SIEBEN
Am allernötigsten werde ich die Therapie wohl
haben wegen des Gesichtsausdrucks, den meine Mom jedes Mal
aufsetzt, wenn ich die Wohnung betrete.
So wie gerade eben. Nachdem ich den Portier schon
wegen meiner Identität angeschwindelt hatte, sagte ich: »Hi Mom.
Ich bin’s.«
Da flackerte bei ihr wie immer dieses begeisterte
Leuchten auf. Aber nur für einen kurzen Moment, denn es wurde
sofort abgelöst von einem Ausdruck der Enttäuschung, dann der
Resignation. Sie erwartete wohl immer noch die alte Em und
stattdessen kam Nikki daher. Na ja, zumindest was das Äußere
betraf. Deshalb war sie jedes Mal für den Bruchteil einer Sekunde
enttäuscht, wenn sie mich sah. Zwar war es jedes Mal auch
blitzschnell vorüber und sie zeigte dann wieder ihr normales
ach-so-du-bist-das-Gesicht. Aber es passierte wirklich jedes Mal.
Denn die Wahrheit war nun mal: Ich war nicht ihre Tochter.
Zumindest nicht so ganz. Nicht mehr.
Vielleicht im Inneren. Aber nicht äußerlich.
Und mein neues Ich hatte sie eben noch nicht
akzeptiert. Nicht komplett.
Allerdings konnte man ihr das ja nicht wirklich zum
Vorwurf machen.
»Oh, Em, Liebling«, sagte sie. Der Funke der
Enttäuschung war verschwunden, und sie erkannte mich, eine fast
Fremde, groß und blond mit einem winzigen Hündchen im
Regenmäntelchen, das neben mir herumtänzelte. Na ja, sie wird mich
wohl nie voll und ganz akzeptieren - zumindest nicht in Nikkis
Körper, es sei denn, ich entledige mich des Pudels, höre auf, mir
die Haare zu waschen, lege fünfzig Kilo zu und fange wieder an,
nichts anderes als Sweatshirts zu tragen wie mein altes Ich.
Menschen sind schon komisch. »Ich kann nicht glauben, dass du bei
dem Wetter hergekommen bist! Solltest du heute nicht eigentlich in
Aruba sein?«
»Saint John«, korrigierte ich sie und beugte mich
zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss zu geben. Vor dem Unfall war
meine Mutter größer gewesen als ich. Jetzt war ich sogar noch
größer als Dad. Selbst in meinen flachen Fake-Uggs von Stark
überragte ich sie beide. »Wir sind heute Morgen zurückgeflogen. Ich
bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Ich hatte nicht vor, ihr
von meinem lange verschollenen Bruder zu erzählen, der in der Lobby
auf mich gewartet hatte. Keine Ahnung, weshalb. Sie hatte einfach
selbst schon genug Probleme und ich wollte sie nicht auch noch mit
meinen Sorgen belasten. Stattdessen schälte ich mich aus meinen
Regenklamotten, die sich in der überhitzten Wohnung langsam mit
Schweiß vollsogen. »Was hab ich da gehört von einem
Cheerleader-Camp?«
Mom verdrehte genervt die Augen und fauchte: »Fang
mir bloß nicht davon an.«
Genau in diesem Augenblick kam Frida aus ihrem
Zimmer gestürmt, weil sie mich hereinkommen gehört hatte.
»Du bist tatsächlich da!« Ihre Augen waren vor
Aufregung
ganz groß. »Du bist echt der Wahnsinn! Hast du Lulu
mitgebracht?«
Wenn es darum ging, wen oder was meine Schwester
»cool« fand, so rangierte Lulu Collins gleich hinter Nikki Howard.
Dass beide nun zu ihrem alltäglichen Leben gehörten, und zwar
wirklich nahezu auf täglicher Basis, hatte sie in eine Art Nirwana
für weibliche Teenies befördert, aus dem es für sie wohl keine
Rettung gab, jedenfalls nicht, bevor sie nicht aufs College
ging.
»Äh, Lulu hat zu tun«, erklärte ich und hielt es
nicht für nötig, zu erwähnen, dass Lulu damit beschäftigt war, an
meine Decke zu starren und ihre Vermählung mit Nikki Howards
entfremdeten großen Bruder zu planen. »Ist Dad da?«
»Dad ist zurück nach New Haven gefahren«,
verkündete Frida angriffslustig. »Er konnte die ewigen Streitereien
nicht länger ertragen.«
»Es gab keine Streitereien«, verbesserte Mom sie.
