SECHZEHN
»Beeil dich!«, rief Lulu mir zu. So als ob das Taxi, in das sie gerade erst gestiegen war, ohne mich abfahren würde.
»Ich komme ja schon«, entgegnete ich völlig außer Atem. Christopher hatte draußen gewartet und hielt mir jetzt die Taxitür auf. Sein Gesicht wirkte wieder völlig teilnahmslos, so als sei er daran gewöhnt, jeden Tag von Supermodels mit ihren Freunden von der Schule weggeholt zu werden.
»Wo wollen wir jetzt eigentlich genau hin?«, erkundigte Steven sich, als ich neben ihm und Lulu auf dem Rücksitz Platz nahm.
»Der Cousin von dem Typen hier ist ein Computergenie«, erklärte ich und deutete auf Christopher, der vorn auf dem Beifahrersitz saß. Ich war mir ziemlich sicher, dass Christopher durch die dicke, schusssichere Abtrennung zwischen Vorder- und Rücksitzen nichts verstehen konnte von dem, was wir sagten. Noch dazu, wo der Fahrer die Bollywood-Musik ziemlich laut aufgedreht hatte. »Er behauptet, er könne deine Mom ausfindig machen.«
Steven schaute mich verwirrt an. »Arbeitet er denn fürs NYPD? Und was treibt er dann bei euch in der Schule? Ist er etwa von der Drogenfahndung?«
»Äh«, sagte ich zögernd, denn in dem Moment wurde mir klar, dass es bei meinem Plan ein paar Unstimmigkeiten gab. »Nein, nicht ganz.«
»Habt ihr das Top von dem Mädchen gesehen?«, fragte Lulu plötzlich völlig empört. Offensichtlich meinte sie Whitney. »Das sah ja so … bemüht aus, irgendwie total übertrieben.«
»Aber er arbeitet für die Regierung«, tippte Steven als Nächstes. »Bitte sag mir, dass er Verbindungen zu irgendeiner Regierungsstelle hat.«
»Auch nicht so ganz«, sagte ich zu Steven.
»Ich meine«, fuhr Lulu ungerührt fort, »das war ja praktisch durchsichtig, das Teil. Das sah ja so was von scheiße aus. Das Top, das sie getragen hat, hat dir doch nicht etwa gefallen, Steven, oder? Das von diesem Mädchen gerade eben?«
»Willst du mir damit sagen«, empörte Steven sich nun, »dass er wirklich nur ein ganz normaler Highschool-Schüler ist?« Er schenkte Lulu und Cosabella, die ich soeben aus der Tasche rausgelassen hatte und die ihm sofort auf den Schoß gehüpft war, um den Verkehr um uns herum zu beobachten, keinerlei Beachtung.
»Soll ich euch was sagen?« Christopher hatte sich auf dem Beifahrersitz zu uns umgedreht und sah uns durch die Plastikabtrennung an. Jetzt war klar, dass er uns nur zu deutlich verstanden hatte, trotz der scheppernden Musik, die uns nach den rätselhaften Worten Soniya dil se mila de aufforderte: Just chill. »Macht euch keine Gedanken. Wenn sie noch am Leben ist, wird Felix deine Mom finden. Also lehnt euch zurück und entspannt euch, alle zusammen. Ich kümmere mich schon darum.«
Genau so etwas würde ein echter Superschurke sagen. Nämlich exakt in dem Moment, wo er dich zu deiner eigenen Hinrichtung bringt.
Aber ein echter Superschurke, der hätte uns doch mit irgendeiner Waffe vor der Nase rumgefuchtelt, oder?
