ELF
Christopher war ausnahmsweise sogar mal richtig wach und begrüßte mich mit einem Lächeln. »Wie geht’s?«, meinte er.
»Och«, setzte ich an und dachte bei mir: Lächle jetzt bloß nicht zurück, Em Watts, so gern du das auch tun würdest. Klar bist du unglaublich scharf auf ihn und sein Lächeln bringt dich total aus der Fassung, aber lass es! Er führt nichts Gutes im Schilde! Und selbst wenn das anders wäre, er steht einfach nicht auf dich! Na gut, tut er schon, aber nicht auf dein wirkliches Ich. Sondern auf dein totes Ich.
Und das ist einfach nicht richtig. Genauso falsch wie das, was er und sein Cousin vorhaben. Okay?
Doch bevor ich noch irgendetwas zu Christopher sagen konnte, lehnte sich schon Whitney Robertson, die am Tisch neben ihm saß, zu mir vor und flüsterte: »Oh mein Gott, ist das Top da von Temperley? Das ist ja total süß.«
»Wie war dein Wochenende?« Jetzt hatte sich auch noch ein Mädchen aus Whitneys Gefolgschaft neugierig vorgebeugt, Lindsey Jacobs, die in der Reihe neben ihr saß. »Ich hab im Internet gelesen, dass du mit Brandon Stark auf Saint John warst.«
Es gab bereits Fotos von unserer Reise im Internet? Na toll. Wenn da welche dabei waren, auf denen ich wild mit Brandon rumknutsche, dann bring ich jemanden um, aber echt.
»Das muss ja unglaublich gewesen sein!«, fuhr Lindsey fort. »Ich würde alles geben, wenn ich ein paar Tage hier rauskönnte, so beschissen wie das Wetter ist. Und dann auch noch mit Brandon Stark! Der ist ja so süß. Wie hast du es bloß geschafft, überhaupt wieder zurückzukommen? Ich hätte mich lieber umgebracht.«
Sie hatte ja keine Ahnung.
»Ladys.« Mr Greer schlug einen höhnischen Ton an. »Es tut mir ja so leid, Sie unterbrechen zu müssen. Doch einige von Ihnen erinnern sich vielleicht noch, dass wir bereits die letzte Woche im Schulhalbjahr haben und wir uns noch vor den Weihnachtsferien die letzten mündlichen Vorträge anhören wollen, die, wie Sie alle wissen, ein Viertel Ihrer Gesamtnote ausmachen.«
Ich stöhnte innerlich auf. Darauf war ich absolut nicht vorbereitet. Schon bald wäre ich an der Reihe mit meinem Vortrag, und ich hatte mich noch keine Sekunde damit beschäftigt, weil bisher einfach nicht die Zeit dafür gewesen war. Als ich gestern Abend von Christopher nach Hause kam, hatte ich völlig überraschend Lulu angetroffen, die sich um diese Zeit normalerweise mit ihren Freunden auf irgendwelchen Partys rumtrieb. Jetzt aber stand sie in der Küche und kochte ausgerechnet Coq au vin.
Da ich sie noch nie etwas Komplizierteres als Mikrowellen-Popcorn hatte zubereiten sehen, dachte ich erst, dass sie eine Art Schlaganfall gehabt haben musste. Fast hätte ich schon den Notarzt gerufen.
Doch ihr war nichts dergleichen widerfahren. Lulu kochte einfach nur für Nikkis Bruder Steven. Ihn hatte sie in der Zwischenzeit losgeschickt, um »ein richtig schön knuspriges französisches Baguette« zu besorgen. Das wollten sie zu der Mahlzeit dazu essen, die sie so liebevoll zubereitete.
»Dein Bruder soll denken, ich könnte kochen«, informierte Lulu mich, als ich sie fragte, was zum Teufel sie da tue. »Nein, warte, vielleicht doch nicht. Moment, was findest du denn süßer: ein Mädchen, das lügt und nur versucht, für einen Jungen zu kochen, oder ein Mädchen, das wirklich kochen kann?«
Ich hatte ihr einen gelangweilten Blick zugeworfen und entgegnet: »Lulu, ich sag dir, was überhaupt nicht süß ist. Und zwar du, in diesem Augenblick. Das ist doch so was von lächerlich. Wenn du willst, dass Steven dich mag, warum bist du dann zur Abwechslung nicht einfach mal du selbst? Das hast du mir doch immer gepredigt. Dass ich einfach ich selbst sein soll.« Nicht dass das jemals funktioniert hätte. Na ja, gut, es hatte natürlich schon funktioniert. Nur nicht bei Christopher.