»Ein Streit würde bedeuten, dass die Ursache des Streits
verhandelbar ist, was in diesem Fall nicht zutrifft.«
Frida warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Siehst du?«, sagte sie verzweifelt.
Mom sah mich finster an. »Und ich kann nicht
glauben«, fügte sie hinzu, »dass du es die ganze Zeit gewusst und
mir nichts davon verraten hast.« Dabei machte sie sich auf den Weg
zurück zum Sofa und zu ihrer Sunday Times, die sie um sich
herum ausgebreitet hatte, was am Wochenende ihre übliche
Beschäftigung war.
»Also bitte«, protestierte ich schwach. Wenn die
nur wüsste, was ich alles weiß und wovon ich ihr noch nichts
erzählt habe. »Mal ehrlich, ich versteh echt nicht, was daran
falsch sein soll. Cheerleading ist ja immerhin eine anerkannte
Sportart.«
Mom hatte noch nicht mal von ihrem Wochenrückblick
aufgesehen. »Nenn mir bitte eine Sportart, der man in einem
Minirock nachgeht«, bemerkte sie ungerührt.
Ich hätte beinahe laut losgelacht, denn ich hatte
es bei Frida mit exakt demselben Argument versucht, als ich das
erste Mal gehört hatte, dass sie Mitglied im Team werden
wollte.
»Na ja«, sagte ich. »Eiskunstläuferinnen tragen zum
Beispiel noch viel kürzere Röckchen und Eiskunstlauf ist sogar eine
olympische Disziplin. Und Gymnastik auch. Und im Grunde ist
Cheerleading ja nichts anderes als Gymnastik.«
Mom raschelte nur mit ihrer Zeitung. Auf der
Stereoanlage lief leise klassische Musik. Das ganze Apartment
wirkte so unglaublich gemütlich und warm, dass ich am liebsten
geheult hätte. Irgendwo, das wusste ich, lagen noch die Bagels rum,
die mein Dad heute Morgen bei H&H geholt hatte. Mit
Gemüse-Frischkäse. (Ich konnte leider keine Bagels mehr essen, weil
Nikki davon heftiges Sodbrennen bekam und dauernd aufstoßen musste.
Das bekam sie leider von allem, was aus Teig gemacht wurde.)
Doch Äußerlichkeiten konnten selbstverständlich
täuschen. Auch wenn die Wohnung urgemütlich wirkte, so konnte ich
mich doch nicht des Verdachts erwehren, dass sie ebenso verwanzt
war wie mein Loft auch. Ich konnte zwar nicht sagen, wo die Wanzen
sich befanden, doch ich war mir sicher, dass sie da waren und dass
Stark uns in diesem Moment belauschte. Hatte mich nicht Dr.
Holcombe bei meiner letzten Routineuntersuchung gefragt, ob ich es
tatsächlich für eine gute Idee hielt, wenn ich Lulu mit meiner
Familie zusammenbrachte? Das hätte er gar nicht wissen können, es
sei denn, Stark hätte mich belauscht, damals als Lulu und ich mit
einer Pizza in der Wohnung meiner Eltern vorbeigeschaut
hatten.
Hatte das Stark Institute für Neurologie und
Neurochirurgie
uns nicht alle mit brandneuen Stark-Mobiltelefonen ausgestattet,
auf denen wir untereinander telefonieren konnten? Mobiltelefone,
die um einiges stärker statisch aufgeladen waren als jedes andere
Handy, das ich je besessen hatte - meiner Meinung nach ein klarer
Beweis dafür, dass sie angezapft waren.
Nach all dem war es schwer vorstellbar, dass Stark
uns nicht ausspionierte, ganz besonders nachdem mein
Hosentaschen-Wanzendetektor - ja, ich war total ausgerastet und
hatte mir so ziemlich jedes Spionagezubehör zugelegt, dessen ich
habhaft werden konnte - jedes Mal wie verrückt zu heulen anfing,
wenn ich zur Tür reinkam. Ich wusste nicht, wo die Wanzen sich
befanden, aber sie waren hier irgendwo. Aus dem Grund hatte ich
meine Familie auch dazu gebracht, die weniger statischen
Mobiltelefone, die ich ihnen besorgt hatte und die nicht von Stark
waren, zu benutzen. Und ich fasste mich bei meinen Besuchen in
meinem alten Zuhause normalerweise recht kurz.