Na ja, nein, wahrscheinlich nicht. Warum auch, wenn man bedenkt, dass wir das allesamt freiwillig mitmachten. Na ja, mehr oder weniger. Ich hatte wohl nicht ernsthaft eine andere Wahl. Entweder ich half Steven dabei, seine Mom zu finden, oder er würde an die Öffentlichkeit gehen mit dem, was er wusste. Dieser Verdacht verhärtete sich jedenfalls seit dem Abend zuvor immer mehr in mir. Genau das würde Nikkis Bruder tun, davon war ich überzeugt. Ich konnte es ganz deutlich sehen: Steven würde in sämtlichen nationalen Nachrichtensendungen auftreten und einen Hilferuf starten, man möge ihn dabei unterstützen, seine Mom zu finden. Und ganz nebenbei würde er noch anmerken: »Ach, übrigens … das Mädchen, das derzeit im Körper von Nikki Howard steckt, ist gar nicht meine Schwester. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber ich wünschte mir, irgendjemand würde einen Exorzismus durchführen, um sie daraus zu vertreiben. Ich bitte Sie, helfen Sie mir! Vielen Dank.«
Das würde wahrscheinlich gar nicht gut ankommen bei Stark, darauf wettete ich.
Neben mir telefonierte Lulu auf ihrem Handy. »Nein«, sagte sie gerade zu der Person am anderen Ende der Leitung. »Bitte sorgen Sie dafür, dass der Caterer alles über den hinteren Serviceaufzug liefert, ja? Das letzte Mal wurden ein paar Lieferungen über den vorderen Aufzug gebracht und hinterher war die Messingverkleidung im Lift total zerkratzt und das Gebäudemanagement war richtig sauer. Haben Sie verstanden? Gut.« Sie legte auf.
»Kannst du eigentlich an nichts anderes denken als an diese blöde Party?«, fragte Steven aufgebracht. Er klang richtig genervt.
Lulu sah an mir vorbei in sein Gesicht. Sie wirkte ziemlich verblüfft.
»Nein«, erwiderte sie. »Natürlich nicht!«
»Ist doch nur eine Party«, meinte Steven. »Ich geb dauernd Partys. Man besorgt ein Fass Bier und kippt ein paar Brezeln in eine Schüssel. Dann legt man ein bisschen Musik auf und lädt seine Freunde ein. Ist doch kein großes Ding.«
Lulu warf mir einen skeptischen Blick zu. Da ich allerdings auch nicht gerade die weltbeste Partyspezialistin war, konnte ich zu der Unterhaltung nicht so recht was beitragen. Klar, ich war schon auf so manchen Partys zusammen mit Lulu gewesen und die schienen mir alle ein bisschen komplexere Vorbereitungen gekostet zu haben als ein Fass Bier besorgen und ein paar Brezeln in eine Schüssel kippen. Auf der letzten Party, auf der wir gewesen waren, hatte es sogar einen Feuerschlucker gegeben. Aber ich hielt es für das Beste, mich da rauszuhalten.
»Es geht hier nicht um eine stinknormale Party«, fing sie vorsichtig an zu erklären. »Die besten Sushi-Köche aus Nobu werden da sein, um die Rollen frisch zuzubereiten. Es gibt alle erdenklichen Arten von Drinks auf Bestellung, gemixt von Barleuten, die zugleich auch Experten in Astrologie sind. Ich lass einen Schokoladenbrunnen aufbauen, draußen auf der Terrasse. Und DJ Drama wird auflegen.«
Steven schüttelte nur den Kopf. »Wozu? Wozu der ganze Aufwand? Wen willst du denn damit beeindrucken?«
»Beeindrucken?« Lulu sprach das Wort aus, als wäre es ein Fremdwort für sie. »Ich will doch niemanden beeindrucken…« Was natürlich nicht so ganz stimmte. Denn Lulu hatte sich in letzter Zeit ganz entschieden darum bemüht, Steven zu beeindrucken. Zugegeben, sie war nicht ganz so schlimm wie Whitney Robertson und all die anderen Lebenden Toten, die wirklich alles taten, um zu beeindrucken … Na ja, und zwar mich. Alles, was Lulu tat, tat sie aus reiner Gutmütigkeit, zu hundert Prozent. Niemand, der sie gut kannte, hätte jemals etwas anderes behauptet. Steven war bestimmt nur ein bisschen aufgeregt, so wie die Dinge sich gerade entwickelten, und er war nervös wegen seiner Mom.
