SIEBZEHN
Felix verlor keine weitere Sekunde. Er drehte sich
um und steuerte zielstrebig auf seinen Schreibtischstuhl zu, der
inmitten der vielen Computermonitore stand, die nicht
zusammenzupassen schienen.
»Und ihr Passwort«, sagte ich, während ich mich
daran erinnerte, wie die Finger von Dr. Higgins über die Tastatur
geflogen waren, »lautet Miss Kitty, ein Wort, alles klein
geschrieben.«
»Wie niedlich«, kommentierte Felix, während er
tippte.
»Was, bitte schön«, meinte Steven, »soll denn all
das mit dem Verschwinden meiner Mutter zu tun haben?« Dabei machte
er ein paar Schritte vorwärts, damit er beobachten konnte, was auf
den flimmernden Computerbildschirmen geschah.
»Ach, das ist nur das Passwort, das ich ihnen
besorgen sollte, damit sie nach ihr suchen können«, versuchte ich
zu erklären.
»Und wir sind Männer, die zu ihrem Wort stehen«,
ergänzte Felix. »Seht mal.« Er griff nach mehreren Blättern Papier,
die unmittelbar neben uns aus einem der unzähligen Drucker
herausgeschossen waren. Damit fuchtelte er vor unseren Gesichtern
herum. »Hier haben wir die letzten verzeichneten Aufenthaltsorte
von Dolores Howard, auch Dee Dee genannt, oder besser bekannt als
eure Mom.«
Steven riss Felix die Seiten aus der Hand, während
Christopher herüberkam, um Felix dabei zuzusehen, wie er die Daten
eingab, die er soeben von mir erhalten hatte. Felix schien
jegliches Interesse an uns verloren zu haben.
»Funktioniert es?«, erkundigte Christopher sich bei
seinem Cousin. »Sind wir drin?«
»Und ob wir das sind«, antwortete Felix und klang
dabei höchst erfreut. »Wir sind tatsächlich drin.«
»Warte mal.« Steven starrte auf die Seiten in
seiner Hand und blätterte eine nach der anderen um, nachdem er sie
jeweils eingehend betrachtet hatte. »Hier steht doch überhaupt
nicht, wo sie sich befindet. Hier sieht man nur, dass ihre
Sozialversicherungsnummer nicht mehr für irgendwelche
Registrierungen für neue Jobs oder Kreditkarten oder Wohnungen
benutzt wurde, seit sie verschwunden ist, sonst nichts.«
»Das ist schon korrekt, Kumpel.« Felix’ Finger
rasten über die Tastatur vor ihm, während auf den diversen
Monitoren verschiedenste Informationen aufleuchteten, die für mich
nach einem Durcheinander an Zahlen und unverständlichen Daten
aussahen.
»Aber …« Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern
gefror, als ich mir vorstellte, wie Steven sich fühlen musste.
»Christopher, du sagtest doch, Felix könne sie finden.«
»Es sei denn, sie ist tot, ja.« Christopher machte
sich noch nicht einmal die Mühe, in meine Richtung zu blicken. Er
deutete auf einen der Monitore und meinte zu Felix: »Da, schau.
Sieh dir das mal an.«
»Ja, ich seh’s schon«, erwiderte Felix
lässig.
Lulu kam durch den Raum geschlendert. Dabei
klackerten
ihre Absätze laut auf dem Zementboden. Sie stellte sich ganz dicht
neben Steven. Dann griff sie nach seiner Hand, die andere, in der
er nicht die Seiten voll mit Informationen über seine Mutter hielt.
Sie sagte keinen Ton. Sie griff nur nach seiner Hand und drückte
sie.
Aber er schien das nicht zu registrieren.
»Du glaubst also, seine Mutter ist tot?«, fragte
ich ihn vorwurfsvoll. Ich wollte ja gar nicht so sauer klingen,
aber ich war wirklich verärgert. Nicht so sehr wegen Felix, denn
obwohl er so viel wusste, war er trotz allem noch ein Kind, das
sich selbst für einen Gangster hielt. Er konnte nichts dafür. Aber
Christopher - er hätte sich viel besorgter und verantwortungsvoller
gegenüber Steven zeigen müssen.
Doch seine ganze Aufmerksamkeit war auf diese
doofen, wahllos zusammengewürfelten Computermonitore gerichtet. Ich
hatte keinen Zweifel, dass er nichts lieber wollte, als endlich
seinen diabolischen Plan, Stark Enterprises zugrunde zu richten, in
die Tat umzusetzen und den ungerechten vorzeitigen Tod von Em Watts
zu rächen. Ein Mädchen, das zu küssen ihn nicht gekümmert hatte,
solange sie rechtlich gesehen noch am Leben war.
