SIEBEN
Am allernötigsten werde ich die Therapie wohl haben wegen des Gesichtsausdrucks, den meine Mom jedes Mal aufsetzt, wenn ich die Wohnung betrete.
So wie gerade eben. Nachdem ich den Portier schon wegen meiner Identität angeschwindelt hatte, sagte ich: »Hi Mom. Ich bin’s.«
Da flackerte bei ihr wie immer dieses begeisterte Leuchten auf. Aber nur für einen kurzen Moment, denn es wurde sofort abgelöst von einem Ausdruck der Enttäuschung, dann der Resignation. Sie erwartete wohl immer noch die alte Em und stattdessen kam Nikki daher. Na ja, zumindest was das Äußere betraf. Deshalb war sie jedes Mal für den Bruchteil einer Sekunde enttäuscht, wenn sie mich sah. Zwar war es jedes Mal auch blitzschnell vorüber und sie zeigte dann wieder ihr normales ach-so-du-bist-das-Gesicht. Aber es passierte wirklich jedes Mal. Denn die Wahrheit war nun mal: Ich war nicht ihre Tochter. Zumindest nicht so ganz. Nicht mehr.
Vielleicht im Inneren. Aber nicht äußerlich.
Und mein neues Ich hatte sie eben noch nicht akzeptiert. Nicht komplett.
Allerdings konnte man ihr das ja nicht wirklich zum Vorwurf machen.
»Oh, Em, Liebling«, sagte sie. Der Funke der Enttäuschung war verschwunden, und sie erkannte mich, eine fast Fremde, groß und blond mit einem winzigen Hündchen im Regenmäntelchen, das neben mir herumtänzelte. Na ja, sie wird mich wohl nie voll und ganz akzeptieren - zumindest nicht in Nikkis Körper, es sei denn, ich entledige mich des Pudels, höre auf, mir die Haare zu waschen, lege fünfzig Kilo zu und fange wieder an, nichts anderes als Sweatshirts zu tragen wie mein altes Ich. Menschen sind schon komisch. »Ich kann nicht glauben, dass du bei dem Wetter hergekommen bist! Solltest du heute nicht eigentlich in Aruba sein?«
»Saint John«, korrigierte ich sie und beugte mich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss zu geben. Vor dem Unfall war meine Mutter größer gewesen als ich. Jetzt war ich sogar noch größer als Dad. Selbst in meinen flachen Fake-Uggs von Stark überragte ich sie beide. »Wir sind heute Morgen zurückgeflogen. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Ich hatte nicht vor, ihr von meinem lange verschollenen Bruder zu erzählen, der in der Lobby auf mich gewartet hatte. Keine Ahnung, weshalb. Sie hatte einfach selbst schon genug Probleme und ich wollte sie nicht auch noch mit meinen Sorgen belasten. Stattdessen schälte ich mich aus meinen Regenklamotten, die sich in der überhitzten Wohnung langsam mit Schweiß vollsogen. »Was hab ich da gehört von einem Cheerleader-Camp?«
Mom verdrehte genervt die Augen und fauchte: »Fang mir bloß nicht davon an.«
Genau in diesem Augenblick kam Frida aus ihrem Zimmer gestürmt, weil sie mich hereinkommen gehört hatte.
»Du bist tatsächlich da!« Ihre Augen waren vor Aufregung ganz groß. »Du bist echt der Wahnsinn! Hast du Lulu mitgebracht?«
Wenn es darum ging, wen oder was meine Schwester »cool« fand, so rangierte Lulu Collins gleich hinter Nikki Howard. Dass beide nun zu ihrem alltäglichen Leben gehörten, und zwar wirklich nahezu auf täglicher Basis, hatte sie in eine Art Nirwana für weibliche Teenies befördert, aus dem es für sie wohl keine Rettung gab, jedenfalls nicht, bevor sie nicht aufs College ging.