Jetzt ging ich doch dazwischen. »Lulu lädt eben gern Leute ein«, erklärte ich. »Auf diese Weise kompensiert sie eine mehr als unbefriedigende Kindheit. Und sie würde sich riesig freuen, wenn du ebenfalls dabei wärst.«
Steven zögerte einen Moment. Dann bemerkte er meinen Gesichtsausdruck. Ich sah ihn flehend an - und schickte ihm eine telepathische Nachricht: Komm schon, Kumpel. Sie steht total auf dich. Mach sie jetzt bloß nicht runter. Sag einfach, dass du zu der Party kommst. Es spielt doch keine Rolle, ob sie dein Typ ist oder nicht. Sag einfach zu. Komm schon, nimm diesem Mädchen doch nicht die letzte Hoffnung.
Er zuckte mit den Schultern und ließ sich tiefer in den Sitz sinken, während Cosabellas heißer Atem einen Film auf der Scheibe neben ihm hinterließ.
»Klar. Logisch. Ich freue mich sehr über die Einladung. Klingt großartig.«
Lulu kringelte sich vor Freude. »Das wird ja so toll werden!«, rief sie begeistert. »Ein paar von den Trapezkünstlern vom Cirque du Soleil werden auch kommen. Unsere Decken sind so hoch, da kann man locker ein Trapez befestigen, weißt du? Das wird ja so krass werden! Die Leute in ganz Manhattan werden die Artisten durchs Fenster sehen können!«
Lulu hörte fast die ganze Fahrt zu Felix’ Haus über nicht auf, von der Party zu reden. Etwa zwanzig Minuten später hielten wir endlich vor dem Gebäude. Es handelte sich um ein unscheinbares Reihenhaus in einer mittelständischen Gegend. Christopher bezahlte den Taxifahrer, und wir sprangen raus in den kalten, tristen Regen, der Cosabella ziemlich zu stören schien - mit betroffenem Gesichtsausdruck sah sie mich an und schien mich zu fragen: Warum nur, Mommy? Warum tust du mir das an? Ich nahm sie auf den Arm und steckte sie zurück in meine Tasche, in der sie sich dankbar und glücklich zusammenrollte.
Mit geducktem Kopf wegen des konstanten Sprühregens lief Christopher uns allen voraus den Weg entlang und über eine Steigung zur Haustür. Dort betätigte er den Türklopfer (ein American Eagle, Wappentier unseres Landes).
»Warum habe ich bloß so ein ungutes Gefühl bei der Sache?«, fragte Steven, an mich gewandt, während wir darauf warteten, dass man uns die Tür öffnete.
»Das wird schon«, meinte ich. Auch wenn ich das selbst nicht so recht glauben konnte. Oh Gott, wie Steven wohl reagieren würde, wenn er erst mal sah, wen wir hier besuchten?
Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Eine Minute später ging die Tür auf, und eine untersetzte Frau mittleren Alters in Jeans und einem Sweatshirt von Stark mit einer glitzernden Amerikaflagge vorne drauf rief: »Christopher! Was treibst du denn an einem ganz normalen Schultag hier?«
Christopher erwiderte lächelnd: »Ach, weißt du, die haben uns in der Stadt bereits in die Weihnachtsferien geschickt, Tante Jackie.«
Tante Jackie strahlte ihn an: »Und du willst Felix besuchen? Und hast alle deine Freunde mitgebracht? Wie süß von dir. Was bist du doch für ein lieber Junge.«
Wenn die nur wüsste …
»Na, dann steht mal nicht länger da draußen im Regen rum«, rief Tante Jackie fröhlich. »Kommt rein! Kommt schon rein.«
Felix’ Mutter zog uns alle nach drinnen ins Warme. Dort fand sich so ziemlich alles an Ausstattung, was man in einem Stark-Megastore so kaufen konnte. Ehrlich, kein Witz. Die Regale erkannte ich eindeutig als ein Stark-Modell, die Sitzgarnitur ebenfalls, auch die TV-Möbel, ja sogar der Fernseher war von Stark. Das komplette Wohnzimmer von Felix’ Familie war mit Sachen von Stark eingerichtet, bis hin zum passenden grünen Kunstleder-Doppelsitzer, in dem es sich Christophers Onkel und Tante offensichtlich bequem gemacht hatten, um sich wie jeden Abend den Stark-Shopping-Channel reinzuziehen.