Ich hätte mich nach dem Abendessen an meine Hausaufgaben setzen können, aber irgendwie landete ich dann am Ende doch zwischen Steven und Lulu auf der Couch. Er erzählte ihr (nachdem sie ihn dazu genötigt hatte) von seinem Job als Funker in dem U-Boot, auf dem er diente.
Als ich mich dann davonschleichen wollte, um zu arbeiten, war Lulu mir wie eine Klette gefolgt, offensichtlich scharf darauf, ein kurzes Mädchengespräch mit mir zu führen. Doch alles, was sie tat, war, mir wieder und wieder die folgende Frage zu stellen: »Jetzt sag doch mal: Denkst du, dass er mich mag?«
»Lulu«, erklärte ich mahnend. »Du hast ihn doch gerade erst kennengelernt. Wie kannst du jetzt schon so sehr an ihm hängen?«
Lulu stieß einen tiefen Seufzer aus und kuschelte sich neben mir ins Kissen. »Weil er einfach so … unglaublich ist.«
Das einzig Unglaubliche an Nikkis Bruder war bisher gewesen, dass er sich freiwillig bereit erklärt hatte, die großen Töpfe sauber zu machen, die Lulu für ihr Coq au vin benutzt hatte. Diejenigen, die nicht in die Spülmaschine passten und die Lulu einfach stehen gelassen hätte, damit Katerina sie am nächsten Morgen schrubben konnte.
Doch, ich musste zugeben: Für einen Kerl war das schon ziemlich unglaublich!
Trotzdem, wenn ich dieses Mädchengespräch nicht geführt und die Zeit für meine Hausaufgaben genutzt hätte, statt mir anzuhören, wie unglaublich Steven Howard war, dann wäre mir wahrscheinlich jetzt beim Anblick von Mr Greer, der die Anwesenheitsliste durchging, nicht so dermaßen schlecht gewesen.
»Dann lassen Sie uns gleich mal anfangen«, verkündete Mr Greer. »Ich würde gerne drannehmen …«
Bitte nicht mich, flehte ich innerlich. Nicht mich, nicht mich, nicht mich, und ich schwöre, dass ich den Rest der Woche jeden Abend zu Hause bleibe und bis Mitternacht pauke …
»… Christopher Maloney.«
Christopher stand auf und ging zur Tafel vor. Zu meinem Leidwesen bemerkte ich, dass ich nicht das einzige Mädchen war, das ihm hinterherschaute.
Christopher hatte in den vergangenen Wochen seinen Stil total verändert und trug nun auch drinnen seine neue schwarze Lederjacke, während er früher adrette Polohemden getragen hatte, mit denen er aussah wie all die anderen Jason Kleins der Schule. Jason Klein war übrigens der Freund von Whitney und selbst ernannter König des Clans der »Lebenden Toten«. Natürlich glotzte auch McKayla Donofrio ihn an. (Ich schwöre, ich hätte ihr fast noch ihren Perlmutthaarreifen vom Kopf gerissen, und es wäre mir egal gewesen, wie viele Haare ich dabei mitgenommen hätte.) Aber sogar Whitney und Lindsey zogen beide ihre Augenbrauen hoch … und zwar nicht, weil sie sich wie früher über ihn lustig machen wollten, sondern weil seine perfekt sitzende Jeans wirklich rein gar nichts mehr der Fantasie überließ.
»Und…«, sagte Mr Greer, als Christopher vor der Klasse angelangt war und ein Zeichen gab, dass er bereit war. Mr Greer stoppte bei all unseren Vorträgen die Zeit mit einer Eieruhr. An der Tribeca Highschool, der angeblich besten Privatschule ganz Manhattans, kamen wir natürlich in den Genuss der allerneusten Hightech-Ausstattung. »… LOS!«
»Stark Enterprises«, legte Christopher sofort los, »ist gegenwärtig der weltgrößte Konzern mit fast dreihundert Milliarden Dollar Umsatz im Jahr und übertrifft damit selbst die ganz großen Ölkonzerne.«
Moment mal. Was sagte er da? Das Thema von Christophers dreiminütigem Vortrag war Stark Enterprises?
