kopf. Sein Lächeln war jetzt wie
weggewischt. »Tut mir leid, mein Kind. Ich kann dir da nicht
helfen. Da kann ich dir überhaupt nicht weiterhelfen.«
Plötzlich schien er es ziemlich eilig zu haben.
Brandon folgte ihm, doch er sah sich noch einmal neugierig nach mir
um.
Nachdem Robert Stark gegangen war, entspannte sich
die Lage in der Umkleide. Zumindest ging es mir so. Was schon
komisch war, denn die Journalisten schienen bleiben zu wollen,
statt ihm zu folgen. Sie hielten mir Mikrofone und Kameras vor die
Nase und löcherten mich mit Fragen: »Nikki Howard, stimmt es, dass
Ihre Mutter verschwunden ist? Möchten Sie dazu Stellung
nehmen?«
Es war echt seltsam … aber ich wollte wirklich
etwas dazu sagen. Wenigstens so viel, wie ich sagen konnte, ohne
mit der ganzen Gesamtkörpertransplantationssache rausrücken zu
müssen, was ja im Grunde tatsächlich nichts mit dem Verschwinden
von Nikkis Mutter zu tun hatte - oder zumindest hatte ich keine
dahingehenden Beweise in der Hand. Schon bald kannte ich die Namen
sämtlicher anwesender Reporter und für welche Sender sie
arbeiteten, und ich hatte jedem
Einzelnen von ihnen ein Exklusivinterview gegeben. (Vorher hatte
Gabriel mir schnell noch seine Smokingjacke geliehen, damit ich mir
die über den BH ziehen konnte, was sehr anständig von ihm war.)
Außerdem hatte ich bereits mein Versprechen gegeben, dass ich
Steven bitten würde, ein Foto von seiner Mom an die Journalisten zu
schicken, damit diese es in ihren Sendungen zeigen konnten.
Wie sich herausstellte, war die Tatsache, dass
Nikki Howards Mutter vermisst wurde, eine echte
Sensationsmeldung.
Eine richtig fette Sensationsmeldung.
Aber das hätte ich mir mal besser vorher überlegen
sollen. Ich meine, wenn man ein Supermodel war, dann ging es nicht
ausschließlich darum, dass man in zehn Millionen Dollar teuren BHs
durch die Gegend stolzierte. Die Leute interessierten sich für
einen. Und wenn dann auch noch deine Mom verschwand - und zwar
ausgerechnet kurz vor Weihnachten -, dann hatte eine solche Meldung
echt das Zeug, es auf die Titelseite zu schaffen.
Na ja, wenigstens hätte es Stoff für die Titelseite
sein können, wenn alles glattgelaufen wäre. Denn ich musste ja
unbedingt meine PR-Agentin mit der Nase draufstoßen …
»Weshalb hast du denn mir nichts davon
erzählt, dass deine Mom verschwunden ist, Nikki?«, fragte Frida
mich mit leiser, gepresster Stimme, nachdem auch der Letzte aus der
Meute der Journalisten mit seiner fetten Beute aus der Umkleide
verschwunden war. »Ich dachte, wir beide stünden uns so nah, dass
du mir alles erzählen kannst.«
Was hatte sie denn jetzt wieder? Ist doch klar,
dass ich Frida nicht alles erzählen konnte. Dazu war sie viel zu
jung. Und außerdem war es viel zu gefährlich.
Um ehrlich zu sein, ich hatte völlig vergessen,
dass Frida überhaupt noch da war. Vielleicht sah sie mich deshalb
jetzt
so böse an, die Augen voller Tränen. (Jerri hatte sich anscheinend
mitten im Trubel verdrückt, sodass ich jetzt allein mit Gabriel und
Frida war.)
»Mach dir nichts draus«, sagte Gabriel leichtherzig
zu Frida. »Ich war gestern mit ihr zum Abendessen aus und mir
gegenüber hat sie das auch mit keinem Ton erwähnt.«
»Gestern Abend?«, keuchte Frida. »Ihr beide wart
gestern Abend gemeinsam zum Abendessen aus?« Sie klang zutiefst
verletzt, gerade so als wäre sie bei einem ihrer Google-Suchläufe
auf Fotos gestoßen, auf denen Gabriel und ich rumknutschten.
Toll. Echt toll.