Aber er hätte wenigstens ein Mal zu uns rübersehen
können. Er hätte wenigstens sagen können, dass es ihm leidtat.
Verdammt, immerhin war die Mutter von einem von uns
höchstwahrscheinlich tot!
»Was denn?« Christopher musste den Blick, mit dem
ich ihn löcherte, gespürt haben, denn schließlich sah er doch zu
uns herüber. »Worüber redet ihr denn?«
Jetzt blickte auch Felix auf.
»Tot?«, kam jetzt sein Echo. »Ich hab doch nicht
gesagt, dass sie tot ist. Hab ich vielleicht behauptet, sie wäre
tot? Nein. Es gab keine einzige unidentifizierte Tote, deren
Beschreibung
auf Dee Dee Howard in Alter oder Aussehen zugetroffen hätte oder
deren zahnärztliche Unterlagen in einer der vielen Datenbanken, die
ich in den vergangenen Wochen angezapft habe, aufgetaucht wären.
Das waren übrigens sämtliche Datenbanken, die es gibt.« Felix
zuckte mit den Schultern und wendete sich wieder einem seiner
Keyboards zu. Mit Lichtgeschwindigkeit fing er an zu tippen.
»Allerdings kann es durchaus sein, dass jemand sie für immer zum
Schweigen gebracht und sie in irgendeinem See versenkt hat.
Wasserleichen kommen für gewöhnlich nicht vor dem Frühjahr an die
Oberfläche, wenn die Temperaturen ansteigen und die Gase im Körper
den Verwesungsprozess in Gang setzen …«
»Hey, Mann«, warnte Christopher ihn und verpasste
ihm einen Hieb gegen die Schulter. »Das ist überhaupt nicht
witzig.«
Felix schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Wir
wissen doch alle, dass nichts dergleichen passiert ist.«
Fragend starrte ich ihn an. Ich wusste nicht, ob
ich jetzt erleichtert sein sollte. »Wissen wir das wirklich?«
»Na klar doch«, meinte Felix. »Wirf einen Blick auf
Seite vier.«
Steven blätterte hastig durch die Blätter, bis er
endlich die vierte Seite gefunden hatte. »Hier sind sämtliche
Kontobewegungen meiner Mom verzeichnet«, meinte er und klang so,
als könne er es nicht glauben. »Woher hast du …«
Aber Felix fiel ihm rasch ins Wort, noch ehe Steven
seine Frage zu Ende führen konnte. »Schau dir die Abhebung an, die
sie getätigt hat, kurz vor den letzten registrierten Telefonaten
auf ihrem Handy.«
»Du hast auch eine Liste mit ihren Handyanrufen?
Woher zum Teufel …« Steven unterbrach sich selbst mitten im Satz.
Dann weiteten sich plötzlich seine Augen, während er
auf die Seite starrte. Mit einem entsetzten Ausdruck im Gesicht
blickte er zu Felix auf und fragte: »Neuntausend Dollar? Sie hat
neuntausend Dollar von ihrem Sparkonto abgehoben, kurz bevor sie
verschwunden ist? Und die Polizei hat es nicht für nötig befunden,
mich darauf hinzuweisen?«
Doch Felix hatte sich längst wieder seiner Tastatur
zugewandt.
Christopher hielt seinen Blick genauso stur auf den
Monitor gerichtet wie sein Cousin. »Wenn nichts auf ein Verbrechen
hindeutet«, erklärte er nun nüchtern, »dann sehen die Bullen
keinerlei Veranlassung, eine intensive gerichtsmedizinische
Ermittlung in die Wege zu leiten, selbst wenn sie die nötigen
personellen Ressourcen haben, was in den seltensten Fällen gegeben
ist.«
»Und außerdem ist es ganz normal«, fügte Felix
hinzu, »dass jemand, der abtauchen will, eine größere Summe Geld
abhebt. Wenn man nicht im gesellschaftlichen Raster auftauchen
möchte, darf man nicht ständig seine Visacard zücken oder Geld am
Automaten abheben. Denn dann finden die einen in null Komma nichts.