Ich merkte, wie ich in mir zusammensackte.
So wie sich das anhörte, würde es nicht gerade eine Lobrede werden. Klar, ich hätte auch nichts Gutes über Stark sagen können. Allerdings war es schon irgendwie peinlich, dass ich, das »Gesicht von Stark«, hier im Klassenzimmer saß und zuhören musste, wie einer meiner Mitschüler sich über meinen Arbeitgeber ausließ. Schon spürte ich, wie die Blicke aller sich nervös auf mich richteten.
»Stark Enterprises«, fuhr Christopher fort, »hat verlautbart, einen Profit von über sieben Milliarden Dollar jährlich einzufahren. Dennoch verdient der durchschnittliche Angestellte - mit über einer Million Angestellter ist Stark eines der größten Unternehmen dieses Landes - nur ungefähr fünfzehntausend Dollar brutto im Jahr bei einer Vollzeitanstellung. Kaum genug also, um in einem amerikanischen Durchschnittshaushalt einigermaßen über die Runden zu kommen. Die Mitarbeiter von Stark kommen außerdem erst nach zwei Jahren Anstellung in den Genuss einer Krankenversicherung, dann aber auch nur zu solch hohen Prämien, dass sie oftmals zusätzlich auf staatliche Beihilfen angewiesen sind. Viele der Vollzeitbeschäftigten bei Stark, denen es im Übrigen untersagt ist, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, sind letzten Endes also darauf angewiesen, dass Medicaid für ihre Krankenversorgung aufkommt. Dagegen erscheint Robert Stark, CEO und Vorstandsvorsitzender von Stark, regelmäßig auf der Forbes-Liste der reichsten Leute der Welt, für gewöhnlich sogar unter den ersten zehn. Er hat ein Privatvermögen von schätzungsweise vierzig Milliarden Dollar.«
Bei diesen Worten tuschelten plötzlich einige Mitschüler. Unter anderem Lindsey und Whitney, die sich flüsternd darüber unterhielten, dass Brandon Stark ja offensichtlich noch reicher war, als sie gedacht hatten. Ich wusste schon genau, was (von ihnen) als Nächstes kommen würde: Sie würden von mir wissen wollen, ob ich ihnen Brandons Handynummer besorgen konnte.
»Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre«, sprach Christopher nun weiter, »ist wieder und wieder gezeigt worden, dass die Stark Megastores zwar oberflächlich betrachtet dem Verbraucher Konsumgüter zu niedrigen Preisen bieten - und Stark Enterprises genießt erhebliche steuerliche Vorteile dafür, dass sie in möglichst vielen Städten ihre Kaufhäuser errichten -, dass dieser Verbrauchervorteil allerdings auch seinen Preis fordert. Dieser Preis ist, dass den Gemeinden, in denen diese Megastores aus dem Boden schießen, ein irreparabler Schaden entsteht, indem kleinere örtliche Familienunternehmen von der Bildfläche verschwinden. Denn diese Kleinunternehmer genießen keine Steuervorteile. Sie können ihre Waren also nicht so günstig anbieten, außerdem können sie diese auch nicht zu Dumpingpreisen exklusiv in China herstellen lassen wie Stark, mit dessen Niedrigpreisen sie es unmöglich aufnehmen können. Ganze Gemeinden verwandeln sich wegen dieser Megastores in wahre Geisterstädte, da die kleineren Läden nach und nach gezwungen sind, zu schließen. Und wer leidet darunter wiederum am meisten? Das sind wir, die kleinen Steuerzahler, denn im Zuge dieser Entwicklung müssen die Bundesstaaten und Städte wiederum teure innerstädtische Wiederbelebungsmaßnahmen finanzieren, die für gewöhnlich schon von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. So gut wie jeder kauft nämlich letzten Endes lieber bei Stark ein, wo man stets einen Parkplatz findet.«
Ich blickte um mich, weil ich die Reaktionen der anderen einfangen wollte. Normalerweise schlief so früh am Morgen die halbe Klasse - Mr Greer eingeschlossen, der die schlechte Angewohnheit hatte, während der mündlichen Vorträge seiner Schüler in eine Art Dämmerzustand zu verfallen.
