FÜNFZEHN
»Oh Mann, ist das aufregend«, sagte Lulu zum
wiederholten Mal.
»Ist es nicht«, versicherte ich ihr, ebenfalls zum
tausendsten Mal. Ich hatte echt keinen Schimmer, warum sie so
vehement darauf bestanden hatte, mitzukommen. Na ja, klar, einen
Grund konnte ich mir natürlich schon vorstellen. Aber so richtig
glauben konnte ich es nicht. Ich hatte nämlich die Vermutung, dass
es mit dem ein Meter achtzig großen Mann zusammenhing, der mit uns
gerade den Flur entlangging und krampfhaft versuchte, nicht vor Wut
zu platzen, als er feststellte, dass wir ihn ausgerechnet in eine
Highschool in Manhattan geschleift hatten.
Nein, noch schlimmer, eine Highschool mitten in
Manhattan um zwanzig vor acht in der Früh. Und er fand sich in
Begleitung von einem der bekanntesten Teenie-Supermodels des
Landes, die ihr Hündchen in einer Louis-Vuitton-Tasche geschultert
hatte, während deren beste Freundin, zufällig die Tochter von einem
der bekanntesten Filmregisseure des Landes, neben ihr herstöckelte
und sich abmühte, mit ihr in ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen
Schritt zu halten. Keiner schien uns ernsthaft zu beachten, während
wir den Flur entlangstolperten. Na ja, zumindest nicht
auffallend.
Was mir echt ein Rätsel blieb, ist die Frage,
weshalb sie es gar so offensichtlich machte. Lulu, meine ich, und
ihre Besessenheit für Nikki Howards Bruder. Ich war ja schon froh,
dass sie sich einigermaßen normal angezogen hatte, mit einer
Vintage-Jordache-Jeans und einer ledernen Bomberjacke über einem
Alexander-McQueen-Shirt. (Ich musste ihr das Top von Chloé und die
Citizens-of-Humanity-Jeans, die ich tragen wollte, regelrecht
entreißen. Was im Grunde lächerlich war, denn ich war doch einen
ganzen Kopf größer als sie. Keine Ahnung, wie sie sich einbilden
konnte, Nikkis Sachen könnten ihr passen.)
Aber egal. Wegen eines Jungen so früh aufstehen?
Aber ich durfte echt nichts sagen. Als die Sache mit den
Dinosaurier-Stickern schiefgegangen war zum Beispiel, damals in den
ersten Wochen nach meiner Operation, als ich endlich wieder in die
Schule gehen durfte, da hatte ich selbst so die ein oder andere
Dummheit begangen. In der Hoffnung, ich könnte damit einen ganz
bestimmten Jungen beeindrucken … Jeden Morgen hatte ich eine halbe
Stunde im Bad verbracht, um mich aufzubrezeln, aber Christopher
hatte das noch nicht einmal registriert. Einmal hatte ich mir extra
einen überraschend unbequemen und kneifenden Push-up-BH (natürlich
ein Modell von Stark) angezogen, aber wieder genau dasselbe:
Christopher hatte nichts gecheckt. Kein einziges Mal hatte er den
Blick unterhalb meines Kinns gerichtet, um das Ganze zu
bewundern.
Also, ich wusste ganz genau, wie es war, wenn man
in Lulus Designerschuhen steckte.
Aber dass man es aufregend fand, in der Tribeca
Highschool rumzulaufen? Daran war nun wirklich nichts Aufregendes,
wie auch Steven bereits festgestellt hatte. Wenn man mich fragt,
war die Sache sogar alles andere als aufregend.
Andererseits war Lulu nie in den Genuss einer ganz
normalen amerikanischen Highschool gekommen. Neugierig glotzte sie
sämtliche Schüler, die an uns vorbeikamen, an (während die uns
ihrerseits mit großen Augen anstarrten und sich zuflüsterten: »War
das nicht …?«). Immer wieder rief sie begeistert »Oh Mann, ist die
niedlich!« oder »War der nicht süß?«, gerade so als spräche sie
über kleine Hündchen und nicht über reale fünfzehn- und
sechzehnjährige Highschool-Kids. Irgendwie schien sie gar nicht zu
begreifen, dass all diese Leute kaum ein bis zwei Jahre jünger
waren als sie.