»Äh, Lulu hat zu tun«, erklärte ich und hielt es nicht für nötig, zu erwähnen, dass Lulu damit beschäftigt war, an meine Decke zu starren und ihre Vermählung mit Nikki Howards entfremdeten großen Bruder zu planen. »Ist Dad da?«
»Dad ist zurück nach New Haven gefahren«, verkündete Frida angriffslustig. »Er konnte die ewigen Streitereien nicht länger ertragen.«
»Es gab keine Streitereien«, verbesserte Mom sie. »Ein Streit würde bedeuten, dass die Ursache des Streits verhandelbar ist, was in diesem Fall nicht zutrifft.«
Frida warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. »Siehst du?«, sagte sie verzweifelt.
Mom sah mich finster an. »Und ich kann nicht glauben«, fügte sie hinzu, »dass du es die ganze Zeit gewusst und mir nichts davon verraten hast.« Dabei machte sie sich auf den Weg zurück zum Sofa und zu ihrer Sunday Times, die sie um sich herum ausgebreitet hatte, was am Wochenende ihre übliche Beschäftigung war.
»Also bitte«, protestierte ich schwach. Wenn die nur wüsste, was ich alles weiß und wovon ich ihr noch nichts erzählt habe. »Mal ehrlich, ich versteh echt nicht, was daran falsch sein soll. Cheerleading ist ja immerhin eine anerkannte Sportart.«
Mom hatte noch nicht mal von ihrem Wochenrückblick aufgesehen. »Nenn mir bitte eine Sportart, der man in einem Minirock nachgeht«, bemerkte sie ungerührt.
Ich hätte beinahe laut losgelacht, denn ich hatte es bei Frida mit exakt demselben Argument versucht, als ich das erste Mal gehört hatte, dass sie Mitglied im Team werden wollte.
»Na ja«, sagte ich. »Eiskunstläuferinnen tragen zum Beispiel noch viel kürzere Röckchen und Eiskunstlauf ist sogar eine olympische Disziplin. Und Gymnastik auch. Und im Grunde ist Cheerleading ja nichts anderes als Gymnastik.«
Mom raschelte nur mit ihrer Zeitung. Auf der Stereoanlage lief leise klassische Musik. Das ganze Apartment wirkte so unglaublich gemütlich und warm, dass ich am liebsten geheult hätte. Irgendwo, das wusste ich, lagen noch die Bagels rum, die mein Dad heute Morgen bei H&H geholt hatte. Mit Gemüse-Frischkäse. (Ich konnte leider keine Bagels mehr essen, weil Nikki davon heftiges Sodbrennen bekam und dauernd aufstoßen musste. Das bekam sie leider von allem, was aus Teig gemacht wurde.)
Doch Äußerlichkeiten konnten selbstverständlich täuschen. Auch wenn die Wohnung urgemütlich wirkte, so konnte ich mich doch nicht des Verdachts erwehren, dass sie ebenso verwanzt war wie mein Loft auch. Ich konnte zwar nicht sagen, wo die Wanzen sich befanden, doch ich war mir sicher, dass sie da waren und dass Stark uns in diesem Moment belauschte. Hatte mich nicht Dr. Holcombe bei meiner letzten Routineuntersuchung gefragt, ob ich es tatsächlich für eine gute Idee hielt, wenn ich Lulu mit meiner Familie zusammenbrachte? Das hätte er gar nicht wissen können, es sei denn, Stark hätte mich belauscht, damals als Lulu und ich mit einer Pizza in der Wohnung meiner Eltern vorbeigeschaut hatten.
Hatte das Stark Institute für Neurologie und Neurochirurgie uns nicht alle mit brandneuen Stark-Mobiltelefonen ausgestattet, auf denen wir untereinander telefonieren konnten? Mobiltelefone, die um einiges stärker statisch aufgeladen waren als jedes andere Handy, das ich je besessen hatte - meiner Meinung nach ein klarer Beweis dafür, dass sie angezapft waren.
