SECHZEHN
»Beeil dich!«, rief Lulu mir zu. So als ob das
Taxi, in das sie gerade erst gestiegen war, ohne mich abfahren
würde.
»Ich komme ja schon«, entgegnete ich völlig außer
Atem. Christopher hatte draußen gewartet und hielt mir jetzt die
Taxitür auf. Sein Gesicht wirkte wieder völlig teilnahmslos, so als
sei er daran gewöhnt, jeden Tag von Supermodels mit ihren Freunden
von der Schule weggeholt zu werden.
»Wo wollen wir jetzt eigentlich genau hin?«,
erkundigte Steven sich, als ich neben ihm und Lulu auf dem Rücksitz
Platz nahm.
»Der Cousin von dem Typen hier ist ein
Computergenie«, erklärte ich und deutete auf Christopher, der vorn
auf dem Beifahrersitz saß. Ich war mir ziemlich sicher, dass
Christopher durch die dicke, schusssichere Abtrennung zwischen
Vorder- und Rücksitzen nichts verstehen konnte von dem, was wir
sagten. Noch dazu, wo der Fahrer die Bollywood-Musik ziemlich laut
aufgedreht hatte. »Er behauptet, er könne deine Mom ausfindig
machen.«
Steven schaute mich verwirrt an. »Arbeitet er denn
fürs NYPD? Und was treibt er dann bei euch in der Schule? Ist er
etwa von der Drogenfahndung?«
»Äh«, sagte ich zögernd, denn in dem Moment wurde
mir klar, dass es bei meinem Plan ein paar Unstimmigkeiten gab.
»Nein, nicht ganz.«
»Habt ihr das Top von dem Mädchen gesehen?«, fragte
Lulu plötzlich völlig empört. Offensichtlich meinte sie Whitney.
»Das sah ja so … bemüht aus, irgendwie total
übertrieben.«
»Aber er arbeitet für die Regierung«, tippte Steven
als Nächstes. »Bitte sag mir, dass er Verbindungen zu irgendeiner
Regierungsstelle hat.«
»Auch nicht so ganz«, sagte ich zu Steven.
»Ich meine«, fuhr Lulu ungerührt fort, »das war ja
praktisch durchsichtig, das Teil. Das sah ja so was von scheiße
aus. Das Top, das sie getragen hat, hat dir doch nicht etwa
gefallen, Steven, oder? Das von diesem Mädchen gerade eben?«
»Willst du mir damit sagen«, empörte Steven sich
nun, »dass er wirklich nur ein ganz normaler
Highschool-Schüler ist?« Er schenkte Lulu und Cosabella, die
ich soeben aus der Tasche rausgelassen hatte und die ihm sofort auf
den Schoß gehüpft war, um den Verkehr um uns herum zu beobachten,
keinerlei Beachtung.
»Soll ich euch was sagen?« Christopher hatte sich
auf dem Beifahrersitz zu uns umgedreht und sah uns durch die
Plastikabtrennung an. Jetzt war klar, dass er uns nur zu deutlich
verstanden hatte, trotz der scheppernden Musik, die uns nach den
rätselhaften Worten Soniya dil se mila de aufforderte:
Just chill. »Macht euch keine Gedanken. Wenn sie noch am
Leben ist, wird Felix deine Mom finden. Also lehnt euch zurück und
entspannt euch, alle zusammen. Ich kümmere mich schon darum.«
Genau so etwas würde ein echter Superschurke sagen.
Nämlich exakt in dem Moment, wo er dich zu deiner eigenen
Hinrichtung bringt.
Aber ein echter Superschurke, der hätte uns doch
mit irgendeiner Waffe vor der Nase rumgefuchtelt, oder?
Na ja, nein, wahrscheinlich nicht. Warum auch, wenn
man bedenkt, dass wir das allesamt freiwillig mitmachten. Na ja,
mehr oder weniger. Ich hatte wohl nicht ernsthaft eine andere Wahl.
Entweder ich half Steven dabei, seine Mom zu finden, oder er würde
an die Öffentlichkeit gehen mit dem, was er wusste. Dieser Verdacht
verhärtete sich jedenfalls seit dem Abend zuvor immer mehr in mir.
