NEUNZEHN
Steven war ganz und gar nicht in Partylaune.
Wenn ich ehrlich war, ich auch nicht. Ich meine,
Steven hatte ja nicht den ganzen vorherigen Abend bei der
Kostümprobe für die Stark-Angel-Show und bei der anschließenden
Party für die Investoren verbracht, hatte Autogramme verteilt und
mit Leuten aus der Führungsetage von Stark Enterprises gemeinsam
für Fotos posiert und dabei die ganze Zeit über so getan, als wäre
man ja ach-so-begeistert, dort sein zu dürfen.
Er hatte sich auch nicht am folgenden Morgen zur
Schule geschleppt, um die letzten Prüfungen zu absolvieren. Er
hatte sich nicht hängenden Hauptes zu all den Lehrern geschlichen,
deren Prüfungen er am Tag zuvor verpasst hatte, um sie anzuflehen,
ihm noch einmal eine Chance zu geben und einen Ersatztermin
anzuberaumen.
Aber anscheinend war ich die Einzige, die sich
überhaupt etwas daraus machte, die Prüfungen verpasst zu haben.
Christopher war erst gar nicht auf die Idee gekommen, in der Schule
aufzutauchen. Ich hatte keinen Schimmer, wo er steckte. Vielleicht
saß er ja noch immer bei Felix im Keller, um mit ihm gemeinsam
seinen finsteren Rachefeldzug gegen Stark auszubrüten.
Der schien aber offensichtlich nicht zu
funktionieren, denn soweit ich das beurteilen konnte, schien es
Stark Enterprises immer noch glänzend zu gehen.
Frida, der ich im Flur über den Weg lief, reckte
die Nase in die Luft und ging geradewegs an mir vorbei. Deshalb
konnte ich auch nicht sagen, ob ihre Lehrer sie die Prüfungen
wiederholen ließen. Meine Lehrer waren jedenfalls nicht sonderlich
begeistert gewesen von der Idee. Ich bekam Sätze zu hören wie:
»Miss Howard, sind Sie sich überhaupt darüber im Klaren, wie viel
Sie in diesem Halbjahr bereits an Stoff verpasst haben? Wir von der
Tribeca Highschool sind durchaus bereit, uns kooperativ zu zeigen,
wenn Schüler spezielle Verpflichtungen haben, aber Sie müssen sich
früher oder später entscheiden. Wollen Sie Karriere als Model
machen oder möchten Sie einen Schulabschluss?«
Äh … und wie wär’s mit beidem?
Aber ich hatte verstanden. Also nahm ich die
schlechten Noten hin, wenn Lehrer absolut unwillig waren, mir
entgegenzukommen, und mich zu Strafarbeiten verdonnerten, weil ich
die Prüfung oder das Abschlussprojekt verpasst hatte.
Wie zum Beispiel im Rhetorikkurs. Na ja, Mr Greer
litt schon immer an völliger Selbstüberschätzung, zumal er den
Unterricht so gut wie jeden Tag schlafend hinter sich
brachte.
In manchen Fällen verschlechterte die schlechte
Note meine Endnote gar nicht mal so sehr. Ich schaffte immer noch
eine Drei oder eine Vier. Aber in ein paar Fächern sah es leider
ganz anders aus …
Na ja, man musste es positiv sehen. Wenn das mit
dem College nichts wurde, konnte ich immer noch auf meine
Modelkarriere zurückkommen.
Natürlich wusste ich, dass das nicht alle für eine
gute Idee halten würden. Meine Eltern zum Beispiel, die wären so
was
von gar nicht begeistert, wenn sie das hörten. Vorausgesetzt
natürlich, ich erzählte ihnen überhaupt davon, wozu ja kein Zwang
bestand. Sie hatten keine Chance, rauszufinden, wie die Noten von
Nikki Howard aussahen, da sie ja nicht mit ihr verwandt waren.
Außerdem würde die Schule sie nicht darüber informieren, dass sie
gestern nicht in der Schule aufgetaucht war.
Frida hingegen hatte es da nicht ganz so gut. Sie
hatte voll den Ärger bekommen, dass sie einfach so aus der Schule
abgehauen war und ihre Prüfungen verpasst hatte. Die Tribeca
Highschool hatte Mom über beides in Kenntnis gesetzt. Das fand ich
heraus, als ich Mom und Dad anrief, um mich mal wieder zu melden.
Denn Fridas Vorwurf, dass ich mich mehr um meine »neue Familie«
kümmerte als um meine alte, hatte mich doch sehr getroffen.
Mom war total aus dem Häuschen, weil Frida die
Schule geschwänzt hatte … bis ich ihr schließlich gestand, dass sie
die ganze Zeit mit mir bei den Proben für die
Stark-Angel-Modenschau gewesen war.
»Wie bitte?« Mom klang ziemlich verblüfft. »Sie war
bei dir?«
»Sie hat sich doch nur Sorgen um mich gemacht«,
erklärte ich. »Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung. Sie hat
gesehen, wie ich die Schule verließ, und konnte sich nicht
vorstellen, aus welchem Grund. Deshalb ist sie mir gefolgt. Und ich
war eben auf dem Weg zu einer Probe in den Stark-Tonstudios. Sie
war die ganze Zeit über bei mir.« Dieser letzte Teil war zumindest
nicht komplett gelogen.
»Also hast du ebenfalls die Schule geschwänzt«,
stellte Mom fest. Jetzt klang sie eher bitter als verblüfft.
»Das ist mein Job, Mom«, protestierte ich. Auch das
war im Grunde genommen keine Lüge. »Also sei nicht zu streng mit
Frida. Sie dachte wirklich, sie tue das Richtige.«
Mom seufzte. »Euch beiden steck ich dieses Jahr
nichts als Kohle in die Nikolausstrümpfe, so viel ist
sicher.«
Das hörte sich nicht so an, als mache sie einen
Scherz.
Frida hatte also Mom nichts davon erzählt, wo sie
gewesen und dass sie mir bis nach Brooklyn gefolgt war. Was hatte
Frida nur vor? Weshalb hatte sie Mom und Dad nichts verraten? Was
war nur mit ihr los? Warum war sie so sauer auf mich? Sie konnte
doch nicht allen Ernstes denken, dass ich mich langsam in meine
Körperspenderin verwandelte, meine richtige Familie vergaß und
Nikkis Familie an deren Stelle setzte? Also wirklich. Klar stimmte
es, dass ich mich manchmal - insbesondere dann, wenn ein Junge mich
küsste - fühlte, als würde ich die Kontrolle verlieren und wie
Nikki reagieren, zumindest körperlich.
Aber dass ich Frida und Mom und Dad für Nikkis
Familie aufgab? Nie im Leben. Das Problem war nur, dass die mich
eben im Moment brauchten. Und ich war nun mal in der Position, dass
ich ihnen möglicherweise helfen konnte.