»Die Sache ist die«, sagte Frida zu Mom, »dass ich
mit dem Team ins Wintercamp fahren muss. Unser komplettes
Routineprogramm steht fest und ich bin die wichtigste Person. Ich
bin die ›Base‹, und ohne mich klappt im Grunde gar nichts, keine
Pyramiden, keine Stunts, keine Übung, bei der ein Flyer involviert
ist. Außerdem, wenn ich kein tadelloses Training absolviere, dann
wird sich möglicherweise jemand - womöglich sogar ich - schwer
verletzen. Was nicht heißen soll, dass unser Coach nicht großartig
ist, denn das ist sie wirklich, aber bei diesem einwöchigen
Trainingscamp lernen wir die richtigen Techniken, um Verletzungen
zu vermeiden, aber auch neue Stunts und Abläufe, mit denen wir die
Konkurrenz wegfegen werden. Zudem ist Cheerleading ein
ausgezeichnetes Wahlfach. Es macht sich echt gut bei der Bewerbung
fürs
College. Ich meine, willst du vielleicht, dass ich wie der letzte
Loser aussehe, so wie Em, die noch nie ein einziges Wahlfach belegt
hat?«
»Hey«, protestierte ich zu meiner eigenen
Verteidigung.
»Tut mir leid«, meinte Frida und warf mir einen
entschuldigenden Blick zu. »Aber ist doch wahr. Vor deiner
Operation hast du nach der Schule nie was unternommen, höchstens
mit Christopher am Computer gesessen - total langweilig. Jetzt
fliegst du wenigstens für Bademoden-Shootings auf irgendwelche
tropischen Inseln.«
Endlich ließ Mom ihre Zeitung sinken und sagte:
»Mir gefällt der Ton nicht, in dem du mit deiner Schwester
sprichst. Und ich möchte nicht, dass meine Töchter sich in ihrer
Freizeit mit Bademoden-Fotoshootings und menschlichen Pyramiden
beschäftigen.«
»Mom«, jaulte Frida und schickte sich an, sich
neben sie auf die Couch zu setzen. »Es ist doch viel mehr als das:
Ich lerne etwas über Teamwork, treibe Sport und lerne neue Leute
kennen, und gleichzeitig bleibe ich körperlich fit und gesund
…«
Mein Gesicht hellte sich ein wenig auf. In Wahrheit
war ich nämlich ein bisschen deprimiert gewesen, seit ich am
Nachmittag in der Lobby Steven Howard und nicht Christopher
vorgefunden hatte. Und dann waren da ja noch die News über Nikkis
Mom gewesen. Plus die Neuigkeit, dass ich jetzt einer von den
Stark-Engeln war. Das alles hatte nicht gerade dazu beigetragen,
dass ich mich seit dieser ganzen Tief-am-Grunde-des-Ozeans-Sache
besser fühlte.
Aber dass ich jetzt mitbekam, wie erwachsen Frida
die letzten paar Monate geworden war? Das baute mich wieder auf.
Ich meine, sie war nicht mal mehr halbwegs das weinerliche,
selbstsüchtige Kind, das sie vor meinem Unfall gewesen war.
Damals hatte sie noch ständig versucht, einfach nur ihren Willen
durchzusetzen. Die Zeiten waren vorbei.
»Daher ist es so wichtig, dass du mich in den
Ferien zu diesem Cheerleader-Camp fahren lässt«, sprach Frida
weiter. »Ich schwöre dir, ich mach auch nichts, weswegen du deine
Entscheidung bereuen müsstest, Mom. Denn das Beste an der Sache ist
ja, dass das Camp in Miami stattfindet, und zwar ganz in der Nähe
von dort, wo Grandma wohnt, in Boca Ranton. Wir fahren doch sowieso
in den Weihnachtsferien zu ihr. Also kann ich abends immer noch bei
euch sein, nur am Tag bin ich mit allen anderen im Camp. Ich brauch
noch nicht mal mit dem Rest des Teams im Hotel zu
übernachten.«
Hut ab! Frida hatte tatsächlich gelernt, wie man
Kompromisse einging und die Dinge aus anderer Leute Perspektive
betrachtete. Das war nun wirklich etwas, was sie bisher kaum, wenn
überhaupt, geschafft hatte. Ich konnte einfach nicht glauben, wie
groß meine kleine Schwester inzwischen geworden war. Sie war jetzt
praktisch schon eine reife junge Frau! Wenn man mal von der
Tatsache absah, dass sie eine kurze Hose trug, auf der hinten das
Wort SEXY stand.
