SECHS
Okay, unsere Lage sah also alles andere als rosig aus. Aber es hätte auch schlimmer sein können. Klar würde Nikki Howards Bruder bei uns einziehen, und ihre Mom war offensichtlich wie vom Erdboden verschluckt und ich hatte mich bereit erklärt, mich auf die Suche nach ihr zu machen.
Aber wenigstens hatte Nikki einen Bruder und eine Mutter, während ich sie noch vor wenigen Stunden für eine geschwisterlose Vollwaise gehalten hatte. Na ja, zumindest so gut wie. Irgendeine Familie war doch immer besser als gar keine, oder etwa nicht?
Klar war es irgendwie nervig, dass meine Mitbewohnerin alle fünf Sekunden fragte: »Glaubst du, dass er mich mag?«
Das war alles, was Lulu noch im Kopf hatte.
Und sie stellte diese Frage wieder und wieder.
Und wieder.
Ich hab noch nie erlebt, dass Lulu wegen eines Jungen so aus dem Häuschen geriet. Aber ich muss zugeben, so lange kannte ich sie auch noch nicht.
Doch selbst wenn ich sie überhaupt nicht gekannt hätte, hätte ich doch sagen können: Sie war (gelinde gesagt) total scharf auf Nikki Howards großen Bruder.
Was allerdings irgendwo auch traurig war, denn ich war mir ziemlich sicher, dass diese Zuneigung nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
In Wirklichkeit bin ich sogar so gut wie überzeugt, dass gerade das der Grund war, weshalb Lulu Steven so sehr mochte. Denn er war der erste Kerl, der nicht auf sie stand und dabei nicht hundertprozentig beziehungsweise ganz offensichtlich schwul war. (Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass Steven Howard nicht schwul ist, kann man sich doch nie ganz sicher sein, ganz besonders nicht bei Typen, die beim Militär sind, mit ihrer Über-so-etwas-spricht-man-nicht-Attitüde).
»Er muss mich doch ein ganz klein wenig mögen«, seufzte Lulu gerade, die, noch immer in ihrem seidenen Pyjama, auf meinem Bett lag. »Ich meine, ich bin doch ganz niedlich, oder?«
»Du bist verdammt niedlich«, versicherte ich ihr und zwang meine Füße in ein Paar Fake-Ugg-Boots der Marke Stark. Ich hätte nie gedacht, dass ich je diese Art Schuhe tragen würde, nicht einmal über meine Leiche -ha, ha-, denn jedes Mädchen an der Tribeca Highschool, das ich kannte, besaß ein Paar Uggs, meine Schwester eingeschlossen. Ich hätte sie auch unter keinen Umständen freiwillig getragen, wenn mich mein Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet hätte. Ugg-Imitate von Stark waren gerade der letzte Schrei … und nur halb so teuer wie die Originale. Obwohl sie tatsächlich, ob man’s glaubt oder nicht, die bequemsten Schuhe waren, die man tragen konnte, wenn man aufgeschürfte Zehen hatte, weil man noch am Abend zuvor an einer scharfkantigen Klippe hing. Und selbst dann noch sind sie total komfortabel, wenn man bereits eine Stunde lang darin durch die Wohnung gestapft ist, während man verzweifelt versucht hat, seinem Mobilfunkanbieter zu verklickern, dass man ganz dringend eine Auflistung aller auf dem Handy eingegangenen - nicht der getätigten - Anrufe benötigt, und zwar für die letzten zwei Monate.