Außerdem schuldete ich es ihnen ganz einfach. Oder
etwa nicht? Wer sonst sollte ihnen denn helfen, wenn nicht
ich?
Als ich an diesem Tag aus der Schule nach Hause
kam, traf ich auf Steven, der zwar immer noch nicht in
Partystimmung war, jedoch einen ziemlich zufriedenen Eindruck
machte.
»Komm mit«, meinte er und führte mich zu dem
Schrank, in dem die Stereoanlage stand.
»Was denn?«, fragte ich neugierig und befreite mich
von meinem Schal, während Cosabella mir aufgeregt an den Beinen
hochsprang. »Du hast uns beiden doch nicht etwa ein Geschenk
besorgt, oder? Das wäre doch nicht nötig gewesen …«
Aber als ich sah, was hinter der Schranktür zum
Vorschein kam und was Steven mir da zeigte, verstummte ich ganz
plötzlich.
Da stand es, gleich neben unserem CD-Player: ein kleines schwarzes
Gerät mit unzähligen Knöpfen dran.
»Oh«, brachte ich hervor. »Das ist ja toll. Aber
ich glaube, so eins haben wir bereits.« Um ehrlich zu sein, ich
hatte keinen Schimmer, was das war. Wir hatten ganz einfach schon
ein Exemplar von so ziemlich allem. »Aber ich bin sicher, deins ist
viel besser«, schob ich schnell hinterher, damit er sich nicht
schlecht fühlte.
»So eins habt ihr garantiert noch nicht«,
versicherte Steven mir kichernd. »Es handelt sich nämlich um einen
akustischen Rauschgenerator. Und frag mich jetzt bitte nicht, woher
ich den habe, denn das willst du lieber nicht wissen, glaub mir. Er
funktioniert so, dass er auf allen Frequenzen, auf denen man dich
über Wanzen abhören könnte, Störgeräusche aussendet. In deinem Fall
…« Erwies mit dem Finger nach oben zur Decke.
Ich legte den Kopf zurück. »Aber… ich kann gar
nichts hören.«
»Ganz genau«, meinte Steven. »Das ist ja das Tolle
daran. Du sollst ja auch gar nicht mitkriegen, dass das Teil da
ist. Und sie auch nicht. Sie werden lediglich mitbekommen, dass sie
dich nicht länger hören können. Wahrscheinlich schicken sie bald
jemanden vorbei, der herausfinden soll, woran das liegt. Aber sie
werden nicht draufkommen. Denn solch ein Gerät haben die garantiert
noch nie zu Gesicht bekommen. Die kommen nämlich ausschließlich
beim Militär zum Einsatz.«
Ich starrte ihn fassungslos an. »Und aus dem Grund
soll ich auch nicht fragen, wo du das Ding herhast, richtig?«
»Richtig«, bestätigte er. »Und frag mich auch
nicht, wo ich das hier herhabe.« Er reichte mir ein kleines
schwarzes Gerät, nicht viel größer als mein Wanzendetektor.
»Das hier ist ein tragbarer Störsender«, erklärte
er mir, als ich ihn fragend ansah. »Er funktioniert auf zwei
Frequenzen, stört aber jedes Abhörmikrofon in einem Umkreis von
fünfzig Metern, sodass keine Gespräche mehr aufgefangen werden
können. Und das alles völlig lautlos.«
Ich betrachtete das glänzende schwarze Gerät in
meiner Hand. Ich war echt überwältigt.
»Das ist ja so lieb von dir, Steven«, sagte ich
gerührt und merkte, wie meine Augen feucht wurden. Ich litt schon
seit so langer Zeit unter Verfolgungswahn, weil Stark jedes Wort
von mir mithörte. Aber jetzt musste ich mir auf einmal keine Sorgen
mehr machen. Und alles war so schnell gegangen. »Aber ich … ich hab
doch gar nichts für dich.«
»Wie bitte?« Steven sah mich mit großen Augen an.
»Also bitte, du hast doch schon so viel für mich getan. Das hier
war das Mindeste, was ich im Gegenzug tun konnte.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte es nicht
fassen, dass mir Tränen in die Augen traten. Aber wenn ich es mir
recht überlege, hatte ich schon immer ziemlich nah am Wasser
gebaut. Das war wohl Beweis genug, dass an Fridas Vorwurf nichts
dran war: Ich verwandelte mich ganz sicher nicht in Nikki Howard!
Die hätte sich nämlich garantiert nicht beeindrucken lassen, wenn
sie einen Rauschgenerator und einen akustischen Störsender
geschenkt bekommen hätte. »Was meinst du denn?«
»Die Fernsehsender, denen du ein Interview gegeben
hast, reden davon, dass sie Hunderte von Anrufen erhalten hätten«,
erklärte Steven. »Und zwar von Leuten, die glauben, Mom gesehen zu
haben.«
»Und waren da auch glaubwürdige Aussagen darunter?«
Lulu, die sich damit wieder einmal ihres Law and
Order-Vokabulars bediente, war unvermittelt im Loft
aufgetaucht. Sie
half Katerina mit den Caterern, die nun nach und nach wegen der
Party einzutrudeln begannen.
»Nein.« Hastig schloss Steven die Tür des
Medienschranks. »Noch nicht. Aber ich hab das Gefühl, wir kommen
der Sache näher.«
»Fantastisch!« Lulu schenkte ihm ihr strahlendstes
Lächeln. Dann deutete sie mit gebieterischer Geste auf einen jungen
Mann, der einen ausgehöhlten Kürbis auf dem Arm trug, in dem
offensichtlich später irgendein Getränk serviert werden sollte.
»Nein, nicht dahin! Katerina, wo soll der bitte hin?«
»Hierher!« Katerina übernahm das Kommando und
wirkte so voller Energie und Tatendrang, dass sie wahrscheinlich
den Kerl mitsamt Kürbis hätte hochstemmen können, und nicht nur den
Kürbis allein.
»Es hat dich also nicht gestört«, fragte ich mit
einem nervösen Blick auf Nikkis Bruder, »dass ich die Interviews
gegeben habe?«
»Ob mich das gestört hat?« Steven schüttelte den
Kopf. »Wir hätten schon viel früher auf diese Idee kommen sollen.
Aber kriegst du denn jetzt Ärger mit …?«
Er ließ den Blick zur Decke wandern. Dort testete
gerade eine Artistin vom Cirque du Soleil, mit nichts bekleidet als
einem hautfarbenen BH und Panties und einem langen roten Schal, ob
das soeben installierte Trapez ihrem Gewicht standhielt. Direkt
neben dem Trapez befanden sich die kleinen runden Löcher, die ich
vor ein paar Wochen in der Decke bemerkt hatte. Steven vermied den
Namen Stark nicht aus Angst, dass mein Arbeitgeber das
mitbekommen könnte. Das war ja dank seines Geschenks nicht mehr
nötig. Er wollte bloß nicht vor Lulu darüber sprechen, solange sie
in bester Partylaune war.