»Das klingt doch völlig vernünftig«, sprang ich ihr
bei. »Wir könnten alle zusammen runterfliegen und bei Grandma
übernachten, und Frida kann mit ihren Freundinnen ins
Cheerleader-Camp abdüsen, während du, Mom, mit Dad und mir
gemeinsam bei Grandma bleibst. Wird das nicht ein
Riesenspaß?«
Bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, merkte
ich, dass sowohl Mom als auch Frida mich völlig entgeistert
anschauten. Ich hatte echt keinen Schimmer, wieso. Ich meine, wir
fuhren doch immer über die Ferien zu Grandma nach Boca. Mom ist
jüdisch und Dad nicht, daher wurden bei uns immer sowohl
Weihnachten (die säkularisierte Fassung mit
dem Weihnachtsmann) als auch Chanukka gefeiert. Grandma hatte nie
was dagegen gehabt, und es war total schön, Weihnachten am Strand
zu verbringen und endlich wieder ein wenig Sonne abzubekommen,
nachdem man schon die erste Hälfte des New Yorker Winters hinter
sich gebracht hatte.
Sollte das dieses Jahr etwa anders ablaufen? Das
schienen zumindest die Blicke von Mom und Frida auszudrücken.
»Em, Liebling«, brachte Mom schließlich hervor,
nachdem sie krampfhaft versucht hatte zu lächeln. »Du hast doch
nicht etwa geglaubt … ich weiß, wir haben nie darüber gesprochen,
aber ich bin einfach davon ausgegangen … Ich meine, du bist dir
darüber doch im Klaren, dass du dieses Jahr unmöglich mit zu
Grandma kommen kannst. Oder in einem der kommenden Jahre. Stark
wäre niemals damit einverstanden. Du weißt doch, dass du nicht mit
uns gesehen werden darfst. Wie sollten die es wohl erklären, wenn
Paparazzi zufällig ein Foto von uns allen am Strand von Florida
schießen während der Weihnachtsferien?«
Ich blinzelte sie verständnislos an.
Oh. Klar. Stark. Mein Arbeitgeber. Der Vertrag. Die
Leute, die meine Wohnung verwanzt hatten und mich ausspionierten …
möglicherweise. Wahrscheinlich.
Ganz bestimmt.
»Und ganz nebenbei bemerkt«, fuhr sie fort, »du
weißt doch, dass wir Grandma - wie eigentlich allen unseren
Verwandten - erzählt haben, du wärst … tot. Wie sollten wir ihr das
wohl erklären, dass Nikki Howard uns auf unseren Familienurlaub
begleitet? Du kannst dich ja unmöglich vor ihr als Em outen
…«
Natürlich. Die Todesanzeige. Meine Beerdigung. Die
Story auf CNN über meinen grauenvollen Tod, verursacht durch einen
Plasmabildschirm. Auch alle an meiner Schule hatten das
gesehen.
»Gut«, erklärte ich. Meine Knochen schienen schon
wieder bis ins Mark gefroren, wie schon vorhin draußen vor dem
Stark Megastore. Der Schauplatz des Unfalls, der für all das hier
verantwortlich war. Nur dass ich jetzt nicht draußen in der Kälte
stand und Nikki Howard von den Postern in unzähligen Schaufenstern
auf mich herablächelte. Es gab also keine vernünftige Erklärung
dafür, weshalb ich plötzlich glaubte, zu erfrieren. »Grandma denkt
also, ich bin tot.«
Wie dumm von mir, geglaubt zu haben, dass ich über
Weihnachten mit meiner Familie zu ihr fahren könnte. Wie dumm von
mir, die Tasche angeschleppt zu haben, die drüben bei der Tür
stand, voll mit Geschenken für sie alle. Ich hatte vorgehabt, sie
mit nach Florida zu Grandma zu nehmen, wo sie sie auspacken
sollten.