»Ich bin niedlich«, sagte Lulu voller Überzeugung, während sie Cosabella über die Ohren strich und damit meine Gedankengänge unterbrach. »Ich bin verdammt niedlich! Er kennt mich ganz einfach noch nicht gut genug. Denn alle Typen, die mich näher kennenlernen, sind sich einig - Lulu Collins ist niedlich! Und überhaupt, Steven ist ja völlig durch den Wind, weil du ihn all die Jahre so mies behandelt hast. Also bitte, ist doch kein Wunder, dass er total am Boden und abartig launisch ist.«
»Hey«, sagte ich mahnend und warf ihr einen verletzten Blick zu. Ich fühlte mich sowieso schon schuldig, weil ich meinen eigenen Bruder nicht erkannt hatte. Na ja, Nikkis Bruder. Und jetzt musste ich dem Verschwinden seiner Mutter auf den Grund gehen, und wenn es das Letzte war, was ich tat. Allerdings wusste ich noch nicht so recht, wie ich das anstellen sollte.
»Ach, klar«, meinte Lulu. »Ich vergaß. Das war ja dein früheres Ich, das gemein zu Steven gewesen ist. Entschuldige bitte. Aber trotzdem. Wie konntest du ihn bloß so behandeln? Der Typ ist hammermäßig scharf. Ich habe noch nie einen so tollen Typen getroffen. Hast du diese Arme gesehen? Wahnsinn«, laberte Lulu weiter. Sie stopfte sich eins meiner Kissen unter den Kopf, während sie verträumt an die Decke starrte. »Er sah so stark aus, dass er mich wahrscheinlich sogar mit nur einer Hand hochheben könnte. Ist dir das aufgefallen?«
»Äh«, stammelte ich und warf mir eine maßgeschneiderte Lederjacke über. Dann schnippte ich mit den Fingern, um Cosabella zu mir zu locken. »Er ist mein Bruder, Lulu. Ich hab mir seine Arme nicht so genau angeschaut. Weil, äh. Hör zu, wenn irgendjemand anruft, ich bin nur für eine Stunde mit Cosy spazieren. Ich bin bald wieder zurück. Okay?«
»Mrs Captain Steven Howard«, hauchte Lulu gerade und stierte immer noch völlig verzückt an die Decke. »Nein - Mrs Major Steven Howard!«
Lulu hatte nun offenbar vollends den Verstand verloren. Eigentlich war es ja traurig, was eine Uniform mit einem Mädchen so anrichten konnte. Ich hoffte nur, dass sie wieder ganz die Alte war, sobald ich nach Hause zurückkam. Oder dass sie sich dann wenigstens schon die Zähne geputzt hatte.
In der Zwischenzeit aber hatte ich ein paar dringende Dinge zu erledigen. Ich verließ mein Zimmer, warf mir einen Schal über, zog Handschuhe sowie eine Wollmütze an und setzte eine Sonnenbrille auf. (Und das, obwohl es draußen immer noch grau und trostlos war. Doch ich wollte nicht, dass irgendjemand mich erkannte. Bevor ich mit dem Körper einer Berühmtheit herumlief, war mir nicht bewusst gewesen, was die alles durchmachen mussten, wenn sie beispielsweise von Leuten gepackt wurden, die sie dann drängten, etwas in ihr Handy zu sprechen, damit die Freunde in Pasadena das hörten, nur so als Beweis, dass sie wirklich einen Promi getroffen hatten - kotz.) Dann schnappte ich mir Cosys Leine, ihr Hundemäntelchen (denn Hunde werden genau wie wir nass und frieren dann; Cosabella zittert immer wie ein Mensch, wenn ihr kalt ist) und die Tasche mit den Geschenken für meine Familie. Endlich verließ ich das Gebäude und fuhr quer durch die Stadt zum Washington Square Park.
Eigentlich sollte ich nicht dorthin gehen. Wenn ich ehrlich bin, so hatten meine »Aufpasser« bei Stark mir nach einem ersten Besuch in meinem neuen Körper bei meinen Eltern zu Hause (bei dem ich auch Lulu mitgeschleift hatte) unterschwellig immer wieder zu verstehen gegeben, dass ich das besser lassen sollte. Es war nicht gerade schwer nachzuvollziehen, woher sie wussten, dass wir da gewesen waren. Nicht nachdem ich die Löcher in der Decke des Lofts entdeckt hatte. Ich musste um jeden Preis verhindern, dass irgendjemand mit irgendwelchen Elektronikprodukten der Marke Stark zu uns nach Hause kam, selbst dann, wenn es sich um Werbegeschenke handelte.
