ELF
Christopher war ausnahmsweise sogar mal richtig
wach und begrüßte mich mit einem Lächeln. »Wie geht’s?«, meinte
er.
»Och«, setzte ich an und dachte bei mir: Lächle
jetzt bloß nicht zurück, Em Watts, so gern du das auch tun würdest.
Klar bist du unglaublich scharf auf ihn und sein Lächeln bringt
dich total aus der Fassung, aber lass es! Er führt nichts Gutes im
Schilde! Und selbst wenn das anders wäre, er steht einfach nicht
auf dich! Na gut, tut er schon, aber nicht auf dein wirkliches Ich.
Sondern auf dein totes Ich.
Und das ist einfach nicht richtig. Genauso
falsch wie das, was er und sein Cousin vorhaben. Okay?
Doch bevor ich noch irgendetwas zu Christopher
sagen konnte, lehnte sich schon Whitney Robertson, die am Tisch
neben ihm saß, zu mir vor und flüsterte: »Oh mein Gott, ist das Top
da von Temperley? Das ist ja total süß.«
»Wie war dein Wochenende?« Jetzt hatte sich auch
noch ein Mädchen aus Whitneys Gefolgschaft neugierig vorgebeugt,
Lindsey Jacobs, die in der Reihe neben ihr saß. »Ich hab im
Internet gelesen, dass du mit Brandon Stark auf Saint John
warst.«
Es gab bereits Fotos von unserer Reise im Internet?
Na toll.
Wenn da welche dabei waren, auf denen ich wild mit Brandon
rumknutsche, dann bring ich jemanden um, aber echt.
»Das muss ja unglaublich gewesen sein!«, fuhr
Lindsey fort. »Ich würde alles geben, wenn ich ein paar Tage hier
rauskönnte, so beschissen wie das Wetter ist. Und dann auch noch
mit Brandon Stark! Der ist ja so süß. Wie hast du es bloß
geschafft, überhaupt wieder zurückzukommen? Ich hätte mich lieber
umgebracht.«
Sie hatte ja keine Ahnung.
»Ladys.« Mr Greer schlug einen höhnischen Ton an.
»Es tut mir ja so leid, Sie unterbrechen zu müssen. Doch einige von
Ihnen erinnern sich vielleicht noch, dass wir bereits die letzte
Woche im Schulhalbjahr haben und wir uns noch vor den
Weihnachtsferien die letzten mündlichen Vorträge anhören wollen,
die, wie Sie alle wissen, ein Viertel Ihrer Gesamtnote
ausmachen.«
Ich stöhnte innerlich auf. Darauf war ich absolut
nicht vorbereitet. Schon bald wäre ich an der Reihe mit meinem
Vortrag, und ich hatte mich noch keine Sekunde damit beschäftigt,
weil bisher einfach nicht die Zeit dafür gewesen war. Als ich
gestern Abend von Christopher nach Hause kam, hatte ich völlig
überraschend Lulu angetroffen, die sich um diese Zeit normalerweise
mit ihren Freunden auf irgendwelchen Partys rumtrieb. Jetzt aber
stand sie in der Küche und kochte ausgerechnet Coq au vin.
Da ich sie noch nie etwas Komplizierteres als
Mikrowellen-Popcorn hatte zubereiten sehen, dachte ich erst, dass
sie eine Art Schlaganfall gehabt haben musste. Fast hätte ich schon
den Notarzt gerufen.
Doch ihr war nichts dergleichen widerfahren. Lulu
kochte einfach nur für Nikkis Bruder Steven. Ihn hatte sie in der
Zwischenzeit losgeschickt, um »ein richtig schön knuspriges
französisches Baguette« zu besorgen. Das wollten sie zu der
Mahlzeit dazu essen, die sie so liebevoll zubereitete.
»Dein Bruder soll denken, ich könnte kochen«,
informierte Lulu mich, als ich sie fragte, was zum Teufel sie da
tue. »Nein, warte, vielleicht doch nicht. Moment, was findest du
denn süßer: ein Mädchen, das lügt und nur versucht, für einen
Jungen zu kochen, oder ein Mädchen, das wirklich kochen
kann?«
Ich hatte ihr einen gelangweilten Blick zugeworfen
und entgegnet: »Lulu, ich sag dir, was überhaupt nicht süß ist. Und
zwar du, in diesem Augenblick. Das ist doch so was von lächerlich.