»Ich weiß nicht«, meinte ich schulterzuckend. »Wir
werden schon sehen.«
»Ich versteh echt nicht, dass sie sich diese ganze
Mühe macht«, meinte Steven und beobachtete Lulu dabei, wie sie von
einem Tisch zum nächsten flitzte und letzte Schönheitskorrekturen
vornahm. Sie hatte sich schon in ihr Party-Outfit geschmissen, ein
schwarzes Cocktailkleid mit extrem weitem Petticoat-Rock. Sie sah
aus wie eine ihrer liebsten Filmfiguren, Holly Golightly, aus dem
Film Frühstück bei Tiffany. Jetzt fehlte nur noch eine lange
Zigarettenspitze.
»Es bedeutet ihr einfach unheimlich viel«, erklärte
ich. »Sie hat doch keine Familie mehr. Ihre Freunde sind quasi eine
Art Familienersatz für sie.« Ich blickte ihn an. »Du bist jetzt
auch Teil dieser Familie, musst du wissen.«
»Im Ernst?« Er sah ein bisschen überrascht aus. Ich
war überzeugt, dass er gar nicht wirklich begriff, worum es hier
ging und was ich ihm sagen wollte. Zumindest was Lulu und ihre
Schwärmerei für ihn betraf. Ich bezweifelte, dass Steven Howard
mitgekriegt hatte, dass ausgerechnet Lulu Collins ihn total süß
fand. Dazu hatte er nicht das ausreichende Selbstbewusstsein. Da
war zum Beispiel dieser Kampf, den die beiden wegen seines
Party-Outfits austrugen. Er hatte seine ganz normalen Klamotten
anlassen wollen: T-Shirt und Jeans. Aber Lulu hatte darauf
bestanden, dass er ein Ensemble trug, das sie für ihn bei Barneys
hatte zusammenstellen lassen. Durch beharrliches Schmollen hatte
Lulu am Ende doch gewonnen.
Allerdings schien Steven sich nun offensichtlich
ähnlich unwohl zu fühlen wie ein Muskelprotz bei einer Comic
Convention. Das lag gar nicht so sehr daran, dass er nicht gut
aussah - ganz im Gegenteil. Es war nur so ungewohnt, dass er wie
der typische New Yorker rumlief, mit einem gestreiften
Button-down-Hemd, einer dunklen, ausgewaschenen Jeans
und einem maßgeschneiderten Jackett mit ausgefransten Stickereien.
Die Klamotten hatten mit Sicherheit mindestens tausend Dollar
gekostet.
Aber das war Steven bestimmt nicht bewusst.
»Nikki, bald trudeln die ersten Leute ein«, rief
Lulu mit einem lauten Kreischen, als sie mich so auf der Couch
sitzen sah, Cosys Fell kraulend und in eine Unterhaltung mit Steven
vertieft. »Möchtest du dich nicht langsam umziehen? Du willst doch
wohl nicht das da anbehalten, oder?«
Ich trug immer noch die Sachen, die ich in der
Schule angehabt hatte. Ich war einfach zu fertig gewesen, um was
anderes anzulegen.
»Ich zieh mich gleich um«, beruhigte ich sie.
Und schon schleppte ich mich auf mein Zimmer, um
mir ein Outfit auszusuchen. Ich war sogar ganz froh, Katerina und
den Party-Caterern endlich aus dem Weg gehen zu können. Auch
Cosabella wirkte erleichtert und hüpfte fröhlich in ihr Körbchen,
wo sie sich sogleich zusammenrollte und einschlief.
In Nikkis Kleiderkammer fand sich eine Unmenge an
Designerstücken. Die meisten Teile hatten sogar noch das
Preisschild dran. Ich musste nie selbst shoppen gehen, denn die
Stylisten versorgten Nikki mit den Klamotten von den Shootings. Ich
wählte ein verführerisches, eng anliegendes schwarzes Abendkleid
aus, das aus irgendeinem glänzenden Material war und das im Nacken
wie ein Neckholder zusammengebunden wurde. Draußen war es
bitterkalt, doch im Loft war es kuschelig warm, weil Lulu im Kamin
ein riesiges Feuer hatte schüren lassen. Später würde sie dann die
Klimaanlage einschalten und sämtliche Fenster aufreißen, um gegen
die Hitze, die von den ganzen Gästen ausging, anzugehen. Wir hatten
bereits ein paar ähnliche gesellige Zusammenkünfte in
der Vergangenheit gehabt. Ich zog meine Klamotten aus und
schlüpfte in das Kleid, unter dem man keine Unterwäsche tragen
konnte, weil diese sich sonst zu sehr abgezeichnet hätte.
Anschließend probierte ich eine halbe Stunde lang mit dem Make-up
rum. Ich war noch nie der Typ für Make-up gewesen, aber irgendwie
hatte das Schminken auf mich eine beruhigende Wirkung, wenn man
beispielsweise wegen eines Jungen nervös war. Sagen wir mal, wegen
eines Jungen wie Christopher. Dann half es, wenn man vor dem
Spiegel stehen und Verschiedenes ausprobieren konnte. Man konnte
zum Beispiel versuchen, sich selbst Smoky Eyes zu schminken,
während man auf seinen Anruf wartete. Und dabei konnte man sich
ganz wunderbar einreden, dass es absolut keine gute Idee wäre, ihn
jetzt anzurufen.
Na ja, immerhin stand Christopher ja auf ein
Mädchen, das längst tot war. Was wollte ich denn mit so einem
Kerl?
Ich ging eh davon aus, dass diese Beziehung
überhaupt keine Zukunft hatte. Mit jemandem, der so verkorkst war
wie ich, würde doch kein Junge etwas anfangen wollen. Christopher
war besser dran ohne mich. Vielleicht sollte ich deshalb einfach
aufgeben und ihn McKayla Donofrio überlassen. Diese
laktoseintolerante Stipendiatin mit ihrem bescheuerten Klub der
jungen Börsianer. Diese dumme Kuh mit ihrem blöden
Perlmutt-Haarreif.
Das Ergebnis meiner Schminksession waren leider
keine smoky, sondern spooky Augen. Ich hatte viel zu viel Eyeliner
aufgetragen und musste noch mal ganz von vorn anfangen. Als ich
endlich aus dem Schlafzimmer rauskam, war es schon spät, und die
ersten Gäste waren bereits eingetroffen. (Die ganz frühen Gäste, so
hatte Lulu mir erklärt, waren immer absolute Möchtegerns und
Loser.) Ich nutzte die Gelegenheit, mir etwas zu essen zu holen,
damit ich später nicht umkippte,
wenn es dann nichts mehr gab. In der Küche überwachte Katerina die
Caterer, um sicherzugehen, dass auch alles konstant die Temperatur
hatte, bei der das Essen jeweils idealerweise serviert wurde.