Doch seltsamerweise waren plötzlich alle hellwach und hörten Christopher aufmerksam zu. Und das feuerte ihn in seiner Wutrede natürlich nur noch mehr an.
»Stark senkt die Kosten immer weiter, indem mehr und mehr Arbeitsschritte dem Outsourcing anheimfallen, sodass kaum mehr etwas an den amerikanischen Arbeiter geht«, setzte er seinen Vortrag fort. »Auch der Stark Quark, dieser Computer, den Stark im neuen Jahr auf den Markt bringen will, bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Keine einzige am Herstellungsprozess beteiligte Person ist ein Beschäftigter dieses Landes. Und damit auch garantiert jedes Kind und jeder junge Mensch in diesem Land sich einen von diesen Computern zu Weihnachten wünscht, hat Stark dafür gesorgt, dass Realm, die neueste Version des Computer-Rollenspiels Journeyquest, ausschließlich in einem Kombi-Deal mit dem Quark erhältlich ist. Seit Wochen schon läuft für diesen PC eine äußerst aggressive Marketingkampagne …«
Jetzt versank ich noch tiefer in meinem Stuhl. Keinem hier konnte der Werbespot entgangen sein, der marketingmäßig auf YouTube gelaufen war. In dem Filmchen sah man Nikki Howard in einem Bikini von Stark in einem Pool, der wie ein Laptop geformt war, auf einem Floß treiben. Dabei klapperte sie auf der Tastatur eines Quark herum, der auf ihrem nackten Bauch ruhte. Der Quark ist tatsächlich wasserdicht (na gut, zumindest spritzwassergeschützt - man sollte ihn natürlich nicht direkt ins Wasser werfen, wie ich erfuhr, als mir blöderweise genau das passierte) und man kriegt ihn in einer ganzen Reihe verschiedener Trendfarben. Der Spot zeigte Nikki in verschiedenfarbenen Bikinis, immer passend zur Farbe des jeweiligen Laptops, und im Hintergrund lief ein fröhlich-beschwingter Rocksong. Selbstverständlich wurden die technischen Vorzüge des Computers mit keinem Wort erwähnt … nur dass er hübsch sei.
Irgendwie wie Nikki Howard, wenn ich jetzt so darüber nachdachte.
»Wenn wir verhindern wollen, dass Amerika einen Niedergang erlebt wie das antike Rom, dann muss sich etwas ändern«, erklärte Christopher gerade. Offensichtlich hatte er nicht mitbekommen, dass sich plötzlich peinliche Stille breitmachte, weil Lindsey gerade den Quark-Werbejingle vor sich hinsummte. »Im fünften Jahrhundert hatte Rom sich in einer vergleichbaren Situation befunden, als die Wirtschaft langsam zusammenzubrechen begann, weil die Gesellschaft fast ausschließlich auf Importe angewiesen war. Deshalb sollten wir wieder vermehrt darauf achten, selbst die Produzenten von Gütern statt reiner Konsumenten zu sein. Sonst werden Leute wie Robert Stark auch weiterhin von unserer eigenen Faulheit profitieren und abartig reich werden, weil wir es noch nicht einmal schaffen, CDs in CD-Läden, Bücher in Buchhandlungen, Lebensmittel bei Lebensmittelhändlern und Bekleidung in Bekleidungsgeschäften zu kaufen. Denn es ist ja schließlich so viel einfacher, all diese Dinge in einem einzigen Laden zu besorgen. Manche von uns sind sogar so faul, dass sie lieber wertvolle fossile Brennstoffe verschwenden, nur um ein paar Meilen weiter raus zu fahren und alles in einem Kaufhaus zu kaufen. Noch dazu handelt es sich bei dem Kaufhaus-Warenangebot meist um Produkte, die zu Dumpingpreisen in Fernost hergestellt wurden - und in vielen Fällen von unterirdischer Qualität sind. Wie viel besser wäre es, wenn die Leute diese Sachen in ein paar kleineren Geschäften in der Nachbarschaft besorgen würden, wo es noch Waren gibt, die in den guten alten USA hergestellt wurden. Nehmen wir uns doch kurz die Zeit und überlegen wir uns, was die bisherige Entwicklung für Auswirkungen hat für die Gemeinden, in denen wir leben, ganz zu schweigen, was das für den berühmten ›American Spirit‹ bedeutet - nämlich das Aus. Denn nicht Fortschritt, sondern Niedergang - der Mord am ›American Spirit‹ - ist das wahre Vermächtnis von Stark.«
Es folgte ein Augenblick der Stille, in dem alle sich durch den Kopf gehen ließen, was Christopher soeben gesagt hatte. Währenddessen betrachtete er uns mit seinen ozeanblauen Augen. Aber er betrachtete nicht einfach nur uns alle, wie mir nach ein paar Sekunden klar wurde, sondern vielmehr mich: ja, mich. Er sah mich ganz direkt an, und zwar so, als sähe er in mir einen örtlichen Repräsentanten von Stark.