Ich konnte sogar riechen, dass von Tante Jackie der Duft vom Parfüm Nikki ausging, was sich in Kombination mit dem, was sie in der Küche im Ofen hatte, zu einer ziemlich widerlichen Mischung vereinte. Nikkis Parfüm passte nämlich so gar nicht zu irgendwelchen Essensgerüchen. Und auch zu sonst nichts, wenn ich ehrlich bin.
»Ihr kommt gerade richtig«, meinte Felix’ Mom und eilte hektisch in die Küche. Damit bestätigte sie meinen Verdacht. »Ich hol gerade ein Blech mit meinen weltberühmten Brownies aus dem Ofen …«
»Mann, das ist ja großartig, Tante Jackie«, rief Christopher ihr hinterher. »Vielleicht später, ja? Wir müssen erst mit Felix reden. Ist er denn unten?«
»Aber natürlich«, sagte Tante Jackie lachend. »Wo sollte er denn sonst sein?« Immer wieder sah sie nervös zu Lulu und mir rüber. Erst konnte ich mir keinen Reim darauf machen, aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vor ihr standen ja Nikki Howard und Lulu Collins! Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie uns schon mal auf Entertainment Tonight gesehen. Mal abgesehen davon, dass sie mein Gesicht sowieso auf allem, was sie je gekauft hatte, zu sehen bekam. Möglicherweise wusste sie noch nicht so recht einzuordnen, woher sie uns kannte, aber wir kamen ihr definitiv bekannt vor, so viel war sicher.
Außerdem kam es höchstwahrscheinlich nicht jeden Tag vor, dass ein paar Mädchen ihren kleinen Felix besuchten. Ich nahm an, dass es sogar das allererste Mal war.
»Wir sagen Felix bloß kurz mal Hallo«, meinte Christopher. Er gab uns ein Zeichen, dass wir ihm folgen sollten, als er über den orangefarbenen Flokatiteppich auf eine nahe gelegene Tür zuging. »Wir brauchen nur eine Minute. Wir können nicht lange bleiben.«
»Ich mach euch einen Vorschlag«, meinte Tante Jackie. »Ich bring euch die Brownies einfach nach unten. Möchtet ihr gern ein Glas Milch dazu? Oder, nein, viel besser! Eine heiße Schokolade! Es ist ja so kalt da draußen.«
Offensichtlich war Felix’ Mom gar nicht aufgefallen, dass mindestens einer von uns schon über zwanzig war.
»Schon gut, Tante Jackie«, wehrte Christopher ab. »Wir brauchen nichts.« Er riss die Tür auf, und ich erblickte dahinter eine lange, schmale Treppe, die in den Keller führte. Christopher stieg die Stufen runter und mit einem besorgten Blick zurück zu Steven und Lulu folgte ich ihm schließlich.
Das war’s dann wohl, dachte ich.
Es war zwar nicht ganz so gruselig, als würde man in die Höhle von Batman hinabsteigen. Es sei denn, man hielt die Poster von dem Film Scarface für gruselig. Denn das ganze Treppenhaus war damit zutapeziert, überall hingen riesige Plakate mit Al Pacino drauf, der in dem Film die Hauptrolle spielte, in allen erdenklichen Kostümen und Posen.
Mir schwante langsam, dass hier jemand an einem ernstzunehmenden Gangster-Komplex litt.
Es war nicht besonders schwer, herauszufinden, wer derjenige war. Tja, also, es war nicht schwer zu erraten, dass es sich dabei nicht um Christophers Tante Jackie handelte.
Der Keller schien gleichzeitig als Waschraum und als Fitnessraum zu dienen. Es gab eine Reihe von Hanteln - die so aussahen, als hätte sie schon seit einer halben Ewigkeit niemand mehr in die Hand genommen -, außerdem ein Laufband, an dem ein paar Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt waren. Wenigstens konnte man hier unten den unerträglichen Geruch von Nikki nicht länger riechen. Stattdessen roch es ziemlich streng nach Waschmittel.