DJ Drama war in der Zwischenzeit ebenfalls
eingetroffen und hatte sich bereits ans Aufbauen gemacht. Ich ging
zu ihm rüber, um mich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Er wirkte
ziemlich schüchtern. Vielleicht interessierte er sich aber auch
ganz einfach nicht dafür, was eine Siebzehnjährige zu erzählen
hatte, die sich gerade mit Sushi vollstopfte. Währenddessen
veranstaltete über unseren Köpfen die Artistin vom Cirque du Soleil
mit abwesender Miene die unglaublichsten Verrenkungen. Wie es wohl
wäre, mit ihr zu tauschen? Auf jeden Fall besser, als ich zu sein,
oder?
Immer mehr Leute strömten in unser Loft, und manche
von ihnen erkannte ich sogar aus Lulus Vogue und aus Fridas
US Weekly wieder. Andere wiederum hatte ich noch nie
gesehen. DJ Drama brachte den Raum mit seiner Musik zum Brodeln und
war schon bald so beschäftigt, dass er keine Zeit mehr für
Plaudereien hatte. Was okay für mich war, denn inzwischen scharten
sich immer mehr von Nikkis Freunden um mich. Sie riefen mir zu, wie
großartig ich aussähe, und schleppten mich mit zur Bar, wo sie alle
von den exotischen Drinks bestellten, die die astrologiekundigen
Barleute mixten.
Ob ich nun wollte oder nicht - langsam begann ich
tatsächlich, mich zu amüsieren. Okay, mein Leben war der reinste
Scherbenhaufen. Der Junge, den ich liebte, stand nicht auf mich.
Die Mutter des Körpers, in den mein Gehirn verpflanzt worden war,
war verschwunden. Und ich war bei der Hälfte meiner Prüfungen
durchgerasselt, weil ich sie verpasst hatte.
Doch es war schwer, sich nicht zu amüsieren, bei
all der
guten Musik, dem leckeren Essen und den vielen glücklichen
Gesichtern um mich herum.
Sogar Steven schien es ziemlich gut zu gefallen.
Ich beobachtete, wie er mit Lulu tanzte - wenn man das, was er da
veranstaltete, wirklich als Tanzen bezeichnen wollte. Denn im
Grunde stand er nur auf der Stelle, während Lulu wie eine Irre um
ihn herumsprang.
In diesem Augenblick sah er mir ganz zufällig in
die Augen. Er bemerkte, wie ich ihn anstarrte, und blickte betont
zur Decke. Ganz offensichtlich nicht, um der Artistin vom Cirque du
Soleil zuzusehen. Sondern so, als wolle er mir signalisieren: Ist
das nicht unglaublich? Doch gleichzeitig lächelte er. Also
bedeutete sein Blick zur Decke höchstwahrscheinlich: Ich weiß,
ich weiß. Das hier ist total verrückt … aber irgendwie macht es
doch auch riesig Spaß!
Da dämmerte mir, dass die Lage gar nicht so
aussichtslos war. Immerhin hatte ich scheinbar einen Draht zu
jemandem, der die Dinge ähnlich sah wie ich.
Komisch war nur, dass das ausgerechnet Nikkis
Bruder Steven war.
Vielleicht, so dachte ich, hatte Frida ja recht.
Wenn auch nur ein klein wenig. Und zwar nicht in Bezug auf ihren
Vorwurf, ich würde mich langsam in Nikki Howard verwandeln, sondern
in dem Punkt, dass ich eine neue Familie gefunden hatte. Vielleicht
verschaffte ich mir ja tatsächlich ganz ähnlich wie Lulu eine neue
Familie… eine, die meine alte Familie mit einschloss.
Das war allerdings nicht so überraschend wie das,
was als Nächstes passierte: Die Menge teilte sich, und dann sah ich
etwas, womit ich nicht in einer Million Jahren gerechnet
hätte.
Es war ein Mitglied meiner alten Familie: meine
Schwester Frida nämlich. Sie tanzte mit Brandon Stark.
Ich hatte keinen Schimmer, was sie hier machte.
Offensichtlich hatte sie sich einfach selbst eingeladen, denn ich
hatte ihr ja ganz entschieden meine Zustimmung verweigert.
Was noch schlimmer war: Sie trug ein krass knappes
Kleid, ungefähr so groß wie zwei Taschentücher, die man
aneinandergenäht hat. (Okay, vielleicht übertreibe ich ein kleines
bisschen, aber bestimmt nicht viel.) Sie ließ ihre Hüften kreisen,
als würde sie sich für Miley Cyrus oder jemand Ähnlichen halten.
Das war ganz und gar nicht cool. Ich fand das so dermaßen uncool,
dass ich zu ihr rübermarschierte, um ihr gehörig meine Meinung zu
geigen. Doch da vernahm ich eine vertraute Stimme, die meinen Namen
rief. »Nikki.« Ich wirbelte herum.
Kein Mensch auf der Welt hätte mich in diesem
Moment davon abbringen können, meine Schwester umzubringen. Nicht
ein einziger Mensch. Außer vielleicht die zweitletzte Person, die
ich nach meiner Schwester am allerwenigsten auf der Party vermutet
hätte: nämlich Christopher.
Was machte der denn hier? Ich hatte ihn doch
gar nicht eingeladen. Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen,
jetzt wo er zur dunklen Seite übergewechselt war.
Ich hatte ihm doch schon alles gegeben, worum er
mich gebeten hatte. Was wollte er denn jetzt noch von mir?
Dann schaute ich ihm ins Gesicht, und meine
Verblüffung verwandelte sich sogleich in Besorgnis: Christopher war
kreidebleich. Was war denn mit dem los?
Auf einmal traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag:
Oh mein Gott! Man hatte Felix festgenommen. Ich wusste es! Ich
wusste, dass das passieren würde! Sie hatten uns in Christophers
Wohnung doch belauscht. Klar hatten sie uns belauscht! Ich hatte ja
damals den Störsender noch gar nicht gehabt.
Als Nächstes würden sie sich Christopher schnappen.
Er
war auf der Flucht! Und nun war er zu mir gekommen, um mich um
Hilfe zu bitten.
Da wurde mir klar… Sosehr ich mir auch eingeredet
hatte, dass ich mir nichts mehr aus Christopher machte und dass ich
ihn McKayla Donofrio überlassen würde, merkte ich jetzt, dass ich
mich selbst belogen hatte. Ich liebte ihn. Ich würde ihn immer
lieben. Und ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn
vor den Bullen zu verstecken. Selbst dann, wenn er mich nie
beachtet hätte, würde ich das tun.
Denn für Menschen, die man liebte, nahm man so
etwas nun mal auf sich. Selbst wenn diese Leute einen nicht
ebenfalls liebten.
»Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte Christopher
mich. Er musste fast schreien, damit ich ihn über das Hämmern der
Musik verstehen konnte.