Doch ich konnte nichts dagegen tun, dass man mich rund um die Uhr verfolgte. Zumindest gegen die Paparazzi war ich wehrlos. (Wenn auch heute kein Einziger zu sehen war. Das Wetter draußen war wirklich abartig. Der Himmel spuckte kleine Eiskristalltropfen aus, die mir überall auf der nackten Haut stechende Schmerzen bereiteten, und die Temperatur musste knapp unter dem Gefrierpunkt liegen. Jeder vernünftige Mensch blieb heute drinnen im Warmen und Trockenen.)
Andererseits … wer hat eigentlich je behauptet, Paparazzi seien vernünftig?
Ich war nicht der Ansicht, dass ich paranoid war, weil ich das Gefühl hatte, man spionierte mir nach. Überall tauchten plötzlich Fotos auf, die mich zeigten, wie ich die harmlosesten Dinge tat: zum Beispiel Klopapier kaufen um elf Uhr nachts im Laden um die Ecke. Am nächsten Tag fand sich dann garantiert ein Bild von mir in der Klatschspalte, auf dem ich total verquollen und drogenabhängig aussah. (Weil das Ganze nach einem Fotoshooting aufgenommen und ich völlig erledigt war und kein Make-up trug und es elf Uhr nachts war und ich gerade Klopapier kaufte, und zwar das Klopapier, an das Lulu eigentlich hätte denken sollen, was sie aber vergessen hatte, danke schön.) Die Story zu dem Foto las sich folgendermaßen: Was hat Nikki Howard denn da für Drogen geraucht? Davon hätten wir auch gern was! Aber ich hatte selbstverständlich nichts geraucht, und schon gar keine Drogen, weil ich nämlich grundsätzlich nicht rauche.
Wie hatten die bloß dieses Foto schießen können? Ich hatte überhaupt keinen Blitz bemerkt. Es war niemand in dem Laden gewesen außer mir und natürlich dem Verkäufer. Das Ganze war mir total unheimlich, jawohl.
Ehe ich es mich versah, tauchte dieses extrem unschmeichelhafte Foto, auf dem ich tatsächlich irgendwie high oder stoned aussah, auf allen erdenklichen Klatschseiten im Internet auf, und die Bildunterschriften fielen zum Teil sogar noch weniger charmant aus als: Was hat Nikki Howard denn da geraucht?
Und dann hatte meine Mutter angerufen und wollte wissen, ob wir uns mal über mein Drogenproblem »unterhalten« sollten. Meine Mutter! Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Gabriel Luna, der topangesagte britische Latino-Herzensbrecher und sensationelles Gesangstalent, mit dem ich ständig in einen Topf geworfen wurde, weil seine Musik auf dem Stark-Label erschien, und der mich ständig in den Clubs, in denen ich mich mit Lulu und Brandon herumtrieb, ausfindig zu machen schien - dass also ausgerechnet Gabriel Luna der Presse glaubte und dachte, dass ich von chemischen Drogen abhängig sei. (Obwohl ich in den Clubs nichts Hochprozentigeres als Wasser zu mir nahm, und obwohl man in Gabriels Fall natürlich auch anführen musste, dass er wusste, dass ich einige Monate zuvor im Krankenhaus gewesen war, auch wenn er den Grund nicht kannte.) Aber meine eigene Mutter?