»Klar«, fuhr ich schnell dazwischen. »Wir sind
essen gegangen. Weil wir doch beide bei dieser Show mitmachen und
nach den Proben wollten wir einen Happen essen. Wie Freunde
das nun mal tun.«
Doch es war bereits zu spät. Inzwischen standen ihr
noch mehr heiße, ungeweinte Tränen in den Augen. »Ich hab die Fotos
von euch beiden mit der Limousine auf TMZ im Internet gesehen«,
zischte sie verächtlich. Oh nein, bitte nicht. »Aber ich hätte
nicht gedacht … Ich meine, du stehst echt auf ihn, im Ernst?«,
wollte sie wissen. »Ist er jetzt dein Freund? Und was ist mit
Christopher?«
»Natürlich ist er nicht mein Freund«, stritt ich
ab. Wie konnte es bloß so weit kommen? »Frida, hör bitte auf
…«
»Was ist denn hier los?«, mischte Gabriel sich
jetzt ein. Er sah verwirrt aus. »Wer ist bitte dieser
Christopher?«
»Ach, niemand«, wiegelte ich rasch ab. »Gabriel,
würde es dir etwas ausmachen, uns beide für einen Augenblick
alleine zu lassen?«
»Klar, kein Problem«, murmelte Gabriel und eilte
aus dem Zimmer, während er Frida mit wachsamem Blick fixierte, da
sie den Eindruck machte, als würde sie jeden Moment in die Luft
gehen wie eine Rakete. »Ich seh dich dann einfach nachher auf der
Bühne, alles klar, Nikki?«
»Das wäre schön«, meinte ich zu ihm. Sobald er
draußen war, wirbelte ich zu Frida herum. Sie schaute mich so
dermaßen finster an, als hätte ich gerade bei Facebook auf ihrer
Wall ein »Du nervst« oder Ähnliches gepostet. Dann sagte ich:
»Frida, jetzt reiß dich bitte zusammen. Er ist doch sowieso viel zu
alt für dich. Und außerdem ist da rein gar nichts zwischen uns, nur
damit du es weißt. Wir arbeiten zusammen, mehr nicht.«
In Wirklichkeit aber war ich froh, dass sie völlig
vergessen zu haben schien, mich zu fragen, was ich in Brooklyn
gemacht hatte. Da war es echt besser, dass sie sauer auf mich war,
weil ich mit Gabriel Luna ausgegangen war. Auch wenn das komplett
harmlos gewesen war.
Doch dann stellte sich heraus, dass das gar nicht
der Grund war, wieso sie sauer auf mich war. Zumindest nicht so
ganz.
»Wer bist du eigentlich?«, schrie sie mich
an.
Ich blinzelte sie verständnislos an. »Was meinst du
damit, wer bin ich? Du weißt doch ganz genau, wer ich bin.«
»Nein, tu ich nicht«, brüllte Frida zurück. »Du
unternimmst alles Mögliche, um die Mutter von jemand anderem zu
finden, und in der Zwischenzeit vergisst du deine wirkliche
Familie komplett und scherst dich einen Dreck um uns.«
»Frida«, sagte ich jetzt mit gepresster Stimme. »Du
weißt, dass das nicht stimmt.«
»Doch, tut es schon«, heulte Frida. »Wir haben alle
unsere Pläne über den Haufen geworfen, nur für dich. Deinetwegen
fahr ich jetzt nicht mit zum Cheerleader-Camp. Und dich kümmert das
nicht im Geringsten. Die ganze Zeit denkst du nur an Nikkis Familie
und machst dir um die Sorgen. Weil du nämlich langsam zu Nikki
wirst.«
Irgendetwas in mir schien in diesem Augenblick zu
Eis zu erstarren. »Du weißt, dass das nicht wahr ist«, stieß ich
zwischen meinen Lippen hervor, die so taub waren, als hätte man sie
mir mit Lip-Plumper eingecremt.
»Du bist echt die schlimmste Schwester, die man
haben kann«, entfuhr es Frida nun. »Du machst dir doch überhaupt
nichts mehr aus mir! Du denkst nur an deine neue Familie!«
Ich muss zugeben, das tat verdammt weh. Alles, was
ich getan hatte, hatte ich nur zu ihrem eigenen Schutz getan. Na
ja, gut, vielleicht mal abgesehen davon, dass ich versehentlich mit
Gabriel Luna rumgeknutscht hatte. Aber das hatte ich doch bloß aus
dem Grund getan, weil ich wegen Christopher so verletzt und einsam
gewesen war.