»Was ist denn los?« Die Angst schnürte mir die
Kehle zu. Doch war es eine andere Art von Angst als die, die ich
verspürt hatte, als ich Frida auf der Party entdeckt hatte, wie sie
in ihrem Taschentuchkleidchen mit Brandon tanzte. Eigentlich war
ich bei dem Anblick eher genervt gewesen. Ich brauchte mir aber
keine Sorgen zu machen, dass sie Ärger bekommen würde, wo doch
Lauren Conrad gleich neben ihr vor laufender Kamera tanzte und die
ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Ist …«
Christopher schien meine Gedanken gelesen zu haben.
Er schüttelte den Kopf.
»Alles in Ordnung«, beruhigte er mich. »Na ja,
zumindest fast alles. Ich rassle in der Schule möglicherweise
durch. Aber sonst… Und übrigens, tut mir leid, dass ich einfach so
bei eurer Party auftauche. Aber ich muss wirklich dringend mit dir
reden. Hör mal, können wir nicht irgendwo hingehen, wo wir
ungestört sind? Wo ist denn dein Zimmer?«
»Da drüben«, sagte ich und deutete in die
Richtung.
»Prima.« Christopher legte mir seinen Arm um die
Hüften. Und ehe ich es mich versah, zog er mich auch schon hinter
sich her durch das überfüllte Loft auf die Tür zu meinem Zimmer zu.
Es schien ihn nicht zu interessieren, mit wie vielen Leuten wir auf
dem Weg zusammenstießen - mit Caterern, die Drinks austeilten,
Models von der Stark-Angel-Show, deren Telefonnummern Brandon
offensichtlich eingesammelt hatte, um sie alle zur Party
einzuladen, Fashionistas und Karl dem Türsteher, der witzigerweise
mit Katerina tanzte, weil sie offensichtlich beide einen über den
Durst getrunken hatten. Es war nicht zu übersehen, dass Christopher
so schnell wie möglich an ein ruhigeres Plätzchen wollte.
Als wir schließlich allein in meinem Zimmer waren,
ließ er meine Hand los und drehte sich zu mir um. Er hatte sich
noch nicht einmal die Mühe gemacht, eine Lampe einzuschalten. Er
stellte sich einfach in das Licht, das von draußen durch das
raumhohe Fenster drang.
Erwartungsvoll stand ich da und sah ihn an, ganz
leicht außer Atem, da er mich so schnell hinter sich hergezerrt
hatte. In meinem Zimmer war es um einiges ruhiger. Von draußen
hörte man immer noch das unglaublich laute Stampfen der Musik, aber
hier drinnen konnte man wenigstens in Ruhe denken. Da das Gebäude
früher eine Polizeiwache beherbergt hatte, waren die Räume
einigermaßen schallgedämmt. Wahrscheinlich hatten die
Polizeioberwachtmeister von früher einfach keine Lust gehabt, sich
die Schreie der Gefangenen anzuhören, wenn diese in ihren Zellen
gefoltert wurden.
»Also, was gibt es denn so Dringendes«, fragte ich
ihn, »was du mir nicht auch dort draußen hättest sagen
können?«
Ehe ich es richtig mitbekam, hatte er auch schon
ohne ein
Wort mein Gesicht in beide Hände genommen und es so zu sich
hingedreht, dass wir nur noch wenige Zentimeter voneinander
entfernt waren.
Und dann küsste er mich.
Christopher Maloney gab mir tatsächlich gerade
einen Kuss.
Es war kein besitzergreifender oder fordernder
Kuss. Er presste seine Lippen nicht auf meine, so wie manche Typen
das taten - okay, so wie Brandon das tat -, wenn sie eine Chance
bekamen, Nikki Howard zu küssen. Das wirkte dann immer gleich so,
als würden sie sie besitzen wollen oder so.
Nein, es war ein ganz normaler, zärtlicher Kuss. Es
war fast so, als … Na ja, wenn ich es nicht besser gewusst hätte,
hätte ich gesagt, er küsste mich so, als würde er mich
lieben.
Aber Christopher war doch gar nicht in Nikki Howard
verliebt. Er liebte Em Watts!
Dennoch ging mir dieser Kuss durch und durch, von
den Lippen direkt runter in meine pulsierenden (wegen meiner zu
engen Schuhe von Jimmy Choo) Zehen. Meine Lippen prickelten, als
hätten tausend winzige Bienen ihren Stachel darin versenkt. Oder
als hätte man sie mit einer Tonne Lip-Plumper der Marke Lip Venom
zugekleistert.
Oh Mann, war alles, was mir in dem Moment
einfiel. Christopher küsste mich. Christopher Maloney küsste mich
wirklich.
Auch wenn die Leute ständig behaupten, dass die
Realität so gut wie nie an die Fantasie herankommt, tja, in dem
Fall tat sie das sehr wohl. Dass Christopher mich jetzt küsste,
fühlte sich ganz genau so an, wie ich es mir in meiner Vorstellung
immer ausgemalt hatte … Genauso liebevoll und gut und
elektrifizierend, wie ich es mir erträumt hatte - damals, als ich
noch naiv genug gewesen war, davon zu träumen, dass Christopher
Maloney mich jemals küssen würde, noch vor meinem Unfall. Denn
nach meinem Unfall hatte ich alle meine Träume fahren lassen
müssen. Nach dem Unfall hatte ich keinen Grund mehr gehabt, zu
träumen …
Aber jetzt… Der Traum, den ich in meiner Fantasie
am häufigsten durchlebt hatte, während ich im Rhetorikkurs gesessen
hatte, erfüllte sich gerade jetzt, in diesem Moment. Nicht nur dass
Christopher mich küsste, nein, er hob mich auch noch hoch - weil
meine Beine angesichts des Schocks nachzugeben schienen. Nein, im
Ernst: Er hatte mir echt den Arm unter meine einknickenden Knie
geschoben und mich hochgehoben, und dann trug er mich zum
Bett.
Moment mal, passierte das hier gerade
wirklich?
Aber es musste ja so sein. Denn ich konnte ganz
deutlich die Nieten von seiner Lederjacke spüren, die sich durch
das dünne Material meines Kleides in meine Haut bohrten. Das
konnte ich nun ja ganz entschieden nicht träumen.
Und dann spürte ich auch noch meine weiche,
kuschelige Bettdecke in meinem Rücken, als er mich sanft auf das
Bett legte.
Als Nächstes fühlte ich seinen strammen Körper, als
er sich auf mich drauflegte. Eigentlich logisch, dass all das
tatsächlich passierte. Ich konnte es mir doch unmöglich ausmalen,
genauso wenig wie das konstante Bumm-Bumm-Bumm der Musik von
nebenan, die voll im Takt mit dem Bumm-Bumm-Bumm von meinem
pochenden Herzen zu sein schien …
Und erst die Tatsache, dass seine Lippen, die so
nah an meinen waren, ganz leise meinen Namen murmelten, Em,
ehe er mich erneut küsste. Ein Kuss, der so intensiv und voller
Verlangen war, dass ich ihn unmöglich länger als zärtlich hätte
bezeichnen können. Dieses Mal nicht. Nicht jetzt, da jeder
Zentimeter meiner Haut und jeder Teil meines Körpers
so sehr zu kribbeln und so unglaublich intensiv zu fühlen
schienen, wo er mich mit dem seinen berührte. Und schon gar nicht,
wo mir mit einem Schlag so richtig bewusst wurde, dass er auf mir
lag, ein Bein zwischen die meinen geschoben.