Wenn du willst, dass Steven dich mag, warum bist du dann zur
Abwechslung nicht einfach mal du selbst? Das hast du mir doch immer
gepredigt. Dass ich einfach ich selbst sein soll.« Nicht dass das
jemals funktioniert hätte. Na ja, gut, es hatte natürlich schon
funktioniert. Nur nicht bei Christopher.
Ich hätte mich nach dem Abendessen an meine
Hausaufgaben setzen können, aber irgendwie landete ich dann am Ende
doch zwischen Steven und Lulu auf der Couch. Er erzählte ihr
(nachdem sie ihn dazu genötigt hatte) von seinem Job als Funker in
dem U-Boot, auf dem er diente.
Als ich mich dann davonschleichen wollte, um zu
arbeiten, war Lulu mir wie eine Klette gefolgt, offensichtlich
scharf darauf, ein kurzes Mädchengespräch mit mir zu führen. Doch
alles, was sie tat, war, mir wieder und wieder die folgende Frage
zu stellen: »Jetzt sag doch mal: Denkst du, dass er mich
mag?«
»Lulu«, erklärte ich mahnend. »Du hast ihn doch
gerade erst kennengelernt. Wie kannst du jetzt schon so sehr an ihm
hängen?«
Lulu stieß einen tiefen Seufzer aus und kuschelte
sich neben mir ins Kissen. »Weil er einfach so … unglaublich
ist.«
Das einzig Unglaubliche an Nikkis Bruder war bisher
gewesen,
dass er sich freiwillig bereit erklärt hatte, die großen Töpfe
sauber zu machen, die Lulu für ihr Coq au vin benutzt hatte.
Diejenigen, die nicht in die Spülmaschine passten und die Lulu
einfach stehen gelassen hätte, damit Katerina sie am nächsten
Morgen schrubben konnte.
Doch, ich musste zugeben: Für einen Kerl war das
schon ziemlich unglaublich!
Trotzdem, wenn ich dieses Mädchengespräch nicht
geführt und die Zeit für meine Hausaufgaben genutzt hätte, statt
mir anzuhören, wie unglaublich Steven Howard war, dann wäre mir
wahrscheinlich jetzt beim Anblick von Mr Greer, der die
Anwesenheitsliste durchging, nicht so dermaßen schlecht
gewesen.
»Dann lassen Sie uns gleich mal anfangen«,
verkündete Mr Greer. »Ich würde gerne drannehmen …«
Bitte nicht mich, flehte ich innerlich.
Nicht mich, nicht mich, nicht mich, und ich schwöre, dass ich den
Rest der Woche jeden Abend zu Hause bleibe und bis Mitternacht
pauke …
»… Christopher Maloney.«
Christopher stand auf und ging zur Tafel vor. Zu
meinem Leidwesen bemerkte ich, dass ich nicht das einzige Mädchen
war, das ihm hinterherschaute.
Christopher hatte in den vergangenen Wochen seinen
Stil total verändert und trug nun auch drinnen seine neue schwarze
Lederjacke, während er früher adrette Polohemden getragen hatte,
mit denen er aussah wie all die anderen Jason Kleins der Schule.
Jason Klein war übrigens der Freund von Whitney und selbst
ernannter König des Clans der »Lebenden Toten«. Natürlich glotzte
auch McKayla Donofrio ihn an. (Ich schwöre, ich hätte ihr fast noch
ihren Perlmutthaarreifen vom Kopf gerissen, und es wäre mir egal
gewesen, wie viele
Haare ich dabei mitgenommen hätte.) Aber sogar Whitney und Lindsey
zogen beide ihre Augenbrauen hoch … und zwar nicht, weil sie sich
wie früher über ihn lustig machen wollten, sondern weil seine
perfekt sitzende Jeans wirklich rein gar nichts mehr der Fantasie
überließ.
»Und…«, sagte Mr Greer, als Christopher vor der
Klasse angelangt war und ein Zeichen gab, dass er bereit war. Mr
Greer stoppte bei all unseren Vorträgen die Zeit mit einer Eieruhr.
An der Tribeca Highschool, der angeblich besten Privatschule ganz
Manhattans, kamen wir natürlich in den Genuss der allerneusten
Hightech-Ausstattung. »… LOS!«
»Stark Enterprises«, legte Christopher sofort los,
»ist gegenwärtig der weltgrößte Konzern mit fast dreihundert
Milliarden Dollar Umsatz im Jahr und übertrifft damit selbst die
ganz großen Ölkonzerne.«
Moment mal. Was sagte er da? Das Thema von
Christophers dreiminütigem Vortrag war Stark
Enterprises?