Zum Beispiel die Sache, dass ich dieses ganze
Supermodelding durchzog, nur damit Mom und Dad nicht gegen die
Verträge verstießen, die sie unterzeichnet hatten? Das tat ich doch
auch für Frida. Würde ihr sicher gut gefallen, wenn ihre Eltern
pleite wären und sie ohne W-Lan und ohne ihre Shoppingexzesse bei
Juicy Couture leben müsste.
Und da hatte sie echt die Nerven, zu behaupten, ich
wäre eine schlechte Schwester?
»Geh und hol meine Tasche«, sagte ich in eisigem
Ton. »Nimm dir Geld raus, ruf dir ein Taxi, und dann ab nach
Hause.«
»Klar, gerne«, sagte Frida mit ähnlich kalter
Stimme. »Ich fasse es nicht, dass wir deinetwegen über Weihnachten
hierbleiben. Ich wünschte, wir würden doch nach Florida
fahren!«
Mit diesen Worten schnappte sie sich ihren neuen
Computer und eine Handvoll Geldscheine aus meiner Brieftasche. Dann
verließ sie die Stark-Tonstudios.
Sie tat das tränenüberströmt, doch mir war das
egal.
Zumindest wollte ich mir das einreden. Sie war ja
schließlich noch ein Kind. Ein eifersüchtiges Kind, nichts weiter.
Sie hatte doch von nichts eine Ahnung. Sie war einfach nur sauer
wegen der Geschichte mit Gabriel und dass ich sie nicht zu Lulus
Party kommen lassen wollte. Sie würde schon darüber hinwegkommen.
Was blieb ihr auch anderes übrig? Wir waren immerhin Schwestern und
Schwestern stritten sich nun mal oft. Aber am Ende vertrugen wir
uns jedes Mal wieder.
Ich verwandelte mich ganz bestimmt nicht in Nikki
Howard. Na ja, äußerlich sah ich natürlich so aus wie sie. Aber im
Inneren war ich immer noch ich.
Oder etwa nicht? Ich konnte es kaum mehr erwarten,
nach Hause zu kommen und mich auf meinen neuen Quark-Rechner zu
stürzen, um endlich Realms zu spielen. Klar, oder?
Nur dass …
Nur dass es ohne Christopher als Gegner nicht halb
so viel Spaß machen würde.
Gerade in dem Moment, als Frida die Umkleide
verließ, kam eine der Kostüm-Assistentinnen mit meinen Flügeln
rein. Sie befestigte sie mir am Rücken und begleitete mich durch
die langen Flure in den Backstagebereich. Die anderen Mädchen waren
bereits da und liefen aufgeregt hin und her. Als Kelley mich
erblickte, winkte sie mir kurz zu und eilte dann rasch zu mir
herüber.
»Oh mein Gott«, rief sie. Obwohl sie ziemlich laut
schrie, war sie nur schwer zu verstehen, weil das Gemurmel der
Stark-Investoren alles übertönte. »Kannst du dir das vorstellen?
Die kriegen doch tatsächlich eine Privatvorstellung. Nur weil sie
Aktien vom Konzern haben. Das ist doch lächerlich. Irgendjemand
sollte sich darüber beschweren.«
»Ist nicht dein Ernst«, sagte ich tonlos. Denn mir
war das offen gestanden herzlich egal. Es gab kein Messgerät, das
feststellen hätte können, wie gering mein Interesse an dieser
Angelegenheit war, so wenig kümmerte mich das.
Vielleicht hatte Frida ja recht. Vielleicht
verwandelte ich mich wirklich langsam in Nikki. Womöglich
erreichten ja alle schönen Frauen früher oder später einen Punkt,
an dem ihnen alles egal war. Und dann waren ihre Herzen schließlich
wie versteinert. Meins fühlte sich zumindest ganz so an. Na ja, auf
jeden Fall war es so schwer wie ein Stein.
Plötzlich zischte Alessandro uns zu: »Ladys! Es
geht los!«, und wir stellten uns alle in Reih und Glied auf. Die
Technomusik hämmerte so heftig drauflos, dass sie bis zu meinem
Herzen vorzudringen schien, es mit eisernen Klauen umfasste und
festhielt - bumm-bumm-bumm.
Da drehte sich Veronica zu mir um und zwickte mich.
Und zwar richtig doll.
»Aua!«, kreischte ich und rieb mir den Arm. Ich
hatte zwar ein Herz aus Stein, aber das hatte trotzdem wehgetan.