Alles, was noch zwischen uns stand, waren nur ein
Hauch von Stoff und ein bisschen Leder.
In der Sekunde raffte ich endlich, was er da gerade
gesagt hatte, welchen Namen er gesagt hatte. Endlich drang diese
einzelne Silbe zu meinem kussvernebelten Gehirn durch.
»Wie hast du mich da gerade genannt?«,
fragte ich, während ich meine Lippen gewaltsam von seinen
löste.
»Ja, ich weiß«, meinte er. Nachdem ich mit dem Kopf
zurückgewichen war, konnte er meine Lippen nicht länger erreichen.
Deshalb küsste er kurzerhand meinen Hals. Ich brauche wohl nicht zu
betonen, dass mich das ziemlich aus dem Konzept brachte. Denn es
fühlte sich echt verdammt gut an. Eigentlich sogar noch viel besser
als eine Nackenmassage.
Als er wieder zu sprechen begann, klang seine
Stimme kehlig vor Erregung, ein Knurren fast, so aufgewühlt war er.
»Ich weiß, dass du es bist, Em.«
»Du weißt was?« Jetzt war ich mir allerdings
absolut sicher, dass ich träumte und dass ich jeden Moment zu
Bewusstsein kommen würde, wie immer halt. Vielleicht würde ich ja
dieses Mal am Grunde des Ozeans irgendwo bei Saint John aufwachen.
Vielleicht hatte ich die Insel ja nie verlassen, und alles, was
seither passiert war, war nichts als ein einziger, langer Albtraum,
in dem ständig McKayla Donofrio auftauchte.
»Deine Akte«, murmelte Christopher, die Lippen
immer noch an meinem Hals. »Ich hab sie gelesen. Das Stark
Institute für Neurologie und Neurochirurgie hat nicht die nötige
Sorgfalt walten lassen, als es sich für ein ausländisches
IT-Beratungsunternehmen entschieden hat.«
Okay, das klang jetzt aber überhaupt nicht
wie der Teil eines Traums … oder wie irgendwas, was mir je in den
Sinn gekommen wäre.
»Wie bitte?«, sagte ich, plötzlich ganz klar bei
Verstand.
»Stark wollte ein wenig sparen«, meinte
Christopher. Seine Lippen klebten unverändert an meinem Hals. »Und
das ist absolut nicht ratsam, wenn es um das eigene Netzwerk
geht.«
Moment mal, eine Sekunde.
»Ich bin sowieso überrascht, warum noch nie jemand
hinter die ganze Sache mit den Ganzkörpertransplantationen gekommen
ist. Die führen sie ja schon eine ganze Zeit lang durch.«
Christophers Stimme klang immer noch tief und kehlig. »Es wird wohl
nicht mehr allzu lange dauern, bis die Presse Wind davon bekommt,
was die dort treiben.«
Moment mal … Hallo? Christopher wusste Bescheid? Er
wusste tatsächlich Bescheid?
»Es ist nicht … Ich hab keine Ahnung, worüber du
sprichst«, wehrte ich ab. Noch während ich dies sagte, dachte ich
in völliger Verwirrung: Nein, Moment … der akustische
Rauschgenerator. Stark kann mich ja gar nicht mehr belauschen. Ich
kann es ruhig zugeben. Ich kann ihm jetzt die Wahrheit
sagen.
Aber alte Gewohnheiten legt man nun mal nicht so
leicht ab.
»Em.« Christophers Lippen wanderten meinen Hals
hoch zurück zu meinem Mund. »Alles ist in Ordnung. Ich weiß
Bescheid. Ich weiß, dass du es mir nicht sagen konntest. Ich weiß,
dass du es versucht hast. Aber jetzt bin ich ja hier. Alles wird
gut. Du weißt, dass ich dich immer geliebt habe.«
Es war einfach fantastisch, was sein Mund jetzt mit
mir machte. Und die Dinge, die er da von sich gab, die waren sogar
noch erstaunlicher. Es war genau das, wovon ich immer geträumt
hatte. Und doch war all das schier unglaublich.
»Du hast mich immer geliebt?«, wiederholte ich
seine Worte.
»Na klar hab ich das.« Christopher blickte auf mich
herab. Obwohl er noch Sekunden vorher total selbstbewusst gewirkt
hatte, schien er jetzt ein wenig verwirrt zu sein. »Das weißt du
doch. Ich meine, du hast doch mitgekriegt, was für ein Häufchen
Elend ich nach deiner Beerdigung war. Em, als du gestorben bist …
Mir hätte es fast das Herz zerrissen. Und als ich dann herausfand,
dass du noch am Leben bist - ich kann dir gar nicht sagen, wie
…«
Keine Ahnung, weshalb ich nicht einfach nur
daliegen und genießen konnte, was hier mit mir geschah. Warum ich
nicht einfach akzeptieren konnte, was er mir da ins Ohr flüsterte,
und vergaß, dass er mir früher, als ich noch diesen schiefen Zahn
hatte und nicht aussah wie eine Göttin, dass er mir damals nicht
auch schon gesagt hatte, dass er mich liebte. Ich meine, ich war
natürlich in meinem Inneren immer noch dieselbe Person wie damals.
Was machte es also für einen Unterschied?
Und trotzdem …
Es machte mir etwas aus.
Ich stieß ihn von mir weg.
Sichtlich verblüfft beobachtete er, wie ich mich
unter ihm hervorwand, aus dem Bett kletterte - ganz vorsichtig,
damit ich nicht aus Versehen auf Cosabella drauftrat, die
herübergetrottet war, um zu sehen, was hier vor sich ging -, und
eines der Fenster öffnete, um den Straßenlärm von unten und einen
Stoß kalter Winterluft einzulassen.
Ich wusste, dass keinerlei Gefahr bestand, dass
Stark uns belauschte. Das war nicht länger das Problem. Ich
brauchte nur ein wenig frische Luft, um klarere Gedanken fassen zu
können.
»Wenn du mich so sehr geliebt hast, wie du sagst«,
mit diesen Worten drehte ich mich zu ihm um und sah ihn
herausfordernd an, »weshalb hast du dann nie versucht, mich zu
küssen, solange ich noch in meinem alten Körper steckte?«
»Oh mein Gott«, stieß Christopher aus, wobei seine
Stimme jetzt wieder eher so wie immer klang. Nicht länger tief und
kehlig. Er blinzelte mich vom Bett aus an. Er schien nicht glauben
zu können, was hier passierte. »Willst du wirklich damit anfangen?