Ich merkte, wie ich in mir zusammensackte.
So wie sich das anhörte, würde es nicht gerade eine
Lobrede werden. Klar, ich hätte auch nichts Gutes über Stark sagen
können. Allerdings war es schon irgendwie peinlich, dass ich, das
»Gesicht von Stark«, hier im Klassenzimmer saß und zuhören musste,
wie einer meiner Mitschüler sich über meinen Arbeitgeber ausließ.
Schon spürte ich, wie die Blicke aller sich nervös auf mich
richteten.
»Stark Enterprises«, fuhr Christopher fort, »hat
verlautbart, einen Profit von über sieben Milliarden Dollar
jährlich einzufahren. Dennoch verdient der durchschnittliche
Angestellte - mit über einer Million Angestellter ist Stark eines
der größten Unternehmen dieses Landes - nur ungefähr
fünfzehntausend Dollar brutto im Jahr bei einer Vollzeitanstellung.
Kaum genug also, um in einem amerikanischen Durchschnittshaushalt
einigermaßen über die Runden zu kommen. Die Mitarbeiter von Stark
kommen außerdem erst nach zwei Jahren Anstellung in den Genuss
einer Krankenversicherung, dann aber auch nur zu solch hohen
Prämien, dass sie oftmals zusätzlich auf staatliche Beihilfen
angewiesen sind. Viele der Vollzeitbeschäftigten bei Stark, denen
es im Übrigen untersagt ist, sich einer Gewerkschaft anzuschließen,
sind letzten Endes also darauf angewiesen, dass Medicaid für ihre
Krankenversorgung aufkommt. Dagegen erscheint Robert Stark, CEO und
Vorstandsvorsitzender von Stark, regelmäßig auf der Forbes-Liste
der reichsten Leute der Welt, für gewöhnlich sogar unter den ersten
zehn. Er hat ein Privatvermögen von schätzungsweise vierzig
Milliarden Dollar.«
Bei diesen Worten tuschelten plötzlich einige
Mitschüler. Unter anderem Lindsey und Whitney, die sich flüsternd
darüber unterhielten, dass Brandon Stark ja offensichtlich noch
reicher war, als sie gedacht hatten. Ich wusste schon genau, was
(von ihnen) als Nächstes kommen würde: Sie würden von mir wissen
wollen, ob ich ihnen Brandons Handynummer besorgen konnte.
»Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre«, sprach
Christopher nun weiter, »ist wieder und wieder gezeigt worden, dass
die Stark Megastores zwar oberflächlich betrachtet dem Verbraucher
Konsumgüter zu niedrigen Preisen bieten - und Stark Enterprises
genießt erhebliche steuerliche Vorteile dafür, dass sie in
möglichst vielen Städten ihre Kaufhäuser errichten -, dass dieser
Verbrauchervorteil allerdings auch seinen Preis fordert. Dieser
Preis ist, dass den Gemeinden, in denen diese Megastores aus dem
Boden schießen, ein irreparabler Schaden entsteht, indem kleinere
örtliche Familienunternehmen von der Bildfläche verschwinden. Denn
diese Kleinunternehmer genießen keine Steuervorteile. Sie können
ihre Waren also nicht so günstig anbieten, außerdem können sie
diese auch nicht zu Dumpingpreisen exklusiv in China herstellen
lassen wie Stark, mit dessen Niedrigpreisen sie es unmöglich
aufnehmen können. Ganze Gemeinden verwandeln sich wegen dieser
Megastores in wahre Geisterstädte, da die kleineren Läden nach und
nach gezwungen sind, zu schließen. Und wer leidet darunter wiederum
am meisten? Das sind wir, die kleinen Steuerzahler, denn im Zuge
dieser Entwicklung müssen die Bundesstaaten und Städte wiederum
teure innerstädtische Wiederbelebungsmaßnahmen finanzieren, die für
gewöhnlich schon von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. So
gut wie jeder kauft nämlich letzten Endes lieber bei Stark ein, wo
man stets einen Parkplatz findet.«
Ich blickte um mich, weil ich die Reaktionen der
anderen einfangen wollte. Normalerweise schlief so früh am Morgen
die halbe Klasse - Mr Greer eingeschlossen, der die schlechte
Angewohnheit hatte, während der mündlichen Vorträge seiner Schüler
in eine Art Dämmerzustand zu verfallen.