Was im Prinzip nicht ganz unrichtig war. Aber, hallo, ich war doch nun wirklich die Allerletzte, die man noch von der Schlechtigkeit von Stark überzeugen musste. Nach dem, was die mir angetan hatten.
Klar, zugegeben, sie hatten mir das Leben gerettet.
Aber in fast allen wichtigen Belangen hatten sie mich auch gezwungen, mein Leben völlig auf den Kopf zu stellen. Ich konnte ja noch nicht einmal mehr meine Ferien bei meiner Familie verbringen. Also bitte!
Okay, ja, ich war absolut Christophers Meinung, in allem, was er über Stark gesagt hatte. Doch was erwartete er jetzt eigentlich von mir? Was sollte ich denn bitte schön tun? Sollte ich vielleicht kündigen, weil ich meinen Boss für den Teufel persönlich hielt? Ja, klar. Völlig ausgeschlossen, ich konnte nicht kündigen.
Allerdings konnte ich das jetzt unmöglich vor allen laut sagen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich aufrechter hinzusetzen, die Arme zu verschränken und herausfordernd zurückzustarren. Blöderweise musste ich mir dafür jetzt wieder diese unglaublichen Lippen ansehen … diese Lippen, von denen ich gestern unsinnigerweise gedacht hatte, sie würden schon bald die meinen berühren. Ich wollte das immer noch. Und zwar mehr als alles andere.
Aus diesem Grund lächelte ich verbittert in mich hinein, als plötzlich die Eieruhr auf Mr Greers Schreibtisch losrasselte und ich zusammenfuhr. Genau genommen fuhren eigentlich alle zusammen, bis auf Christopher, der mich immer noch mit einem Blick ansah, so eiskalt wie ein Iced Mocha Latte.
Auf einmal fing jemand an zu klatschen - McKayla Donofrio. Klar, wer sonst. Diese elendige Schleimerin. Der war wohl nichts zu blöd, nur um Christophers Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, oder? Ein paar Sekunden später klatschte schließlich die halbe Klasse. Und zwar so, als würden die das echt ernst meinen, nicht wie sie das sonst manchmal taten, nur um jemanden zu verarschen, der irgendwas total Spackiges gemacht hat, zum Beispiel mitten in der Cafeteria sein Tablett fallen lassen.
Mr Greer verkündete: »Exzellente Arbeit, Christopher. Wirklich ganz ausgezeichnet. Starke, überzeugende Argumente. Ich glaube, du lagst noch bei etwas unter drei Minuten, aber ich werde dir dafür keine Punkte abziehen, denn du hast dich im Vergleich zu deinem letzten Vortrag um Längen verbessert. Du kannst jetzt wieder Platz nehmen.«
Christopher setzte sich hin. Mir entging nicht, welche Blicke Whitney und Lindsey ihm im Vorbeigehen zuwarfen, während sie ihm wie alle anderen applaudierten. Mir war unbegreiflich, wie schnell Christopher vom gesellschaftlichen Außenseiter zu einem Typen werden konnte, den sie bewunderten. Es schien fast so, als könnten sie spüren, wie tot er innerlich bereits war… genau wie sie selbst eben auch.