Nach all dem war es schwer vorstellbar, dass Stark uns nicht ausspionierte, ganz besonders nachdem mein Hosentaschen-Wanzendetektor - ja, ich war total ausgerastet und hatte mir so ziemlich jedes Spionagezubehör zugelegt, dessen ich habhaft werden konnte - jedes Mal wie verrückt zu heulen anfing, wenn ich zur Tür reinkam. Ich wusste nicht, wo die Wanzen sich befanden, aber sie waren hier irgendwo. Aus dem Grund hatte ich meine Familie auch dazu gebracht, die weniger statischen Mobiltelefone, die ich ihnen besorgt hatte und die nicht von Stark waren, zu benutzen. Und ich fasste mich bei meinen Besuchen in meinem alten Zuhause normalerweise recht kurz.
»Die Sache ist die«, sagte Frida zu Mom, »dass ich mit dem Team ins Wintercamp fahren muss. Unser komplettes Routineprogramm steht fest und ich bin die wichtigste Person. Ich bin die ›Base‹, und ohne mich klappt im Grunde gar nichts, keine Pyramiden, keine Stunts, keine Übung, bei der ein Flyer involviert ist. Außerdem, wenn ich kein tadelloses Training absolviere, dann wird sich möglicherweise jemand - womöglich sogar ich - schwer verletzen. Was nicht heißen soll, dass unser Coach nicht großartig ist, denn das ist sie wirklich, aber bei diesem einwöchigen Trainingscamp lernen wir die richtigen Techniken, um Verletzungen zu vermeiden, aber auch neue Stunts und Abläufe, mit denen wir die Konkurrenz wegfegen werden. Zudem ist Cheerleading ein ausgezeichnetes Wahlfach. Es macht sich echt gut bei der Bewerbung fürs College. Ich meine, willst du vielleicht, dass ich wie der letzte Loser aussehe, so wie Em, die noch nie ein einziges Wahlfach belegt hat?«
»Hey«, protestierte ich zu meiner eigenen Verteidigung.
»Tut mir leid«, meinte Frida und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Aber ist doch wahr. Vor deiner Operation hast du nach der Schule nie was unternommen, höchstens mit Christopher am Computer gesessen - total langweilig. Jetzt fliegst du wenigstens für Bademoden-Shootings auf irgendwelche tropischen Inseln.«
Endlich ließ Mom ihre Zeitung sinken und sagte: »Mir gefällt der Ton nicht, in dem du mit deiner Schwester sprichst. Und ich möchte nicht, dass meine Töchter sich in ihrer Freizeit mit Bademoden-Fotoshootings und menschlichen Pyramiden beschäftigen.«
»Mom«, jaulte Frida und schickte sich an, sich neben sie auf die Couch zu setzen. »Es ist doch viel mehr als das: Ich lerne etwas über Teamwork, treibe Sport und lerne neue Leute kennen, und gleichzeitig bleibe ich körperlich fit und gesund …«
Mein Gesicht hellte sich ein wenig auf. In Wahrheit war ich nämlich ein bisschen deprimiert gewesen, seit ich am Nachmittag in der Lobby Steven Howard und nicht Christopher vorgefunden hatte. Und dann waren da ja noch die News über Nikkis Mom gewesen. Plus die Neuigkeit, dass ich jetzt einer von den Stark-Engeln war. Das alles hatte nicht gerade dazu beigetragen, dass ich mich seit dieser ganzen Tief-am-Grunde-des-Ozeans-Sache besser fühlte.
Aber dass ich jetzt mitbekam, wie erwachsen Frida die letzten paar Monate geworden war? Das baute mich wieder auf. Ich meine, sie war nicht mal mehr halbwegs das weinerliche, selbstsüchtige Kind, das sie vor meinem Unfall gewesen war. Damals hatte sie noch ständig versucht, einfach nur ihren Willen durchzusetzen. Die Zeiten waren vorbei.