Na toll. Jemand spionierte mir also hinterher, so viel war sicher. Woher wollte ich eigentlich wissen, dass derjenige mich nicht gerade in diesem Moment beobachtete, wie ich an der Kreuzung Houston Ecke Broadway stand und laut vor mich hinfluchte, weil ich keinen Schirm gegen den Schneeregen mitgenommen hatte? Andererseits, wenn ich einen mitgebracht hätte, dann hätte ich wahrscheinlich Schwierigkeiten gehabt, gleichzeitig ihn und Cosys Leine und meine riesige Tasche voller Geschenke und Nikki Howards Handy zu jonglieren, das natürlich just in diesem Moment anfing zu klingeln. Ich wühlte wie blöd in meiner Tasche, um es zu finden, bevor es auf die Mailbox umsprang. Ich befürchtete nämlich, es könnte Nikkis Mom sein, und ich könnte sie verpassen, und dann hätte ich noch mehr Grund, mich schuldig zu fühlen.
»Hallo?«, meldete ich mich total außer Atem.
Doch es war nicht Nikkis Mutter, sondern Nikkis Agentin Rebecca. Allerdings, wenn man mich fragt, war sie ganz genau wie eine Mom. Wie eine Mom, die pausenlos qualmt, auf zehn Zentimeter hohen Absätzen durch die Gegend stöckelt und die ganze Zeit in ein Headset spricht und Dinge sagt wie: »Zehntausend? Die haben sie doch wohl nicht mehr alle.« Oder die einen die ganze Zeit mit Fragen löchert, ob man auch an seinen Termin gedacht habe für die elektrolytische Enthaarung der Bikinizone. (Ja okay, ich geb’s ja zu. Nikki hat da unten keine Haare. Na gut, einen schmalen Streifen vielleicht. Wo wir schon von so abartigem Zeug reden. Aber immerhin bleibt es mir dann erspart, mich einem Waxing nach dem anderen von Katerina zu unterziehen.)
»Weshalb rufst du mich denn an einem Sonntag an?«, fragte ich sie, während sie gleichzeitig sagte: »Gott sei Dank, du bist da.«
Dann reagierte sie auf meine Frage: »Dir ist schon klar, dass ich sieben Tage die Woche arbeite«, erklärte sie mir mit ihrer verrauchten Stimme.
»Du sollst dir die Sonntage doch freinehmen«, ermahnte ich sie. »Selbst Gott hat sich am Sonntag freigenommen.«
»Tja, hätte er das nicht getan«, meinte Rebecca schnippisch, »dann wäre die Welt vielleicht nicht so ein verdammtes Chaos. Wie ist das Shooting auf Saint John gelaufen?«
»Ganz gut«, meinte ich. »Wenn man mal davon absieht, dass ich mir fast komplett die Haut an den Fingern und an den Zehen abgeschürft hätte, als ich mich an der Steilklippe festkrallen musste. Ach ja, und dass Brandon Stark noch einen weiteren Tag bleiben und mit mir Jetski fahren wollte. Da steigen jemandem wohl langsam das ganze Geld und der ganze Ruhm zu Kopf.«
Ich hatte die Houston Street überquert und passierte nun den Stark Megastore, wo mir ironischerweise all das zugestoßen war, was mein Leben so derart aus der Bahn geworfen hatte.
»Brandon Stark ist ganze dreißig Millionen Dollar wert.« Rebecca klang, als würde sie tief inhalieren. »Mindestens. Eine Milliarde, wenn sein Vater krepiert. Vielleicht auch mehr. Dass du mit ihm Schluss gemacht hast, war ein kapitaler Fehler.«
»Ich werde es mir merken.« Ich nehme das zurück, dass Rebecca wie eine Mom ist. Keine Mom der Welt würde jemals solche Ratschläge erteilen. Dabei fiel mir plötzlich wieder mein aktuelles Problem ein: »Rebecca, hast du irgendetwas gehört von Nikkis - äh, ich meine, von meiner Mom?«
»Warum hätte ich denn irgendetwas von dieser Frau hören sollen?«, erkundigte sich Rebecca spitz. Sie sprach »diese Frau« so aus, als wäre Nikkis Mom jemand, den sie nicht so recht leiden konnte.