Doch seltsamerweise waren plötzlich alle hellwach
und hörten Christopher aufmerksam zu. Und das feuerte ihn in seiner
Wutrede natürlich nur noch mehr an.
»Stark senkt die Kosten immer weiter, indem mehr
und mehr Arbeitsschritte dem Outsourcing anheimfallen, sodass kaum
mehr etwas an den amerikanischen Arbeiter geht«, setzte er seinen
Vortrag fort. »Auch der Stark Quark, dieser Computer, den Stark im
neuen Jahr auf den Markt bringen will, bildet in dieser Hinsicht
keine Ausnahme. Keine einzige am Herstellungsprozess beteiligte
Person ist ein Beschäftigter dieses Landes. Und damit auch
garantiert jedes Kind und jeder junge Mensch in diesem Land sich
einen von diesen Computern zu Weihnachten wünscht, hat Stark dafür
gesorgt, dass Realm, die neueste Version des
Computer-Rollenspiels
Journeyquest, ausschließlich in einem Kombi-Deal mit dem
Quark erhältlich ist. Seit Wochen schon läuft für diesen PC eine
äußerst aggressive Marketingkampagne …«
Jetzt versank ich noch tiefer in meinem Stuhl.
Keinem hier konnte der Werbespot entgangen sein, der marketingmäßig
auf YouTube gelaufen war. In dem Filmchen sah man Nikki Howard in
einem Bikini von Stark in einem Pool, der wie ein Laptop geformt
war, auf einem Floß treiben. Dabei klapperte sie auf der Tastatur
eines Quark herum, der auf ihrem nackten Bauch ruhte. Der Quark ist
tatsächlich wasserdicht (na gut, zumindest spritzwassergeschützt -
man sollte ihn natürlich nicht direkt ins Wasser werfen, wie ich
erfuhr, als mir blöderweise genau das passierte) und man kriegt ihn
in einer ganzen Reihe verschiedener Trendfarben. Der Spot zeigte
Nikki in verschiedenfarbenen Bikinis, immer passend zur Farbe des
jeweiligen Laptops, und im Hintergrund lief ein
fröhlich-beschwingter Rocksong. Selbstverständlich wurden die
technischen Vorzüge des Computers mit keinem Wort erwähnt … nur
dass er hübsch sei.
Irgendwie wie Nikki Howard, wenn ich jetzt so
darüber nachdachte.
»Wenn wir verhindern wollen, dass Amerika einen
Niedergang erlebt wie das antike Rom, dann muss sich etwas ändern«,
erklärte Christopher gerade. Offensichtlich hatte er nicht
mitbekommen, dass sich plötzlich peinliche Stille breitmachte, weil
Lindsey gerade den Quark-Werbejingle vor sich hinsummte. »Im
fünften Jahrhundert hatte Rom sich in einer vergleichbaren
Situation befunden, als die Wirtschaft langsam zusammenzubrechen
begann, weil die Gesellschaft fast ausschließlich auf Importe
angewiesen war. Deshalb sollten wir wieder vermehrt darauf achten,
selbst die Produzenten von Gütern statt reiner Konsumenten zu sein.