Alle waren der Meinung, ich sei tot.
Ich war jetzt Nikki Howard.
Em Watts war tot.
»Ist schon okay«, meinte ich mit einem
gleichgültigen Lachen - ich hoffte zumindest, dass es gleichgültig
klang. In Wirklichkeit klang es natürlich eher zutiefst
verzweifelt. Plötzlich musste ich gegen Tränen ankämpfen - woher
kamen die denn auf einmal? Doch ich hoffte, Mom und Frida würden
sie nicht bemerken. »Wie dumm von mir. Ich hab Stark ja völlig
vergessen. Und den Vertrag. Wie alles andere auch. Himmel. Ich bin
ja so was von blöd.«
»Schätzchen.« Mom legte die Zeitung zur Seite und
erhob sich von der Couch, um einen Arm um mich zu legen, obwohl ich
einen Schritt vor ihr zurückwich. »Geht es dir gut? Wir hätten wohl
besser vorher darüber reden sollen, aber ich bin einfach davon
ausgegangen, du würdest sowieso arbeiten, daher …«
»Mir geht es gut«, sagte ich und wich weiter vor
ihr zurück.
Ich wollte nicht, dass sie meine Tränen sah, dass sie sah, dass es
mir alles andere als gut ging. Außerdem befürchtete ich, dass auf
eine Berührung von ihr hin die Fassade bröckeln würde. »Eigentlich
ist es so auch viel besser, weil Lulu sowieso diese Megaparty
plant, und ich wusste eh nicht, wie ich ihr beibringen soll, dass
ich nicht da sein werde. Das bleibt mir nun erspart. Also, puh,
Glück gehabt!«
Mom machte nicht den Eindruck, als wäre sie davon
überzeugt, dass es mir gut ging.
»Weißt du was«, meinte sie. »Das ist doch doof. Wir
bleiben dieses Jahr über Weihnachten einfach alle zusammen hier.
Ich ruf Grandma gleich an. Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung
finden …«
Frida schien überhaupt nicht mitzubekommen, was Mom
da gerade gesagt hatte. Denn etwas völlig anderes hatte sie total
aus dem Häuschen gebracht. »Lulu schmeißt eine Party?«, japste sie
aufgeregt. »Eine Weihnachtsparty? Bin ich eingeladen?«
Klar. Tja, war wohl doch ein Irrtum, Frida sei
inzwischen so reif geworden.
»Nein«, erklärte ich. Ich griff nach meinen
Regenklamotten, die ich gerade erst abgelegt hatte, und schnappte
mir Cosys Mäntelchen, die Leine, meine Handschuhe und das ganze
Zeug. »Wisst ihr was? Das hätte ich ja fast vergessen. Ich hab Lulu
versprochen, dass ich ein paar Sachen für die Party für sie abhole,
und jetzt ist es schon fast fünf, und der Partyshop macht schon
bald zu, weil ja Sonntag ist. Ich mach mich also besser auf den Weg
…«
»Em«, sagte Mom sanft und streckte ihre Hand nach
mir aus. Ihr schien es meinetwegen fast das Herz zu brechen.
Doch ich war zu flink für sie. Schnell wich ich ihr
aus und war schon halb auf dem Weg zur Tür den Flur runter, bevor
auch nur eine von ihnen zu begreifen schien, was hier vor sich
ging.
»Ich ruf euch später noch mal an«, rief ich ihnen
über die Schulter zu. Da hörte ich Mom noch einmal meinen Namen
sagen, aber ich eilte bereits in Richtung Aufzug. Hoffentlich
erreichte ich ihn, bevor mir die Tränen kamen und bevor mich eine
von ihnen einholen konnte!
Und ich hab es geschafft, wenn auch nur mit Müh und
Not. Ich hab es sogar noch am Portier vorbei über die Auffahrt
unter die Markisen vor dem Haus geschafft, ehe ich heulend
zusammenbrach.