Vor wem deine Mom sich auch immer versteckt hält, sie will auf
keinen Fall gefunden werden. Deshalb bezahlt sie auch alles in
bar.«
Steven warf erneut einen Blick auf die Seiten, die
er in der Hand hielt. »Sie führt einen Hundesalon, um Himmels
willen. Sie hatte noch nie im Leben Ärger mit der Polizei - noch
nicht einmal mit dem Finanzamt. Vor wem sollte sie also
davonlaufen?«
»Vor Stark«, lautete Christophers Antwort. Er
sprach das mit so eisiger Stimme aus, wie andere das Wort
»Tod« sagen würden.
»Vor Stark?« Steven warf ihm einen ungläubigen
Blick zu. »Aber wieso denn?«
»Gib uns vierundzwanzig Stunden.« Christopher
nickte in Richtung der kunterbunt zusammengewürfelten
Computermonitore. »Wir werden es herausfinden.«
»Und wir werden sie in den Ruin treiben!« Felix
stieß ein lautes Jubeln aus, ähnlich wie es ein Teenager in seinem
Alter tun würde, kurz bevor es mit der Achterbahn in eine besonders
steile Kurve ging.
Nur dass wir uns hier nicht in einer Achterbahn
befanden. Außerdem bezweifelte ich, dass Felix jemals in seinem
Leben mit einer echten Achterbahn gefahren war. Er machte nicht den
Eindruck, als wäre er ein Kind, das sich für Achterbahnen
begeistern konnte.
Felix hielt Christopher seine linke Hand hin, damit
der ihn abklatschen konnte. Allerdings beachtete Christopher ihn
gar nicht. Verlegen ließ Felix die Hand wieder sinken.
»Darum geht es also hier«, meinte Steven. Er klang
ganz und gar nicht erfreut. Genau genommen klang er sogar ziemlich
angewidert. »Ihr beide wollt euch also in den Rechner von Stark
einhacken und den Konzern dadurch ›in den Ruin treiben‹?« Er sah
mich vorwurfsvoll an. »Und du wusstest von der ganzen Sache?«
»Na ja, das ist nun mal das Ziel der beiden«,
erklärte ich. Weshalb wollte er unbedingt, dass ich mich wegen
meiner Entscheidung schlecht fühlte? Ich wollte ihm doch bloß
helfen. Und war es nicht genau das, was er sich erhofft hatte? »Das
ist es, was sie im Austausch dafür verlangt haben, dass sie mir die
Informationen über deine Mom besorgen. Den Benutzernamen und das
Passwort von jemandem, der bei Stark arbeitet.«
»Na toll«, meinte Steven zähneknirschend. Er
blickte auf die Seiten in seiner Hand. »Und wir haben immer noch
nicht die leiseste Ahnung, wo meine Mom stecken könnte.« Er sah
zu Christopher und Felix hinüber. »Wie können die beiden denn so
sicher sein, dass sie überhaupt noch am Leben ist? Vielleicht hat
ihr ja jemand eine Pistole an den Kopf gehalten und sie gezwungen,
die neuntausend Dollar abzuheben, und dann hat derjenige ihre
Leiche am Grunde eines Sees versenkt.«
»Nein.« Meine Stimme klang sanft. »Du hast doch
erzählt, dass sie ihre Hunde mitgenommen hat. Wenn jemand sie
gewaltsam entführt hätte, dann hätten die die Hunde nicht
mitgenommen. Christopher hat vollkommen recht. Sie ist auf der
Flucht. Es kann nicht anders sein.«
Ich warf einen kurzen Blick auf Christopher und
Felix, die uns mittlerweile kein bisschen mehr beachteten, so
gefangen waren sie in ihrer Welt der Zerstörung und - zumindest in
Christophers Fall - der Rache. Für die beiden existierten wir nicht
länger.
»Lasst uns aufbrechen«, sagte ich. »Kommt
schon.«
Wir gingen auf die Treppe zu, auf der just in
diesem Moment ein Paar gefälschter Ugg-Stiefel der Marke Stark
auftauchten. Eine Sekunde später rief Tante Jackie, die da gerade
die Treppe heruntergeeilt kam: »Huhu, halloooo! Ich hab da ein paar
Brownies für euch! Ganz frisch aus dem Ofen! Und seht mal, wen ich
draußen getroffen habe. Eure kleine Freundin. Sie hat mir erzählt,
dass ihr alle so schnell davongerannt seid, dass sie euch nicht
hinterhergekommen ist und allein zurückblieb.«
Gleich hinter Tante Jackie entdeckte ich meine
kleine Schwester Frida. In der Hand hielt sie ein Tablett mit
Tassen voller dampfend heißem Kakao.