Aber wenn man ehrlich war, sahen die Schüler hier
tatsächlich so aus, als gehörten sie einer anderen Spezies an, da
sie genetisch nicht ganz so viel Glück gehabt hatten wie
Lulu.
Allerdings war das keine Entschuldigung für Lulus
Verhalten.
Unmöglich. Zum Beispiel als sie Frida mit einer
Gruppe von Cheerleadern aus dem Unterstufenteam bei den
Schließfächern entdeckte, da kreischte sie los: »Oh mein Gott, sieh
mal, wer da ist, Nikki! Das ist Frida! Hi, Frida!«
Frida rastete natürlich total aus, als sie uns sah
… vor allem als sie Lulu sah. Auch ihren ganzen Freundinnen war die
Kinnlade runtergeklappt. Mit mir hatten sie ja alle schon mal in
der Schulcafeteria gegessen, in der Hamburger das Beste waren, was
an Haute Cuisine geboten war. Deshalb war Nikki Howard schon lange
nicht mehr so interessant, wie sie es mal gewesen war.
Frida hatte aber schon die ganze Zeit damit
angegeben, dass sie Lulu kenne, und ich war überzeugt, dass keine
von ihren Cheerleader-Freundinnen ihr auch nur ein Wort davon
geglaubt hatte.
Aber da war sie nun: Lulu Collins, die schon über
so manchen roten Teppich bei so mancher Filmpremiere geschritten
war, die auf den Covern von zig Zeitschriften geprangt hatte, die
schon in den Armen von so manchem schmierigen Rockerfreund gesehen
worden war, mit dem sie besser nicht zusammen gewesen wäre. (Aber
ich musste gerade reden, im Grunde stand mir keinerlei Kritik zu,
weil Nikki Howard ja hinter ihrem Rücken ebenfalls was mit Lulus
Freunden gehabt zu haben schien.) Und diese Lulu Collins kam nun
höchstpersönlich den Flur entlanggeschlendert, direkt auf die
Mädchen zu, und begrüßte Frida überschwänglich. Alle starrten sie
total entgeistert an.
»Oh Mann, Wahnsinn, Lulu«, kreischte Frida. Sie sah
aus, als würde sie sich vor Aufregung gleich in die Hosen pinkeln.
»I-ich kann es nicht fassen, du bist wirklich hier. Und Nikki auch!
Das ist ja so krass! Ich hab gerade von euch beiden gesprochen. Ihr
wisst schon, wegen eurer Party!«
»Au ja, du musst unbedingt kommen«, quietschte
Lulu. »Ihr solltet alle kommen. Die Party findet schon morgen Abend
statt. Das wird unglaublich, echt. Alle werden da sein. Marc,
Lauren, Paris. Die sind immer total begeistert. Das ist die beste
Party der Stadt, ehrlich.«
Ich beobachtete, wie die Mädchen im Geiste kurz
eins und eins zusammenzählten: Marc Jacobs, Lauren
Conrad, Paris Hilton. Leise flüsterte ich Lulu zu:
»Lulu, die können nicht alle kommen. Die gehen doch noch zur
Schule.«
»Na ja«, meinte Lulu und starrte ratlos vor sich
hin. »Was soll’s, du doch auch?«
»Aber ich bin nicht erst vierzehn und wohne noch
daheim.«
»Könnte mir vielleicht jemand erklären«, schaltete
sich jetzt Steven ein, »was wir hier eigentlich tun? Ich dachte,
wir wollten meine Mutter suchen.«
»Das tun wir auch«, versicherte ich ihm. »Los,
kommt.«
Mit unbewegter Miene sah ich Frida und ihre
Freundinnen an. »Sorry, aber ihr könnt nicht zu unserer Party
kommen. Ihr seid noch nicht volljährig. Los, komm, Lulu.« Ich
packte Lulu am Arm und zerrte sie von den Mädchen weg. Doch leider
war das schon ein bisschen zu spät, denn in dem Moment hörte ich,
wie eine nur allzu vertraute Stimme Nikkis Namen rief. Eine Sekunde
später fiel Whitney Robertson auch schon über uns her. Dabei hatte
sie ihr Alter Ego Lindsey und ihren Freund Jason Klein, der
ziemlich stark nach Axe-Deodorant roch, im Schlepptau.