Und dann zerfloss mein Gesicht vollends. Oder
zumindest fühlte es sich so an. Heiße Tränen quollen mir aus den
Augen und kullerten mir über die Wangen. Ich konnte nichts
erkennen, weder vor mir noch um mich herum. Alles verschwamm zu
einem Brei aus kleinen Punkten und Schmierern, den
impressionistischen Gemälden aus dem neunzehnten Jahrhundert im
Metropolitan Museum nicht unähnlich. Die Tränen verschleierten
einfach alles. Ich bin mir sicher, dass da irgendwo auch Rotz mit
im Spiel war.
Und noch während ich mich ihm ausgiebig hingab -
dem Heulen, meine ich -, wurde mir bewusst, wie lächerlich es
eigentlich war. Ich hatte es nämlich immer gar nicht so gut
gefunden, wenn wir zu Grandma fuhren, wenn man mal vom Strand und
dem Pool absieht. Ihre Wohnung war viel zu klein für sie und uns
vier zusammen, und ich musste immer auf einem Klappbett schlafen,
das mir viel zu kurz war. Außerdem servierte sie uns
Tiefkühl-Bagels zum Frühstück statt der echten Teile, die man hier
in New York bekam, ofenfrisch, außen knusprig und innen noch warm
und teigig.
Aber dass man mir jetzt mitteilte, ich könne
nicht mit, weil ich tot war …
Na ja, im Augenblick wünschte ich mir jedenfalls,
ich wäre gestern Abend unten am Grunde des Ozeans geblieben. Es war
so angenehm gewesen dort unten, so ruhig und friedlich,
okay, auch kalt, aber trotzdem. Keiner hatte irgendetwas von mir
verlangt, wie etwa: Klettere diese Klippe hoch, finde meine
verschollene Mom, zieh diesen Diamant-BH an oder: Komm nicht
nach Florida mit uns, du bist tot, hast du das vergessen?
Allerdings hatte ich gleichzeitig auch das Gefühl,
tatsächlich wieder zurück am Grunde des Ozeans zu sein. Mir war
irgendwie genauso kalt, und ich fühlte mich ebenso einsam - auch
wenn Cosy hier war -, und bald würde ich wieder raus in diesen
elenden Schneeregen müssen. Dann wäre ich auch noch genauso nass
wie gestern, weil ich keinen Schirm mitgenommen hatte.
Wie aus heiterem Himmel entschied ich, dass ich es
nicht länger ertragen konnte. Ich hielt es einfach nicht mehr aus!
Mir war klar, dass ich wie eine Idiotin aussehen musste, doch das
war mir egal. Es war ja sowieso keiner da. Und bei diesem Sauwetter
wäre sowieso nur ein Volltrottel vor die Tür gegangen. Also
beschloss ich, einfach nur stehen zu bleiben und zu heulen.
Wenigstens so lange, bis ein Taxi vorbeikam, das ich herwinken
konnte.
Aber auf gar keinen Fall wollte ich bei diesem
Mistwetter heimlatschen.
Also stand ich vor dem Wohnhaus meiner Eltern und
heulte hemmungslos und tat mir selbst ausgiebig leid, da legte mir
jemand plötzlich eine Hand auf die Schulter. Weil ich dachte, es
wäre Eddie, der Portier, der sich erkundigen wollte, ob er mir ein
Taxi rufen solle - wozu man bei diesem Wetter schon sehr viel Glück
brauchte -, drehte ich mich schniefend um. Mein Gesicht war immer
noch derart aufgelöst, dass ich kaum etwas sehen konnte. Allerdings
konnte
ich vage erkennen, dass es eine männliche Gestalt war, die da
neben mir stand.
»Was denn?«, fragte ich und zog den Rotz
hoch.
»Nikki?«, hörte ich eine vertraute Stimme sagen.
Sie war mir fast so vertraut wie meine eigene. Oder so vertraut,
wie meine eigene Stimme mir früher gewesen war, bevor mein Kehlkopf
unter einem dreihundert Pfund schweren Plasmabildschirm zerquetscht
worden war.
Es war nicht Eddie. Es war jemand anders, jemand,
der im selben Haus wohnte wie meine Eltern. Mir war dieses
klitzekleine Detail lediglich im Zuge der Selbstmitleidsorgie, die
ich mir zuliebe veranstaltet hatte, völlig entfallen.
Und für einen kurzen Augenblick glaubte ich, ich
müsste an meinen eigenen Tränen ersticken.
Denn vor mir stand Christopher.