»Weil«, fing ich an und stockte. »Anscheinend ist sie verschwunden. Seit drei Monaten hat keiner etwas von ihr gehört, und die Leute in, äh, Gasper machen sich langsam Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.«
»Na ja«, sagte Rebecca. »Deine Mutter war noch nie eine große Leuchte. Wahrscheinlich ist sie hoch nach Atlantic City ins Spielcasino gefahren und hat sich total verfranzt.«
»Oh«, meinte ich. »Gut zu wissen.« Aus irgendeinem Grund wollte ich Nikkis Bruder nicht erwähnen. Ich hab keine Ahnung, weshalb. Ich wollte es einfach nicht.
Doch es machte auch keinen Unterschied, schätze ich, weil Rebecca nämlich längst zu einem anderen Thema übergegangen war.
»Weshalb ich anrufe«, sagte sie gerade. »Hör zu. Sitzt du bequem?«
»Nein. Ich gehe mit Cosabella Gassi.« Ich verriet ihr natürlich nicht, dass ich mich gerade auf dem Weg zu meiner Familie befand. Das ist wirklich das Letzte, was ich Rebecca gegenüber erwähnen würde. Denn sie weiß von meiner richtigen Familie nichts. Geschweige denn von meinem wirklichen Ich.
»Also, ich habe gerade einen Anruf von Robert Stark persönlich erhalten. Die landesweit im Fernsehen übertragene Stark-Angels-Neujahrs-Fashionshow wird in den neu eröffneten Stark-Tonstudios im Stadtzentrum gedreht, und zwar live am Silvesterabend. Und sie wollen dich als den Engel, der den zehn Millionen Dollar teuren Diamant-BH trägt. Der hat nämlich genau deine Größe. Giselle hat abgelehnt wegen irgendwelcher Vertragsstreitigkeiten. Könntest du dir eventuell noch die Haare färben? Nikki? Nik?«
Vor Schreck stolperte ich über einen Gulli mitten auf dem Bürgersteig und ließ beinahe mein Handy fallen. Ein Paar, das an mir vorbeieilte, scheinbar ebenso scharf darauf wie ich, dem Regen zu entkommen, schenkte mir kaum Beachtung, obwohl mein Bild in sämtlichen Schaufenstern des Kaufhauses direkt neben uns zu sehen war, und zwar vergrößert auf ungefähr drei Meter. Nikki Howard in einem Trenchcoat, Nikki Howard im Bikini, Nikki Howard im Abendkleid, Nikki Howard in einem Sommerkleid, Nikki Howard auf Skiern, Nikki Howard in Reithosen, Nikki Howard in einem Kimono, Nikki Howard in einem BH der Marke Stark Angels mit passendem Höschen. Die Sonnenbrille und die Strickmütze waren also die perfekte Verkleidung.
»Oh nein«, keuchte ich ins Telefon. Mein Herz raste, so als liefe es plötzlich auf Hochtouren. Ich hatte das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Der Schreck war mir durch Mark und Bein gefahren.
Denn die Unterwäsche von Stark Angels war ohne Scheiß das Schlimmste vom Schlimmen. Es war der verzweifelte Versuch von Stark Enterprises, mit Victoria’s Secret um die Wäscheschubladen amerikanischer Frauen zu konkurrieren. Nur dass die BHs und die Höschen von Stark ungefähr zwanzig Prozent weniger kosteten, dafür aber mindestens fünfzig Prozent mehr kratzten und pieksten. Und die Engel waren der reinste Abklatsch der Engel von Victoria’s Secret. Nur dass ihre Flügel viel kleiner waren und billiger aussahen. Das Einzige, was teurer war als bei Victoria’s Secret, war der Diamant-Luxus-BH von Stark - der war nämlich zehn Millionen wert statt der lächerlichen eine Million Dollar, die der BH von Victoria’s Secret kostete.