Ausgerechnet jetzt?«
»Na klar«, meinte ich. »Das will ich. Immerhin
scheinst du erst so richtig bemerkt zu haben, dass ich überhaupt
existiere, als ich gestorben bin. Für dich war ich doch immer nur
jemand, mit dem man prima Journeyquest spielen konnte. Als
Mädchen hast du mich doch nie wahrgenommen. Und ich halte es
durchaus für angemessen und vernünftig, dass ich dich jetzt um eine
Erklärung bitte. Ist das so schwer zu verstehen? Und was meinst du
überhaupt damit, alles wird gut? Wie soll denn jemals wieder
irgendwas gut werden? Du nimmst das in die Hand und kümmerst dich
um alles, weil du ja der große Macker bist und ich nur ein
schwaches kleines Mädchen, das mit der Situation nicht klarkommt?
Lass dir eines gesagt sein, Christopher: Ich komme ganz gut klar
mit der Situation, und wie ich das tue.«
»Ja, klar«, sagte Christopher, während er sich
aufsetzte. »Erst lässt du dir den Kopf mit einem Flachbildfernseher
spalten. Dann lässt du dir dein Gehirn in den Körper eines
Supermodels verpflanzen. Du machst das alles echt gut, Em, hast
alles im Griff.«
So toll es sich anfühlte, zu hören, wie er mich
noch einmal Em nannte - das war echt eine bewegende Erfahrung für
mich -, wollte ich ihm am liebsten eins überziehen, weil er so
sarkastisch war.
»Oh«, sagte ich. »Du musst ja gerade reden, du mit
deiner bescheuerten Idee, dich bei Stark Enterprises einzuhacken.
Als ob das jemals klappen würde.«
»Wenn du es genau wissen willst, es klappt
längst. Immerhin hab ich ja die Wahrheit über dich rausgefunden,
oder etwa nicht? Und wenigstens hatte ich eine Idee«,
erwiderte Christopher eingeschnappt. »Wie sieht dein Plan denn aus?
Willst du eine Party schmeißen und Lauren Conrad und DJ Drama dazu
einladen?«
Ich durchquerte den Raum und baute mich direkt vor
ihm auf. »Das war nicht meine Idee. Und nur zu deiner Information:
Ich war viel zu beschäftigt mit der Suche nach Nikki Howards
verschwundener Mom.«
»Ist dir eigentlich jemals in den Sinn gekommen«,
fragte Christopher jetzt und ignorierte meine Worte total, »dass es
zwischen diesen beiden Ereignissen eine Verbindung geben
könnte?«
Ich warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Wovon,
bitte schön, sprichst du?«
»Na, dass Nikkis Mutter verschwunden ist«, erklärte
Christopher nachdenklich, »und das, was mit dir passiert
ist.«
Ich starrte ihn sprachlos an. Der Gedanke war mir
tatsächlich auch schon gekommen. Aber ich hätte nie gedacht, dass
das irgendjemand außer mir ernst nehmen könnte. Na ja, niemand
außer mir und Steven.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber du hast wohl zu
viel von dem Litschitini erwischt.«
»Den hab ich nicht angerührt«, wehrte Christopher
ab, wirkte aber so, als hätte er gelogen. So wie früher, als wir
noch jung waren und unser ganzes Geld zusammenlegten, um uns unten
am St. Mark’s Place bei Kim’s PC-Spiele zu besorgen, die erst »ab
18« freigegeben waren. »Vielleicht hat Nikkis
Mom ja irgendwas herausgefunden, was sie nicht hätte wissen
dürfen. Und hast du dir schon mal überlegt, dass unter Umständen
auch Nikki irgendwas wusste?«
»Nikki?« Ich hob den Kopf, um ihm in dem schwachen
Dämmerlicht, das durch die riesigen Fenster fiel, ins Gesicht zu
sehen. »Du denkst, dass Nikki - wovon redest du eigentlich,
Christopher?«
»Was ich damit sagen will, ist: Es gab keine
Unfälle, Em.« Seine blauen Augen musterten forschend mein Gesicht.
»Gibt es irgendjemanden, der genau sagen kann, was an dem Tag mit
Nikki passiert ist? Sie ist zusammengebrochen und nicht wieder
aufgestanden. Die von Stark behaupten, es habe sich um ein
Aneurysma gehandelt. Aber woher wollen wir wissen, dass das stimmt?
Felix und ich haben alles überprüft, konnten aber keine einzige
medizinische Akte zu ihrer Person finden … Nur deine Akte, die
haben wir aufgestöbert.«
Ich öffnete den Mund. Es kam mir total komisch vor,
dieses Gespräch zu führen, in meinem Zimmer, und zwar ausgerechnet
mit Christopher. Ich hatte ihn so sehr vermisst, und jetzt war er
hier, bei mir, und endlich, endlich war geschehen, was ich niemals
für möglich gehalten hatte …
… und nun stritten wir uns.
»Selbstverständlich wissen wir nicht genau, was an
dem Tag mit Nikki passiert ist«, fuhr Christopher fort, ehe ich
etwas erwidern konnte. »Vielleicht werden wir auch nie die Wahrheit
herausfinden. Wir müssen uns ganz einfach auf Starks Behauptung
verlassen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Was willst du damit
sagen? Dass sie nie ein solches Aneurysma erlitten hat? Also echt,
Christopher, das ist doch völlig verrückt.«
Dumm nur, dass Steven exakt dasselbe gesagt
hatte.
Christopher zuckte mit den Schultern. »Es gab keine
Unfälle.
Nikki war das Gesicht von Stark. Die haben Millionen in sie
investiert. Sie war zu wichtig für sie, als dass sie riskieren
konnten, sie zu verlieren. Wie du selbst wohl nur allzu gut weißt.
Gerade jetzt wo sie diese Megakampagne starten und diesen PC auf
den Markt bringen mit verbesserter Software und der neuen Version
von Journeyquest. Doch wegen ihres Gehirns wurde sie nicht
engagiert, nicht wahr?«
Ich wurde sauer. »Das Modelgeschäft ist gar nicht
so einfach, wie alle denken«, fuhr ich ihn an. »Das ist wirklich
richtig harte Arbeit. Versuch mal, so zu tun, als würdest du dich
wohlfühlen in hautengen Lederhosen, während du unter einer ganzen
Reihe sengend heißer Lampen stehst, und das stundenlang …«
»Sieh mal, Stark Enterprises … diese ganze
Organisation ist völlig außer Kontrolle geraten.« Christophers
Blick ließ kein Mitleid mit mir erkennen. Na ja, Mitleid hätte wohl
kein Mensch mit mir gehabt. Wenn man Tausende von Dollar damit
verdiente, dass man für ein paar Stunden in Lederhosen unter ein
paar heißen Lampen stehen musste, dann brachte man kein
allzu großes Opfer. Aber nach einer gewissen Zeit verlor man
leider ziemlich schnell den Blick für das Wesentliche. »… eine
ungesicherte drahtlose Verbindung, das ganze Netzwerk ist total
falsch konfiguriert. Da fragt man sich echt.«
Ich dachte an den Computer, den ich vorgefunden
hatte, als ich zum ersten Mal Nikkis Schlafzimmer betreten hatte.