Genau das würde Nikkis Bruder tun, davon war ich überzeugt. Ich
konnte es ganz deutlich sehen: Steven würde in sämtlichen
nationalen Nachrichtensendungen auftreten und einen Hilferuf
starten, man möge ihn dabei unterstützen, seine Mom zu finden. Und
ganz nebenbei würde er noch anmerken: »Ach, übrigens … das Mädchen,
das derzeit im Körper von Nikki Howard steckt, ist gar nicht meine
Schwester. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber ich wünschte mir,
irgendjemand würde einen Exorzismus durchführen, um sie daraus zu
vertreiben. Ich bitte Sie, helfen Sie mir! Vielen Dank.«
Das würde wahrscheinlich gar nicht gut ankommen bei
Stark, darauf wettete ich.
Neben mir telefonierte Lulu auf ihrem Handy.
»Nein«, sagte sie gerade zu der Person am anderen Ende der Leitung.
»Bitte sorgen Sie dafür, dass der Caterer alles über den hinteren
Serviceaufzug liefert, ja? Das letzte Mal wurden ein paar
Lieferungen über den vorderen Aufzug gebracht und hinterher war die
Messingverkleidung im Lift total zerkratzt und das
Gebäudemanagement war richtig sauer. Haben Sie verstanden? Gut.«
Sie legte auf.
»Kannst du eigentlich an nichts anderes denken als
an diese
blöde Party?«, fragte Steven aufgebracht. Er klang richtig
genervt.
Lulu sah an mir vorbei in sein Gesicht. Sie wirkte
ziemlich verblüfft.
»Nein«, erwiderte sie. »Natürlich nicht!«
»Ist doch nur eine Party«, meinte Steven. »Ich geb
dauernd Partys. Man besorgt ein Fass Bier und kippt ein paar
Brezeln in eine Schüssel. Dann legt man ein bisschen Musik auf und
lädt seine Freunde ein. Ist doch kein großes Ding.«
Lulu warf mir einen skeptischen Blick zu. Da ich
allerdings auch nicht gerade die weltbeste Partyspezialistin war,
konnte ich zu der Unterhaltung nicht so recht was beitragen. Klar,
ich war schon auf so manchen Partys zusammen mit Lulu gewesen und
die schienen mir alle ein bisschen komplexere Vorbereitungen
gekostet zu haben als ein Fass Bier besorgen und ein paar
Brezeln in eine Schüssel kippen. Auf der letzten Party, auf der
wir gewesen waren, hatte es sogar einen Feuerschlucker gegeben.
Aber ich hielt es für das Beste, mich da rauszuhalten.
»Es geht hier nicht um eine stinknormale Party«,
fing sie vorsichtig an zu erklären. »Die besten Sushi-Köche aus
Nobu werden da sein, um die Rollen frisch zuzubereiten. Es gibt
alle erdenklichen Arten von Drinks auf Bestellung, gemixt von
Barleuten, die zugleich auch Experten in Astrologie sind. Ich lass
einen Schokoladenbrunnen aufbauen, draußen auf der Terrasse. Und DJ
Drama wird auflegen.«
Steven schüttelte nur den Kopf. »Wozu? Wozu der
ganze Aufwand? Wen willst du denn damit beeindrucken?«
»Beeindrucken?« Lulu sprach das Wort aus, als wäre
es ein Fremdwort für sie. »Ich will doch niemanden beeindrucken…«
Was natürlich nicht so ganz stimmte. Denn Lulu hatte sich in
letzter Zeit ganz entschieden darum bemüht,
Steven zu beeindrucken. Zugegeben, sie war nicht ganz so schlimm
wie Whitney Robertson und all die anderen Lebenden Toten, die
wirklich alles taten, um zu beeindrucken … Na ja, und zwar mich.
Alles, was Lulu tat, tat sie aus reiner Gutmütigkeit, zu hundert
Prozent. Niemand, der sie gut kannte, hätte jemals etwas anderes
behauptet. Steven war bestimmt nur ein bisschen aufgeregt, so wie
die Dinge sich gerade entwickelten, und er war nervös wegen seiner
Mom.