»Nikki, hi.« Neugierig musterte Whitney Steven. Sie
gab sich noch nicht mal die Mühe, ihr Interesse an ihm zu
verbergen, obwohl ihr Freund Jason direkt daneben stand. Aber die
Beziehung der beiden war schon immer eher dysfunktional gewesen,
wenn man mich fragt. Das überraschte mich auch nicht, denn ich
hatte schon immer den Verdacht gehegt, dass Jason ein Cyborg ist.
»Ich wusste gar nicht, dass heute der
Ich-bringe-einen-Traumtypen-mit-zur-Schule-Tag ist.«
Steven wirkte total erschüttert. Mal ehrlich, ich
konnte ihn echt gut verstehen. Whitney brauchte man ungefähr so
dringend wie Karies: Kaum kannte man sie länger als fünf Sekunden,
war einem auch schon klar, dass man sie dringend wieder loswerden
musste.
Dementsprechend überging ich sie geflissentlich und
marschierte einfach stur weiter in Richtung Computerraum, die
langsam in der Ferne verhallenden Rufe von Whitney tunlichst
ignorierend: »Nikki? Nikki!« Lulu blieb mir dicht auf den Fersen
und achtete darauf, dass Steven direkt neben ihr blieb, indem sie
sich an den Aufschlägen seiner Jacke festklammerte. Steven schien
das noch nicht einmal aufzufallen.
»Jetzt sagt schon, was tun wir hier?«, fragte er
noch einmal. »Wie können …«
Doch in diesem Augenblick hatte ich die Tür zum
Computerraum erreicht, und gleichzeitig kam Christopher raus, um es
noch vor dem Gong in den Rhetorikkurs zu schaffen. Wie jedes Mal
wenn ich ihn sah, setzte mein Herz eine Sekunde lang aus. Heute
trug er ein schwarzes Ramones-T-Shirt unter seiner Lederjacke. Sein
Haar war am Ansatz noch ein wenig feucht von seiner morgendlichen
Dusche und seine Jeans saß so knackeng wie immer.
Zu behaupten, er habe überrascht gewirkt, mich zu
sehen, wäre leicht untertrieben. Und dann war ich auch noch in
Begleitung von Lulu, die er zweifelsohne erkannte (er war ebenso
empört gewesen wie ich, dass ihr Vater die Verfilmung von
Journeyquest so dermaßen verhunzt hatte), sowie von einer
schlecht gelaunten, einsachtzig großen blonden männlichen Version
von mir selbst. Christopher klappte die Kinnlade fast bis zum Boden
runter.
»Äh, hey du«, stammelte er verstört.
»Ich muss mit dir reden«, erklärte ich ohne
Umschweife. Es fiel mir allerdings nicht leicht, diese Worte
rauszukriegen, weil doch mein Herz in meiner Brust so abartig
hämmerte. Aber irgendwie kriegte ich es hin.
»Okay, worum geht’s denn?« Christophers Blick glitt
an mir vorbei und wanderte zu der Uhr, die im Flur hinter mir an
der Wand hing. »Die Stunde fängt gleich an.«
»Ja, schon gut, ich weiß«, sagte ich. Ich griff mit
der Hand nach seinem Arm. Mir war klar, dass er den elektrischen
Schlag nicht spürte, der in dem Moment von meiner Haut auf seine
Lederjacke übersprang. Aber ich spürte das, und wie. »Wir
gehen heute nicht zum Unterricht. Wir müssen dringend zu deinem
Cousin nach Hause.«
Christopher nahm seinen Rucksack von einer Schulter
auf die andere und sah dann nacheinander Lulu, Steven und wieder
mich an. Er machte einen ziemlich ungerührten Eindruck.