Sonst werden
Leute wie Robert Stark auch weiterhin von unserer eigenen Faulheit
profitieren und abartig reich werden, weil wir es noch nicht einmal
schaffen, CDs in CD-Läden, Bücher in Buchhandlungen, Lebensmittel
bei Lebensmittelhändlern und Bekleidung in Bekleidungsgeschäften zu
kaufen. Denn es ist ja schließlich so viel einfacher, all diese
Dinge in einem einzigen Laden zu besorgen. Manche von uns sind
sogar so faul, dass sie lieber wertvolle fossile Brennstoffe
verschwenden, nur um ein paar Meilen weiter raus zu fahren und
alles in einem Kaufhaus zu kaufen. Noch dazu handelt es sich bei
dem Kaufhaus-Warenangebot meist um Produkte, die zu Dumpingpreisen
in Fernost hergestellt wurden - und in vielen Fällen von
unterirdischer Qualität sind. Wie viel besser wäre es, wenn die
Leute diese Sachen in ein paar kleineren Geschäften in der
Nachbarschaft besorgen würden, wo es noch Waren gibt, die in den
guten alten USA hergestellt wurden. Nehmen wir uns doch kurz die
Zeit und überlegen wir uns, was die bisherige Entwicklung für
Auswirkungen hat für die Gemeinden, in denen wir leben, ganz zu
schweigen, was das für den berühmten ›American Spirit‹ bedeutet -
nämlich das Aus. Denn nicht Fortschritt, sondern Niedergang - der
Mord am ›American Spirit‹ - ist das wahre Vermächtnis von
Stark.«
Es folgte ein Augenblick der Stille, in dem alle
sich durch den Kopf gehen ließen, was Christopher soeben gesagt
hatte. Währenddessen betrachtete er uns mit seinen ozeanblauen
Augen. Aber er betrachtete nicht einfach nur uns alle, wie
mir nach ein paar Sekunden klar wurde, sondern vielmehr mich: ja,
mich. Er sah mich ganz direkt an, und zwar so, als sähe er in mir
einen örtlichen Repräsentanten von Stark.
Was im Prinzip nicht ganz unrichtig war. Aber,
hallo, ich war doch nun wirklich die Allerletzte, die man
noch von der
Schlechtigkeit von Stark überzeugen musste. Nach dem, was die mir
angetan hatten.
Klar, zugegeben, sie hatten mir das Leben
gerettet.
Aber in fast allen wichtigen Belangen hatten sie
mich auch gezwungen, mein Leben völlig auf den Kopf zu stellen. Ich
konnte ja noch nicht einmal mehr meine Ferien bei meiner Familie
verbringen. Also bitte!
Okay, ja, ich war absolut Christophers Meinung, in
allem, was er über Stark gesagt hatte. Doch was erwartete er jetzt
eigentlich von mir? Was sollte ich denn bitte schön tun? Sollte ich
vielleicht kündigen, weil ich meinen Boss für den Teufel persönlich
hielt? Ja, klar. Völlig ausgeschlossen, ich konnte nicht
kündigen.
Allerdings konnte ich das jetzt unmöglich vor allen
laut sagen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich aufrechter
hinzusetzen, die Arme zu verschränken und herausfordernd
zurückzustarren. Blöderweise musste ich mir dafür jetzt wieder
diese unglaublichen Lippen ansehen … diese Lippen, von denen ich
gestern unsinnigerweise gedacht hatte, sie würden schon bald die
meinen berühren. Ich wollte das immer noch. Und zwar mehr als alles
andere.
Aus diesem Grund lächelte ich verbittert in mich
hinein, als plötzlich die Eieruhr auf Mr Greers Schreibtisch
losrasselte und ich zusammenfuhr. Genau genommen fuhren eigentlich
alle zusammen, bis auf Christopher, der mich immer noch mit einem
Blick ansah, so eiskalt wie ein Iced Mocha Latte.
Auf einmal fing jemand an zu klatschen - McKayla
Donofrio. Klar, wer sonst. Diese elendige Schleimerin. Der war wohl
nichts zu blöd, nur um Christophers Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken, oder? Ein paar Sekunden später klatschte schließlich die
halbe Klasse. Und zwar so, als würden die das
echt ernst meinen, nicht wie sie das sonst manchmal taten, nur um
jemanden zu verarschen, der irgendwas total Spackiges gemacht hat,
zum Beispiel mitten in der Cafeteria sein Tablett fallen
lassen.
Mr Greer verkündete: »Exzellente Arbeit,
Christopher. Wirklich ganz ausgezeichnet. Starke, überzeugende
Argumente. Ich glaube, du lagst noch bei etwas unter drei Minuten,
aber ich werde dir dafür keine Punkte abziehen, denn du hast dich
im Vergleich zu deinem letzten Vortrag um Längen verbessert. Du
kannst jetzt wieder Platz nehmen.«
Christopher setzte sich hin. Mir entging nicht,
welche Blicke Whitney und Lindsey ihm im Vorbeigehen zuwarfen,
während sie ihm wie alle anderen applaudierten. Mir war
unbegreiflich, wie schnell Christopher vom gesellschaftlichen
Außenseiter zu einem Typen werden konnte, den sie bewunderten. Es
schien fast so, als könnten sie spüren, wie tot er innerlich
bereits war… genau wie sie selbst eben auch.