»Oh nein?« Rebecca klang ernsthaft schockiert, als sie meinen Ausruf wiederholte. »Was meinst du damit: oh nein!«
»Ich meine damit«, versuchte ich, sie mit fester Stimme zu überzeugen, »dass ich ja jeden Tag in die Schule muss.« Ich zerrte Cosabella weg von irgendeiner weggeworfenen Brezel, die kalt und gefroren auf dem Bürgersteig lag, die Cosy aber unbedingt untersuchen und dann aufessen zu wollen schien. Dabei fütterte ich sie daheim immer extrem gut! »Ich zeig mich mit Sicherheit nicht live an Silvester im landesweiten Fernsehen mit nichts als einem Paar Flügeln und einem Balconnet-BH bekleidet … auch wenn er aus Diamanten gemacht ist!«
»Du würdest selbstverständlich auch das passende Höschen tragen«, fügte Rebecca hinzu. Sie klang überrascht, dass mir das offensichtlich entgangen war.
»Ach so, okay, dann ist das natürlich etwas ganz anderes«, erwiderte ich sarkastisch.
»Das ist doch alles ganz dezent«, meinte Rebecca beleidigt. »Du würdest auch nicht viel mehr zeigen als bei dem Bademoden-Shooting vergangene Woche für die Sports Illustrated
»Aber hier geht es um Unterwäsche!«, jaulte ich. »Noch schlimmer, es geht um Unterwäsche von Stark!«
»Na, du redest ja echt gut über deinen Arbeitgeber«, erklärte Rebecca bissig.
Wenn sie nur von dem angezapften Telefon wüsste. Und von der Spionagesoftware auf meinem PC der Marke Stark. Und von den versteckten Abhörgeräten in meinem Loft (wenn es denn solche waren). Ach ja, und von der Gehirntransplantation. Die mir ja immerhin das Leben gerettet hat, aber trotzdem.
»Und außerdem waren das bloß Fotos«, fuhr ich fort. »Hier geht es ums Fernsehen.«
»Alles läuft zeitversetzt mit einer Verzögerung von sieben Sekunden«, verkündete Rebecca. »Wenn also irgendetwas - du weißt schon - rausrutschen sollte, dann kannst du es schnell noch zurechtschieben, bevor … du weißt schon.«
»Das macht mir wirklich Mut«, gab ich trocken zurück.
»Nikki, Schätzchen«, seufzte Rebecca und atmete hörbar aus. »Ich habe dich eigentlich nicht um dein Einverständnis gebeten. Robert Stark hat nur angerufen, um mir mitzuteilen, dass die Sache fix ist. Du machst das. Ich hatte erwartet, du wärst total begeistert. Hey, du bist der Oberengel der Show. Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet?«
Ja, logo, das war mir schon klar. Das war mir ja so was von klar.
»Ich muss auflegen«, sagte ich zu Rebecca. Ich hatte mich also getäuscht, als ich dachte, alles würde wieder in Ordnung kommen.
»Sekunde«, rief Rebecca. »Willst du denn gar nicht wissen, wie viel die dir dafür bezahlen? Du wirst nämlich nie im Leben glauben, was ich für dich ausgehandelt habe.«
Doch ich hatte längst aufgelegt. Es spielte keine Rolle. Wie viel auch immer es war, es würde nie genug sein. Es könnte niemals aufwiegen, dass ich mich öffentlich vor aller Leute Augen blamierte. Und ganz besonders vor Christopher.
Okay, der würde zugegebenermaßen nicht einmal wissen, dass ich es war, seine gute alte Freundin Em Watts.
Aber wir haben uns die Stark-Angel-Modenschau bisher jedes Jahr zusammen angeschaut und uns gnadenlos darüber lustig gemacht, insbesondere über die gehirnamputierten Engel und darüber, dass man unzählige hungernde Afrikaner hätte retten können für das ganze Geld, das sie für die Herstellung des dämlichen Diamant-BHs ausgegeben hatten.
Und jetzt würde ich dieser gehirnamputierte Engel sein, der den BH trug.
Toll. Echt toll.
Vielleicht kann ich ja meine Gage wenigstens den Afrikanern spenden.
Allerdings werde ich die Kohle wahrscheinlich selbst bitter benötigen. Für eine Therapie nämlich.