Jetzt ging ich doch dazwischen. »Lulu lädt eben
gern Leute ein«, erklärte ich. »Auf diese Weise kompensiert sie
eine mehr als unbefriedigende Kindheit. Und sie würde sich riesig
freuen, wenn du ebenfalls dabei wärst.«
Steven zögerte einen Moment. Dann bemerkte er
meinen Gesichtsausdruck. Ich sah ihn flehend an - und schickte ihm
eine telepathische Nachricht: Komm schon, Kumpel. Sie steht
total auf dich. Mach sie jetzt bloß nicht runter. Sag einfach, dass
du zu der Party kommst. Es spielt doch keine Rolle, ob sie dein Typ
ist oder nicht. Sag einfach zu. Komm schon, nimm diesem Mädchen
doch nicht die letzte Hoffnung.
Er zuckte mit den Schultern und ließ sich tiefer in
den Sitz sinken, während Cosabellas heißer Atem einen Film auf der
Scheibe neben ihm hinterließ.
»Klar. Logisch. Ich freue mich sehr über die
Einladung. Klingt großartig.«
Lulu kringelte sich vor Freude. »Das wird ja so
toll werden!«, rief sie begeistert. »Ein paar von den
Trapezkünstlern vom Cirque du Soleil werden auch kommen. Unsere
Decken sind so hoch, da kann man locker ein Trapez befestigen,
weißt du? Das wird ja so krass werden! Die Leute in ganz Manhattan
werden die Artisten durchs Fenster sehen können!«
Lulu hörte fast die ganze Fahrt zu Felix’ Haus über
nicht auf, von der Party zu reden. Etwa zwanzig Minuten später
hielten wir endlich vor dem Gebäude. Es handelte sich um ein
unscheinbares Reihenhaus in einer mittelständischen Gegend.
Christopher bezahlte den Taxifahrer, und wir sprangen raus in den
kalten, tristen Regen, der Cosabella ziemlich zu stören schien -
mit betroffenem Gesichtsausdruck sah sie mich an und schien mich zu
fragen: Warum nur, Mommy? Warum tust du mir das an? Ich nahm
sie auf den Arm und steckte sie zurück in meine Tasche, in der sie
sich dankbar und glücklich zusammenrollte.
Mit geducktem Kopf wegen des konstanten Sprühregens
lief Christopher uns allen voraus den Weg entlang und über eine
Steigung zur Haustür. Dort betätigte er den Türklopfer (ein
American Eagle, Wappentier unseres Landes).
»Warum habe ich bloß so ein ungutes Gefühl bei der
Sache?«, fragte Steven, an mich gewandt, während wir darauf
warteten, dass man uns die Tür öffnete.
»Das wird schon«, meinte ich. Auch wenn ich das
selbst nicht so recht glauben konnte. Oh Gott, wie Steven wohl
reagieren würde, wenn er erst mal sah, wen wir hier
besuchten?
Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Eine Minute
später ging die Tür auf, und eine untersetzte Frau mittleren Alters
in Jeans und einem Sweatshirt von Stark mit einer glitzernden
Amerikaflagge vorne drauf rief: »Christopher! Was treibst du denn
an einem ganz normalen Schultag hier?«
Christopher erwiderte lächelnd: »Ach, weißt du, die
haben uns in der Stadt bereits in die Weihnachtsferien geschickt,
Tante Jackie.«
Tante Jackie strahlte ihn an: »Und du willst Felix
besuchen? Und hast alle deine Freunde mitgebracht? Wie süß von dir.
Was bist du doch für ein lieber Junge.«
Wenn die nur wüsste …
»Na, dann steht mal nicht länger da draußen im
Regen rum«, rief Tante Jackie fröhlich. »Kommt rein! Kommt schon
rein.«
Felix’ Mutter zog uns alle nach drinnen ins Warme.
Dort fand sich so ziemlich alles an Ausstattung, was man in einem
Stark-Megastore so kaufen konnte. Ehrlich, kein Witz. Die Regale
erkannte ich eindeutig als ein Stark-Modell, die Sitzgarnitur
ebenfalls, auch die TV-Möbel, ja sogar der Fernseher war von Stark.
Das komplette Wohnzimmer von Felix’ Familie war mit Sachen von
Stark eingerichtet, bis hin zum passenden grünen
Kunstleder-Doppelsitzer, in dem es sich Christophers Onkel und
Tante offensichtlich bequem gemacht hatten, um sich wie jeden Abend
den Stark-Shopping-Channel reinzuziehen.