»Sieh mal, Nikki«, meinte er ausweichend. »Wenn es
wieder um deine Mom geht, ich dachte, wir wären …«
»Ich hab jetzt diese Daten, nach denen du mich
gefragt hast«, unterbrach ich ihn. »Du weißt schon, das Passwort.
Wir können also gehen, okay?«
Er musterte mich eindringlich mit seinem
ultrablauen Blick. Ich erwartete jetzt eigentlich, dass er mich
fragte, wie es mit den Abschlussprüfungen aussah. Der alte
Christopher hätte das zumindest getan. Der alte Christopher hätte
gesagt: »Aber wir haben doch gerade das erste Halbjahr der
elften Klasse hinter uns. Die Noten, die wir in dem Schuljahr
kriegen, zählen bei der Bewerbung fürs College. Wenn wir es jetzt
vermasseln, dann wird man uns das ewig zum Vorwurf machen. McKayla
Donofrio hat es schon zu einem Begabtenstipendium gebracht. Wir
dürfen das nicht verpatzen.«
Aber der da vor mir stand, war nicht der alte
Christopher. Vor mir stand Christopher, der Superschurke.
Er blickte mir direkt in die Augen und sagte
entschlossen: »Gut, gehen wir.«
Und schon waren wir auf dem Weg zum nächsten
Ausgang, und selbst als Frida, die offensichtlich schon die ganze
Zeit hinter uns hergetrapst war, rief: »Wartet! Wo wollt ihr denn
hin? Hey, Leute? Gleich kommt der Gong. Ihr könnt doch nicht
einfach so abhauen«, konnte uns das nicht aufhalten.
»Schnappen wir uns ein Taxi«, sagte ich zu
Christopher, »und sag dem Fahrer bitte, er soll kurz warten. Ich
bin gleich wieder zurück.« Ich ließ die anderen weiterziehen und
kehrte
um. Ich packte Frida an der Schulter und rammte sie mit nur einer
Hand gegen eines der Schließfächer.
Zu behaupten, dass sie angesichts dieser
unerwarteten Wendung überrascht wirkte, wäre wirklich die
Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Doch die Sache war einfach
zu wichtig, um jetzt die fürsorgliche ältere Schwester zu spielen.
Ich konnte nicht zulassen, dass sie mir das jetzt versaute. Ich
musste schließlich auch an Steven denken.
»Geh du in deinen Unterricht«, knurrte ich sie an.
»Und vergiss gefälligst, dass du mich heute hier in der Schule
gesehen hast, ist das klar?«
»Wohin wollt ihr denn?«, fragte sie mich kleinlaut.
»Du kannst doch diese Woche unmöglich den Unterricht verpassen. Was
ist denn mit den Abschlussprüfungen? Du wirst garantiert
durchrasseln!«
»Ich mein’s ernst, Frida«, drohte ich ihr. »Und sag
das auch deinen Freundinnen. Keine von euch hat mich hier
gesehen.«
»Mann, was geht hier eigentlich vor?« Frida machte
jetzt einen besorgten Eindruck.
Und sie hatte auch wirklich allen Grund dazu.
»Wohin wollt ihr mit Christopher?«, erkundigte sie
sich ängstlich.
Doch ich hatte mich schon wieder umgedreht und lief
durch den Flur auf die Tür zu, durch die Lulu, Christopher und
Steven gerade verschwunden waren.
»Ich werde euch verpetzen«, hörte ich Frida mir
hinterherrufen. »Ich mein’s ernst, Em! Äh, Nikki, meine ich!
Warte!«
Doch in dem Moment wurde ihre Stimme abgeschnitten,
weil soeben die schwere Metalltür der Schule hinter mir ins Schloss
fiel und ich die Seitentreppe hinuntereilte, raus in die bittere
Kälte und in den eiskalten Nieselregen, auf das wartende Taxi
zu.