Er war mit Spionagesoftware infiziert gewesen. Genau wie der von
Lulu, das hatte ich überprüft. Ich hatte den neuen PC, den Robert
Stark mir vorhin erst geschenkt hatte, noch nicht aus der Schachtel
herausgenommen, aber wer konnte schon so genau sagen, was mit dem
alles nicht stimmte.
»Du glaubst doch nicht etwa …« Ich bekam kaum mehr
Luft.
»Ich weiß nicht, was du denkst«, meinte
Christopher. »Ich weiß nur, dass da irgendwas faul ist. Irgendwas,
was keiner wissen darf. Irgendwas, das Nikki - und wahrscheinlich
auch ihre Mom - zufällig herausgefunden hat, wie ich vermute. Und
Stark wollte beide zum Schweigen bringen. Und dann kamst du und
warst zur falschen Zeit am richtigen Ort.«
»Moment mal.« Mir war kalt. Daran war nicht allein
der eisige Wind schuld, der zum offenen Fenster hereinwehte. »Du
glaubst also, Stark könnte Nikki umgebracht haben? Nur weil
sie etwas wusste, was sie nicht hätte wissen dürfen?«
»Na ja, die haben sie doch gar nicht umgebracht,
oder?« Christopher lächelte mich bitter an. »Sie sitzt ja direkt
vor mir.«
Ein Zittern durchfuhr meinen Körper. »Du weißt
genau, was ich meine.«
»Klar weiß ich, was du meinst«, erklärte er. »Und
um deine Frage von vorhin zu beantworten: Ja, ich halte es durchaus
für möglich … ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, dass sie
heimlich, still und leise ihr Gehirn entfernt haben.«
»Mein Gott«, hauchte ich.
Es war schon irgendwie komisch, jetzt wieder mit
Christopher zu reden. Na ja, ich hatte in letzter Zeit ja schon ein
paar Mal mit ihm gesprochen. Klar. Aber dabei war ihm nicht klar
gewesen, dass ich es war, mit der er sich unterhielt.
Es gab keinen Zweifel, dass er mich jetzt am
liebsten wieder berührt hätte, so wie er immer wieder seine Hand
hob und dann im letzten Moment die Finger durch sein Haar fahren
ließ oder stattdessen mit der Decke auf meinem Bett
herumspielte.
Ich wusste genau, wie er sich fühlte. Aber ich
wollte keinesfalls irgendwas überstürzen. Viel zu viele
unbeantwortete Fragen gingen mir durch den Kopf und meine erste
Frage hatte er mir zudem immer noch nicht beantwortet.
»Du denkst aber, dass Nikkis Mom noch am Leben
ist«, stellte ich nun fest. »Zumindest hat Felix das zu Steven
gesagt.«
»Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass sie tot
ist«, sagte Christopher mit fester Stimme.
»Aber wo steckt sie dann?«, wollte ich
wissen.
»Irgendwo da draußen«, meinte er und deutete mit
einem Kopfnicken in Richtung der hellen Lichter der Großstadt, die
hinter dem offenen Fenster zu erkennen waren. »Kein Mensch
verschwindet einfach so für immer. Das ist echt verdammt schwer.
Selbst wenn man Leute im Zuge eines Zeugenschutzprogramms mit einer
völlig neuen Identität ausstattet, können diese Menschen nicht
gegen das Gefühl an, ihren Freunden von früher ein Zeichen zu
senden, selbst wenn sie damit ihr Leben aufs Spiel setzen. Das ist
nun mal die Macht der Gewohnheit. Alle machen früher oder später
diesen Fehler. Du hast es auch getan, mit deinen
Dinosaurier-Stickern. Ich war nur zu dämlich, das zu
kapieren.«
Ich spürte, wie ich knallrot anlief. Ich konnte
immer noch nicht glauben, dass ich das wirklich getan hatte.
Seine Worte lösten irgendeine Erinnerung tief in
den hintersten Winkeln meines Gehirns aus. Das ist die Macht der
Gewohnheit. Alle machen früher oder später diesen Fehler.
Was war es? Woran hatte mich das bloß
erinnert?
Christopher griff nach meiner Hand. »Das einzige
Problem an der Sache ist, dass du recht hast. Ich war wirklich ein
Idiot. Ein Idiot, dass ich überhaupt nicht mitbekommen hab, wie
toll das zwischen uns war. Das ist mir wohl erst in dem Moment so
richtig klar geworden, als ich dich verloren habe. Und dann … im
Ernst, Em, ein Teil von mir ist ebenfalls gestorben. Nachdem das
passiert war, konnte ich an nichts anderes mehr denken als daran,
wie ich mich am besten an Stark rächen könnte …«
»Aber jetzt, da du die Wahrheit kennst«, erwiderte
ich, während ich ihm meine Hand sanft entzog, »musst du einsehen,
dass du das nicht kannst. Du kannst denen nichts anhaben,
Christopher. Denn sie haben meine Familie in der Hand. Und wenn
das, was geschehen ist, publik wird, dann lassen die von Stark das
meine Eltern spüren.«
»Das werden wir ja sehen«, sagte Christopher
zuversichtlich. Er stand auf und legte mir beide Hände auf meine
nackten Schultern. »Ich hab es dir gesagt. Ich kümmere mich schon
um alles.«
Ich wollte ihm ja wirklich liebend gern glauben. Es
wäre so wunderbar gewesen, wenn ich das zulassen hätte können. Wenn
ich mich hätte entspannen und die Sache ihm überlassen können. Als
er mich nun an sich heranzog und mir den allerzärtlichsten Kuss auf
die Stirn gab, sog ich den Duft seiner Lederjacke ein, ließ die
Wärme, die von seinem starken Körper ausging, auf mich wirken. Es
fühlte sich so gut an, seine Arme um mich zu spüren, zu merken, wie
unsere beiden Herzen im Takt schlugen. Zum ersten Mal, so lange ich
denken kann, fühlte ich mich behütet und geborgen und - na ja,
nicht allein.
Dann fuhr plötzlich ein eisiger Windstoß durch das
Fenster ins Zimmer und schickte mir einen Schauer über den
Rücken.
Eine Sekunde später wurde die Tür zu meinem Zimmer
aufgerissen, und eine ziemlich männliche, ziemlich überrascht
klingende Stimme rief: »Nikki?«
Als ich den Kopf zur Tür drehte, sah ich Brandon
dort stehen. Durch das Halbdunkel starrte er uns beide an.