Ich konnte sogar riechen, dass von Tante Jackie der
Duft vom Parfüm Nikki ausging, was sich in Kombination mit
dem, was sie in der Küche im Ofen hatte, zu einer ziemlich
widerlichen Mischung vereinte. Nikkis Parfüm passte nämlich so gar
nicht zu irgendwelchen Essensgerüchen. Und auch zu sonst nichts,
wenn ich ehrlich bin.
»Ihr kommt gerade richtig«, meinte Felix’ Mom und
eilte hektisch in die Küche. Damit bestätigte sie meinen Verdacht.
»Ich hol gerade ein Blech mit meinen weltberühmten Brownies aus dem
Ofen …«
»Mann, das ist ja großartig, Tante Jackie«, rief
Christopher ihr hinterher. »Vielleicht später, ja? Wir müssen erst
mit Felix reden. Ist er denn unten?«
»Aber natürlich«, sagte Tante Jackie lachend. »Wo
sollte er denn sonst sein?« Immer wieder sah sie nervös zu Lulu und
mir rüber. Erst konnte ich mir keinen Reim darauf machen, aber dann
fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vor ihr standen ja Nikki
Howard und Lulu Collins! Aller Wahrscheinlichkeit
nach hatte sie uns schon mal auf Entertainment Tonight
gesehen. Mal abgesehen davon, dass sie mein Gesicht sowieso auf
allem, was sie je gekauft hatte, zu sehen bekam. Möglicherweise
wusste sie noch nicht so recht einzuordnen, woher sie uns
kannte, aber wir kamen ihr definitiv bekannt vor, so viel war
sicher.
Außerdem kam es höchstwahrscheinlich nicht jeden
Tag vor, dass ein paar Mädchen ihren kleinen Felix besuchten. Ich
nahm an, dass es sogar das allererste Mal war.
»Wir sagen Felix bloß kurz mal Hallo«, meinte
Christopher. Er gab uns ein Zeichen, dass wir ihm folgen sollten,
als er über den orangefarbenen Flokatiteppich auf eine nahe
gelegene Tür zuging. »Wir brauchen nur eine Minute. Wir können
nicht lange bleiben.«
»Ich mach euch einen Vorschlag«, meinte Tante
Jackie. »Ich bring euch die Brownies einfach nach unten. Möchtet
ihr gern ein Glas Milch dazu? Oder, nein, viel besser! Eine heiße
Schokolade! Es ist ja so kalt da draußen.«
Offensichtlich war Felix’ Mom gar nicht
aufgefallen, dass mindestens einer von uns schon über zwanzig
war.
»Schon gut, Tante Jackie«, wehrte Christopher ab.
»Wir brauchen nichts.« Er riss die Tür auf, und ich erblickte
dahinter eine lange, schmale Treppe, die in den Keller führte.
Christopher stieg die Stufen runter und mit einem besorgten Blick
zurück zu Steven und Lulu folgte ich ihm schließlich.
Das war’s dann wohl, dachte ich.
Es war zwar nicht ganz so gruselig, als würde man
in die Höhle von Batman hinabsteigen. Es sei denn, man hielt die
Poster von dem Film Scarface für gruselig. Denn das ganze
Treppenhaus war damit zutapeziert, überall hingen riesige Plakate
mit Al Pacino drauf, der in dem Film die Hauptrolle spielte, in
allen erdenklichen Kostümen und Posen.
Mir schwante langsam, dass hier jemand an einem
ernstzunehmenden Gangster-Komplex litt.
Es war nicht besonders schwer, herauszufinden, wer
derjenige war. Tja, also, es war nicht schwer zu erraten, dass es
sich dabei nicht um Christophers Tante Jackie
handelte.
Der Keller schien gleichzeitig als Waschraum und
als Fitnessraum zu dienen. Es gab eine Reihe von Hanteln - die so
aussahen, als hätte sie schon seit einer halben Ewigkeit niemand
mehr in die Hand genommen -, außerdem ein Laufband, an dem ein paar
Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt waren. Wenigstens konnte man
hier unten den unerträglichen Geruch von Nikki nicht länger
riechen. Stattdessen roch es ziemlich streng nach
Waschmittel.