Eine Ecke des Kellerraums war zu einer Art Multimedia-Center umgebaut worden. Na ja, zumindest so was Ähnliches. Von der Decke baumelten an etwas, das wie ein Bungee-Seil aussah, Computermonitore, die den Eindruck machten, als hätte man sie anderen Leuten aus der Mülltonne geklaut. Einige von ihnen thronten auf leeren Milchkartons oder sie standen ziemlich wackelig auf diversen Spielkonsolen (Marke Stark, versteht sich).
Inmitten dieser ganzen Konstruktion saß eine dünne, gebückte Gestalt. Sie trug eine weite, schlabberige Jeans, ein grünes Wildlederhemd und eine ganze Reihe von Goldketten um den Hals. Der Junge spielte ein Online-Game mithilfe eines Steuerknüppels.
»Stirb endlich«, brüllte er gerade in Richtung von einem der vielen Computermonitore vor ihm. »Stirb, stirb, stirb, stirb, stirb!«
Ich sah es zwar nicht, aber ich konnte spüren, wie Steven hinter mir vor Schreck stocksteif stehen blieb, sodass Lulu von hinten in ihn reinlief.
»Oh«, meinte sie. »Das tut mir leid!« Steven zeigte keinerlei Reaktion. Er war einfach zu perplex.
Oh Mann, ich konnte ihn echt verstehen.
Die Gestalt vor den Monitoren drehte sich nun zu uns um. Ich erkannte Felix wieder. Er lächelte. Fast hätte ich erwartet, ein paar von seinen Zähnen mit Goldkronen verziert zu sehen. Was sie natürlich nicht waren. Er trug nur eine Zahnspange.
»Christopher«, rief er begeistert. »Hey, Mann! Und du hast noch Besuch mitgebracht …« Plötzlich verstummte er, denn er hatte offenbar bemerkt, wer sein Besuch war.
Nicht viel hätte gefehlt, und ihm wären die Augen aus dem Kopf gefallen … besonders als er Lulu sah. Doch in allerletzter Sekunde riss er sich zusammen.
Dann sagte er: »Ladys! Hallo. Willkommen in meiner Männerhöhle. Schön, dass ihr da seid. Wie unglaublich toll von euch, dass ihr gekommen seid. Hat euch die Matriarchin Brownies angeboten?«
»Ich fass es nicht, ihr müsst mich doch verarschen.« Stevens Stimme hinter mir klang dumpf.
»Gib ihm eine Chance, bitte«, flüsterte ich ihm schnell zu.
»Ich geb ihm garantiert keine Chance.« Steven klang, als würde man ihn würgen. »Der ist doch noch ein Kind.«
»Au contraire, mon frère.« Felix, der ihn anscheinend gehört hatte, zog eines seiner Hosenbeine hoch, um uns ein böse aussehendes Plastikteil zu zeigen, das an seinem - überraschenderweise ziemlich haarigen - Bein befestigt war. »Sieht das vielleicht nach einem Kind aus? Glaubt mir, das ist alles andere als für Kinder gemacht. Das ist das Neueste vom Neuen in Sachen Hausarrest-Überwachungssysteme. Absolut manipulationssicher. Kommuniziert drahtlos mit der Docking-Station oben in der Küche. Und die ist an einen Transformator und an die Telefonleitung angeschlossen. Sobald ich das Haus verlasse, wird die Polizei verständigt. Es handelt sich also kaum um etwas, das ein durchschnittlicher Vierzehnjähriger so trägt, oder? Aber«, fügte Felix mit einem gezielten Blick in meine Richtung hinzu, »für mein Alter bin ich sowieso schon ziemlich reif, wie die Ladys hier sicher bestätigen können.«
Stevens Nackenmuskulatur verkrampfte sich unmerklich und er schien den Jungen jeden Moment verprügeln zu wollen. Doch da legte Lulu ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm und murmelte mit beruhigender Stimme: »Ach, Steven, komm schon. Hör bitte auf Nikki. Gib dem Ganzen eine Chance.«
Christopher hatte sich indessen gegen einen Stützpfeiler gelehnt. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Hört mal zu, ihr«, rief er nun dazwischen. »Das ist mein Cousin Felix. Felix, darf ich dir vorstellen: die anderen.«
»Das ist Steven …«, fing ich an und zeigte auf ihn.