Und doch weigerte ein Teil von mir sich, zu glauben, dass Christopher tatsächlich einer von ihnen war, ein Mitglied im Klub der »Lebenden Toten«. Ich wusste, dass er nicht wirklich tot sein konnte im Inneren. Nicht der Christopher, den ich so liebte. Er tat das alles schließlich einzig und allein aus Rache. Rache für das, was mit mir passiert war. Und dieser Rachedurst hatte ihn blind gemacht für alles andere, zum Beispiel dafür, dass ich gar nicht wirklich tot war - dass ich in Wahrheit nämlich direkt vor ihm saß. Dass ich mich sogar zu ihm umdrehte und sagte: »Netter Vortrag.«
Na ja, was hätte ich denn sonst sagen sollen? Alle sahen mich doch gespannt an, wie ich reagieren würde. Ich musste also mitspielen.
Christopher nickte. »Danke. Hast du jetzt die Information, über die wir gestern gesprochen haben?«
»Zum Teil, ja«, erklärte ich und angelte in den Tiefen meiner Tasche nach der Sozialversicherungsnummer, die ich am Morgen von Steven erbettelt hatte. Ich schob sie ihm hin. »Ich werde mich bemühen, bald auch den Rest zu bekommen.«
Ich war mir nicht ganz sicher, ob das der Wahrheit entsprach - geschweige denn, wie ich es anstellen sollte, falls ich mich tatsächlich dazu entschloss, ihm zu helfen.
Doch war ich noch nicht bereit, ihm meine Hilfe zu versagen. Schließlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass er meine letzte Hoffnung war, Mrs Howard zu finden.
Und dass er, wenn ich ihm half, mich vielleicht … ganz vielleicht … nicht länger hasste.
Er nahm den Papierschnipsel entgegen und steckte ihn sich in die Jackentasche, gerade als Mr Greer den Namen seines nächsten Opfers aufrief - zum Glück nicht mich.
»Alles, was ich da gesagt habe«, erklärte Christopher, »entspricht voll und ganz der Wahrheit, und das weißt du.«
Seine Worte brannten wie Feuer. Das musste ihm klar sein.
»Logo«, gab ich zu. »Dessen bin ich mir bewusst.«
»Und dennoch zeigst du dich Robert Stark gegenüber loyal?« Er lächelte leicht. Ich verstand nicht so ganz, weshalb er lächelte. Es schien fast so, als wüsste er etwas - etwas, was mich betraf.
Doch woher sollte er etwas wissen, wo ihm doch die fundamentalste Sache von allen immer noch komplett zu entgehen schien?
»Ich kann dir nicht geben, worum du mich gebeten hast«, erklärte ich.
»Aber du wirst es doch organisieren, oder?«, meinte Christopher. Er schien absolut zuversichtlich. Früher als wir noch befreundet gewesen waren, war er nie so voller Zuversicht gewesen. Und zwar in keinerlei Hinsicht. Das war echt sexy … aber irgendwie auch beängstigend. »Stimmt’s?«
»Äh«, setzte ich an, gerade als tief in meiner Tasche Nikkis »Barracuda«-Handyklingelton zu hören war. »Ich geb dir Bescheid.«
McKayla Donofrio, die soeben mit ihrem dreiminütigen Vortrag beginnen wollte, wahrscheinlich zu irgendeinem unsäglich langweiligen Thema wie beispielsweise die Milchindustrie und ihr unfaires Verhalten gegenüber den an Laktoseintoleranz leidenden Menschen, blickte finster in meine Richtung.
»Okay«, erklärte sie. »Hey, wer auch immer vergessen hat, sein Handy auszuschalten, ich find das echt scheiße.« Sie sagte zwar »wer auch immer«, ihrem Blick nach zu schließen, meinte sie aber zweifelsohne mich. »So viel Anstand könnte man eigentlich schon erwarten.«
»Verzeihung«, sagte ich und wühlte in meiner Tasche. »Verzeihung, Verzeihung.« Endlich fand ich mein Handy und stellte es ab.
Allerdings erst nachdem ich die SMS von meiner Agentin Rebecca gelesen hatte.
Die Proben für die Stark-Angel-Show laufen gerade, hatte sie geschrieben. Wo bist du???