Eine Ecke des Kellerraums war zu einer Art
Multimedia-Center umgebaut worden. Na ja, zumindest so was
Ähnliches. Von der Decke baumelten an etwas, das wie ein
Bungee-Seil aussah, Computermonitore, die den Eindruck machten, als
hätte man sie anderen Leuten aus der Mülltonne geklaut. Einige von
ihnen thronten auf leeren Milchkartons oder sie standen ziemlich
wackelig auf diversen Spielkonsolen (Marke Stark, versteht
sich).
Inmitten dieser ganzen Konstruktion saß eine dünne,
gebückte Gestalt. Sie trug eine weite, schlabberige Jeans, ein
grünes Wildlederhemd und eine ganze Reihe von Goldketten um den
Hals. Der Junge spielte ein Online-Game mithilfe eines
Steuerknüppels.
»Stirb endlich«, brüllte er gerade in Richtung von
einem der vielen Computermonitore vor ihm. »Stirb, stirb, stirb,
stirb, stirb!«
Ich sah es zwar nicht, aber ich konnte spüren, wie
Steven hinter mir vor Schreck stocksteif stehen blieb, sodass Lulu
von hinten in ihn reinlief.
»Oh«, meinte sie. »Das tut mir leid!« Steven zeigte
keinerlei Reaktion. Er war einfach zu perplex.
Oh Mann, ich konnte ihn echt verstehen.
Die Gestalt vor den Monitoren drehte sich nun zu
uns um. Ich erkannte Felix wieder. Er lächelte. Fast hätte ich
erwartet, ein paar von seinen Zähnen mit Goldkronen verziert zu
sehen. Was sie natürlich nicht waren. Er trug nur eine
Zahnspange.
»Christopher«, rief er begeistert. »Hey, Mann! Und
du hast noch Besuch mitgebracht …« Plötzlich verstummte er, denn er
hatte offenbar bemerkt, wer sein Besuch war.
Nicht viel hätte gefehlt, und ihm wären die Augen
aus dem Kopf gefallen … besonders als er Lulu sah. Doch in
allerletzter Sekunde riss er sich zusammen.
Dann sagte er: »Ladys! Hallo. Willkommen in meiner
Männerhöhle. Schön, dass ihr da seid. Wie unglaublich toll von
euch, dass ihr gekommen seid. Hat euch die Matriarchin Brownies
angeboten?«
»Ich fass es nicht, ihr müsst mich doch
verarschen.« Stevens Stimme hinter mir klang dumpf.
»Gib ihm eine Chance, bitte«, flüsterte ich ihm
schnell zu.
»Ich geb ihm garantiert keine Chance.« Steven
klang, als würde man ihn würgen. »Der ist doch noch ein
Kind.«
»Au contraire, mon frère.« Felix, der ihn
anscheinend gehört hatte, zog eines seiner Hosenbeine hoch, um uns
ein böse aussehendes Plastikteil zu zeigen, das an seinem -
überraschenderweise ziemlich haarigen - Bein befestigt war. »Sieht
das vielleicht nach einem Kind aus? Glaubt mir, das ist
alles andere als für Kinder gemacht. Das ist das Neueste vom Neuen
in Sachen Hausarrest-Überwachungssysteme. Absolut
manipulationssicher. Kommuniziert drahtlos mit der Docking-Station
oben in der Küche. Und die ist an einen Transformator und an die
Telefonleitung angeschlossen. Sobald
ich das Haus verlasse, wird die Polizei verständigt. Es handelt
sich also kaum um etwas, das ein durchschnittlicher
Vierzehnjähriger so trägt, oder? Aber«, fügte Felix mit einem
gezielten Blick in meine Richtung hinzu, »für mein Alter bin ich
sowieso schon ziemlich reif, wie die Ladys hier sicher bestätigen
können.«
Stevens Nackenmuskulatur verkrampfte sich
unmerklich und er schien den Jungen jeden Moment verprügeln zu
wollen. Doch da legte Lulu ihm beschwichtigend eine Hand auf den
Arm und murmelte mit beruhigender Stimme: »Ach, Steven, komm schon.
Hör bitte auf Nikki. Gib dem Ganzen eine Chance.«
Christopher hatte sich indessen gegen einen
Stützpfeiler gelehnt. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine
Lippen.
»Hört mal zu, ihr«, rief er nun dazwischen. »Das
ist mein Cousin Felix. Felix, darf ich dir vorstellen: die
anderen.«
»Das ist Steven …«, fing ich an und zeigte auf
ihn.