Jetzt hob Christopher eine Hand. »Moment, ich glaube, es ist besser, wenn ihr anonym bleibt«, unterbrach er mich. »Zumindest so weit es geht, da wir ja auch Promis und Berühmtheiten unter uns haben.«
»Erwarten Sie bloß nicht, Miss Howard und Miss Collins«, schaltete Felix sich ein, »dass ich Sie irgendwie anders behandeln werde, nur weil Sie berühmt sind. Für mich sind Sie nichts anderes als zwei ganz normale attraktive Damen. Ich kenne bereits ein paar Berühmtheiten - einige meiner besten Freunde sind Promis, aber ich kann natürlich keine Namen nennen. Dazu bin ich viel zu cool. Und ich weiß ganz genau, wie sehr es sie aufregt, wenn man ein großes Getue um ihre Berühmtheit macht. Also machen Sie sich keine Gedanken. Mich lässt diese Promikiste völlig kalt.«
Lulu und ich tauschten nervöse Blicke. Dann sagte ich das Einzige, was mir unter diesen Umständen einfiel, nämlich: »Äh … prima. Danke.«
Wenn ich ehrlich bin, sagten die Leute die ganze Zeit ganz ähnliche Sachen zu mir. Jeder wollte für einen Menschen gehalten werden, der sich nichts daraus machte, einen Promi zu treffen. Sie alle beteuerten mir ständig, dass sie mich wie einen »ganz normalen Menschen« behandeln würden.
Blöd war nur, dass sie mir genau dadurch das Gefühl gaben, eben kein normaler Mensch zu sein.
Christopher, dem klar sein musste, dass sein Cousin sich idiotisch benahm, hielt sich trotzdem raus und sah die meiste Zeit über woandershin, als ginge ihn die ganze Sache nichts an und als wollte er sich in seine eigene kleine Welt flüchten. Doch schließlich fragte er: »Nikki, hast du denn nun diese Daten, um die wir dich gebeten haben?«
»Oh.« Ich war ein wenig überrumpelt. Christopher war ja einer der wenigen gewesen, der mich immer ganz normal und nicht wie eine Berühmtheit behandelt hatte. Er ging sogar bisweilen so weit, dass er mich noch nicht einmal wie einen Menschen behandelte. »Klar …«
Ich war mir noch nicht so ganz sicher, wie ich mich angesichts dessen fühlte, dass ich drauf und dran war, Stark an Christopher und Felix zu verraten. Einerseits glaubte ich nicht ernsthaft, dass ihr Plan aufgehen würde. Ich meine, wir hatten es hier immerhin mit Stark zu tun, Christopher zufolge einer der größten Konzerne der Welt. Sollten zwei Teenager echt in der Lage sein, mit einer lächerlichen Hackerattacke diesen Konzern in den Ruin zu treiben?
Also ehrlich, natürlich nicht.
Aber man würde sie garantiert dabei erwischen. Einer von den beiden trug ja immerhin schon eine Fußfessel, und so wie es aussah … na ja, er lebte in einem Keller, spielte Videospiele und stopfte den ganzen Tag lang Brownies in sich rein, die seine Mutter ihm vorsetzte. Oberflächlich betrachtet erschien das sicherlich wie das perfekte Leben für ein Kind. In der Realität war es aber ziemlich schauderhaft, wo er doch ganz offensichtlich schon so gestört war, dass er vorgab, Beziehungen zu Berühmtheiten zu haben, und sich selbst in seiner Großartigkeit voll überschätzte. War das wirklich die Zukunft, die ich mir für Christopher erhoffte?
Nein, natürlich nicht.
Doch wenn es wirklich so weit kommen würde, wäre ich dann am Morgen in die Schule gegangen, um ihn den ganzen Weg nach Brooklyn zum Haus seines Cousins zu schleifen?
In dem Punkt war ich mir nicht so ganz sicher. Aber ich musste irgendetwas unternehmen. Denn die Tage, an denen ich mit einem Wanzendetektor in der Tasche durch die Gegend lief, waren für mich ein für alle Mal vorbei.
»Dr. Louise Higgins«, hörte ich mich jetzt selbst sagen. »So lautet ihr Benutzername.«