Und doch weigerte ein Teil von mir sich, zu
glauben, dass Christopher tatsächlich einer von ihnen war,
ein Mitglied im Klub der »Lebenden Toten«. Ich wusste, dass er
nicht wirklich tot sein konnte im Inneren. Nicht der Christopher,
den ich so liebte. Er tat das alles schließlich einzig und allein
aus Rache. Rache für das, was mit mir passiert war. Und dieser
Rachedurst hatte ihn blind gemacht für alles andere, zum Beispiel
dafür, dass ich gar nicht wirklich tot war - dass ich in Wahrheit
nämlich direkt vor ihm saß. Dass ich mich sogar zu ihm umdrehte und
sagte: »Netter Vortrag.«
Na ja, was hätte ich denn sonst sagen sollen? Alle
sahen mich doch gespannt an, wie ich reagieren würde. Ich musste
also mitspielen.
Christopher nickte. »Danke. Hast du jetzt die
Information, über die wir gestern gesprochen haben?«
»Zum Teil, ja«, erklärte ich und angelte in den
Tiefen meiner Tasche nach der Sozialversicherungsnummer, die ich am
Morgen von Steven erbettelt hatte. Ich schob sie ihm hin. »Ich
werde mich bemühen, bald auch den Rest zu bekommen.«
Ich war mir nicht ganz sicher, ob das der Wahrheit
entsprach - geschweige denn, wie ich es anstellen sollte, falls ich
mich tatsächlich dazu entschloss, ihm zu helfen.
Doch war ich noch nicht bereit, ihm meine Hilfe zu
versagen. Schließlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass er
meine letzte Hoffnung war, Mrs Howard zu finden.
Und dass er, wenn ich ihm half, mich vielleicht …
ganz vielleicht … nicht länger hasste.
Er nahm den Papierschnipsel entgegen und steckte
ihn sich in die Jackentasche, gerade als Mr Greer den Namen seines
nächsten Opfers aufrief - zum Glück nicht mich.
»Alles, was ich da gesagt habe«, erklärte
Christopher, »entspricht voll und ganz der Wahrheit, und das weißt
du.«
Seine Worte brannten wie Feuer. Das musste ihm klar
sein.
»Logo«, gab ich zu. »Dessen bin ich mir
bewusst.«
»Und dennoch zeigst du dich Robert Stark gegenüber
loyal?« Er lächelte leicht. Ich verstand nicht so ganz, weshalb er
lächelte. Es schien fast so, als wüsste er etwas - etwas, was mich
betraf.
Doch woher sollte er etwas wissen, wo ihm doch die
fundamentalste Sache von allen immer noch komplett zu entgehen
schien?
»Ich kann dir nicht geben, worum du mich gebeten
hast«, erklärte ich.
»Aber du wirst es doch organisieren, oder?«, meinte
Christopher. Er schien absolut zuversichtlich. Früher als wir noch
befreundet gewesen waren, war er nie so voller Zuversicht gewesen.
Und zwar in keinerlei Hinsicht. Das war echt sexy … aber irgendwie
auch beängstigend. »Stimmt’s?«
»Äh«, setzte ich an, gerade als tief in meiner
Tasche Nikkis »Barracuda«-Handyklingelton zu hören war. »Ich geb
dir Bescheid.«
McKayla Donofrio, die soeben mit ihrem
dreiminütigen Vortrag beginnen wollte, wahrscheinlich zu
irgendeinem unsäglich langweiligen Thema wie beispielsweise die
Milchindustrie und ihr unfaires Verhalten gegenüber den an
Laktoseintoleranz leidenden Menschen, blickte finster in meine
Richtung.
»Okay«, erklärte sie. »Hey, wer auch immer
vergessen hat, sein Handy auszuschalten, ich find das echt
scheiße.« Sie sagte zwar »wer auch immer«, ihrem Blick nach zu
schließen, meinte sie aber zweifelsohne mich. »So viel Anstand
könnte man eigentlich schon erwarten.«
»Verzeihung«, sagte ich und wühlte in meiner
Tasche. »Verzeihung, Verzeihung.« Endlich fand ich mein Handy und
stellte es ab.
Allerdings erst nachdem ich die SMS von meiner
Agentin Rebecca gelesen hatte.
Die Proben für die Stark-Angel-Show laufen gerade,
hatte sie geschrieben. Wo bist du???