Jetzt hob Christopher eine Hand. »Moment, ich
glaube, es ist besser, wenn ihr anonym bleibt«, unterbrach er mich.
»Zumindest so weit es geht, da wir ja auch Promis und Berühmtheiten
unter uns haben.«
»Erwarten Sie bloß nicht, Miss Howard und Miss
Collins«, schaltete Felix sich ein, »dass ich Sie irgendwie anders
behandeln werde, nur weil Sie berühmt sind. Für mich sind Sie
nichts anderes als zwei ganz normale attraktive Damen. Ich kenne
bereits ein paar Berühmtheiten - einige meiner besten Freunde sind
Promis, aber ich kann natürlich keine Namen nennen. Dazu bin ich
viel zu cool. Und ich weiß ganz genau, wie sehr es sie aufregt,
wenn man ein großes Getue um ihre Berühmtheit macht. Also machen
Sie sich keine Gedanken. Mich lässt diese Promikiste völlig
kalt.«
Lulu und ich tauschten nervöse Blicke. Dann sagte
ich das
Einzige, was mir unter diesen Umständen einfiel, nämlich: »Äh …
prima. Danke.«
Wenn ich ehrlich bin, sagten die Leute die ganze
Zeit ganz ähnliche Sachen zu mir. Jeder wollte für einen Menschen
gehalten werden, der sich nichts daraus machte, einen Promi zu
treffen. Sie alle beteuerten mir ständig, dass sie mich wie einen
»ganz normalen Menschen« behandeln würden.
Blöd war nur, dass sie mir genau dadurch das Gefühl
gaben, eben kein normaler Mensch zu sein.
Christopher, dem klar sein musste, dass sein Cousin
sich idiotisch benahm, hielt sich trotzdem raus und sah die meiste
Zeit über woandershin, als ginge ihn die ganze Sache nichts an und
als wollte er sich in seine eigene kleine Welt flüchten. Doch
schließlich fragte er: »Nikki, hast du denn nun diese Daten, um die
wir dich gebeten haben?«
»Oh.« Ich war ein wenig überrumpelt. Christopher
war ja einer der wenigen gewesen, der mich immer ganz normal und
nicht wie eine Berühmtheit behandelt hatte. Er ging sogar bisweilen
so weit, dass er mich noch nicht einmal wie einen Menschen
behandelte. »Klar …«
Ich war mir noch nicht so ganz sicher, wie ich mich
angesichts dessen fühlte, dass ich drauf und dran war, Stark an
Christopher und Felix zu verraten. Einerseits glaubte ich nicht
ernsthaft, dass ihr Plan aufgehen würde. Ich meine, wir hatten es
hier immerhin mit Stark zu tun, Christopher zufolge einer der
größten Konzerne der Welt. Sollten zwei Teenager echt in der Lage
sein, mit einer lächerlichen Hackerattacke diesen Konzern in den
Ruin zu treiben?
Also ehrlich, natürlich nicht.
Aber man würde sie garantiert dabei erwischen.
Einer von den beiden trug ja immerhin schon eine Fußfessel, und so
wie es aussah … na ja, er lebte in einem Keller, spielte
Videospiele
und stopfte den ganzen Tag lang Brownies in sich rein, die seine
Mutter ihm vorsetzte. Oberflächlich betrachtet erschien das
sicherlich wie das perfekte Leben für ein Kind. In der Realität war
es aber ziemlich schauderhaft, wo er doch ganz offensichtlich schon
so gestört war, dass er vorgab, Beziehungen zu Berühmtheiten zu
haben, und sich selbst in seiner Großartigkeit voll überschätzte.
War das wirklich die Zukunft, die ich mir für Christopher
erhoffte?
Nein, natürlich nicht.
Doch wenn es wirklich so weit kommen würde, wäre
ich dann am Morgen in die Schule gegangen, um ihn den ganzen Weg
nach Brooklyn zum Haus seines Cousins zu schleifen?
In dem Punkt war ich mir nicht so ganz sicher. Aber
ich musste irgendetwas unternehmen. Denn die Tage, an denen ich mit
einem Wanzendetektor in der Tasche durch die Gegend lief, waren für
mich ein für alle Mal vorbei.
»Dr. Louise Higgins«, hörte ich mich jetzt selbst
sagen. »So lautet ihr Benutzername.«