»Wofür war das denn?«
»Du weißt genau, wofür.« Sie blitzte mich wütend
an. Wenn Blicke töten könnten … »Weshalb hörst du nicht auf, Justin
E-Mails zu schreiben? Er steht doch längst nicht mehr auf dich. Er
gehört jetzt mir.«
»Ich soll ihm E-Mails schreiben?« Ich funkelte
zurück. Ich musste richtig laut brüllen, damit sie mich über den
Krach verstehen konnte. »Ich hab niemandem E-Mails
geschrieben!«
»Du bist eine elende Lügnerin.« Veronica schüttelte
empört den Kopf, wobei ihr seidiges blondes Haar im Licht der
Scheinwerfer glänzte. »Er hat mir doch gezeigt, was du ihm
geschrieben hast. Du bist echt peinlich. Du vermisst ihn? Er
gehört jetzt zu mir.«
»Hey, ich schwöre«, protestierte ich, »ich hab
deinem
Freund keine E-Mail geschrieben. Das muss jemand anders gewesen
sein …«
»Wie kannst du dich nur hinstellen und mir so
schamlos ins Gesicht lügen?«, fuhr Veronica mich an. »Justin hat
mir doch erzählt, dass er Schluss gemacht hat und seitdem versucht,
dich loszuwerden, aber du lässt nicht locker.«
Ich sah sie bitterböse an. »Ich hab’s dir gesagt:
Ich hab keine Ahnung, wovon du da redest. Ich hab Justin nicht
gemailt. Das muss ein anderes Mädchen sein, das meinen Namen
benutzt. Und das ist ja wohl nicht mein Problem, oder? Und jetzt
konzentrierst du dich besser wieder auf deinen Job und siehst zu,
dass du nicht zu spät auf die Bühne gehst. Und versuch es ja nicht
wieder mit so einer miesen Tour wie der Sache mit der Feder. Sonst
sage ich es Mr Stark und der wirft dich hochkant raus. Darauf
kannst du Gift nehmen.«
Auf einmal leuchtete plötzlich so etwas wie Angst
in Veronicas Augen auf, und mir wurde klar, dass ich am längeren
Hebel saß. Es war zwar traurig, dass ich Brandons Dad ins Spiel
bringen musste, aber was hatte ich für eine Wahl gehabt, mal im
Ernst? Dieses Mädchen hatte bereits einen Mordanschlag auf mich
verübt, und das für etwas, was ich noch nicht einmal wirklich getan
hatte. Irgendeine Irre versuchte, ihr den Freund auszuspannen, und
missbrauchte dazu offensichtlich meinen Namen. Wie sollte ich denn
irgendetwas dafür können?
Sie sah ängstlich aus, aber dann setzte sie ihr
Laufsteg-Gesicht auf, streifte es sich über wie eine Maske, und
schwebte schließlich auf den Catwalk raus.
Während ich auf meinen Einsatz wartete -
angekündigt durch den »Nikki«-Song -, dachte ich darüber nach, wie
nur alles plötzlich so abartig kompliziert hatte werden können.
Okay, zugegeben, mein Leben war vor dem Unfall nicht besonders
aufregend gewesen, das stimmte schon. Ich war in einen Typen
verknallt, der noch nicht einmal was von meiner Existenz zu wissen
schien. Tja, und jetzt war der Kerl endlich doch draufgekommen,
dass er mich liebte. Aber das einzige Problem an der Sache war,
dass er dachte, ich wäre tot. Und ich konnte ihm nicht erklären,
dass ich es nicht war. Das Ich, das ich jetzt war, würde er ohnehin
nicht lieben können, weil ich so ziemlich für all das stand, was er
abgrundtief hasste.
Womit er nicht allein war. Dass er mich hasste,
meine ich.
Es war schon schwer, im einundzwanzigsten
Jahrhundert ein Teenie-Supermodel zu sein.
Da drang es mit einem Mal zu mir durch:
»Die Sache ist die, Mädchen … trotz allem …
bin ich mir sicher … ich liebe dich.«
Nur dass das natürlich wieder einmal der völlig
falsche Typ war, der das zu mir sagte.
Als ich mich raus auf die Bühne begab, vorsichtig
einen Fuß mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen vor den anderen
setzte und mein Bestes gab, den perfekten Catwalk-Gang hinzulegen,
ein wissendes, katzengleiches Lächeln ins Gesicht gepflastert,
während die Stark-Investoren laute Jubelschreie ausstießen - da
wusste ich, dass mein Herz noch nicht wirklich zu Stein geworden
war.
Denn es tat weh.
Es tat verdammt weh.
Und zwar nicht körperlich.