»Daher ist es so wichtig, dass du mich in den Ferien zu diesem Cheerleader-Camp fahren lässt«, sprach Frida weiter. »Ich schwöre dir, ich mach auch nichts, weswegen du deine Entscheidung bereuen müsstest, Mom. Denn das Beste an der Sache ist ja, dass das Camp in Miami stattfindet, und zwar ganz in der Nähe von dort, wo Grandma wohnt, in Boca Ranton. Wir fahren doch sowieso in den Weihnachtsferien zu ihr. Also kann ich abends immer noch bei euch sein, nur am Tag bin ich mit allen anderen im Camp. Ich brauch noch nicht mal mit dem Rest des Teams im Hotel zu übernachten.«
Hut ab! Frida hatte tatsächlich gelernt, wie man Kompromisse einging und die Dinge aus anderer Leute Perspektive betrachtete. Das war nun wirklich etwas, was sie bisher kaum, wenn überhaupt, geschafft hatte. Ich konnte einfach nicht glauben, wie groß meine kleine Schwester inzwischen geworden war. Sie war jetzt praktisch schon eine reife junge Frau! Wenn man mal von der Tatsache absah, dass sie eine kurze Hose trug, auf der hinten das Wort SEXY stand.
»Das klingt doch völlig vernünftig«, sprang ich ihr bei. »Wir könnten alle zusammen runterfliegen und bei Grandma übernachten, und Frida kann mit ihren Freundinnen ins Cheerleader-Camp abdüsen, während du, Mom, mit Dad und mir gemeinsam bei Grandma bleibst. Wird das nicht ein Riesenspaß?«
Bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, merkte ich, dass sowohl Mom als auch Frida mich völlig entgeistert anschauten. Ich hatte echt keinen Schimmer, wieso. Ich meine, wir fuhren doch immer über die Ferien zu Grandma nach Boca. Mom ist jüdisch und Dad nicht, daher wurden bei uns immer sowohl Weihnachten (die säkularisierte Fassung mit dem Weihnachtsmann) als auch Chanukka gefeiert. Grandma hatte nie was dagegen gehabt, und es war total schön, Weihnachten am Strand zu verbringen und endlich wieder ein wenig Sonne abzubekommen, nachdem man schon die erste Hälfte des New Yorker Winters hinter sich gebracht hatte.
Sollte das dieses Jahr etwa anders ablaufen? Das schienen zumindest die Blicke von Mom und Frida auszudrücken.
»Em, Liebling«, brachte Mom schließlich hervor, nachdem sie krampfhaft versucht hatte zu lächeln. »Du hast doch nicht etwa geglaubt … ich weiß, wir haben nie darüber gesprochen, aber ich bin einfach davon ausgegangen … Ich meine, du bist dir darüber doch im Klaren, dass du dieses Jahr unmöglich mit zu Grandma kommen kannst. Oder in einem der kommenden Jahre. Stark wäre niemals damit einverstanden. Du weißt doch, dass du nicht mit uns gesehen werden darfst. Wie sollten die es wohl erklären, wenn Paparazzi zufällig ein Foto von uns allen am Strand von Florida schießen während der Weihnachtsferien?«
Ich blinzelte sie verständnislos an.
Oh. Klar. Stark. Mein Arbeitgeber. Der Vertrag. Die Leute, die meine Wohnung verwanzt hatten und mich ausspionierten … möglicherweise. Wahrscheinlich.
Ganz bestimmt.
»Und ganz nebenbei bemerkt«, fuhr sie fort, »du weißt doch, dass wir Grandma - wie eigentlich allen unseren Verwandten - erzählt haben, du wärst … tot. Wie sollten wir ihr das wohl erklären, dass Nikki Howard uns auf unseren Familienurlaub begleitet? Du kannst dich ja unmöglich vor ihr als Em outen …«
Natürlich. Die Todesanzeige. Meine Beerdigung. Die Story auf CNN über meinen grauenvollen Tod, verursacht durch einen Plasmabildschirm. Auch alle an meiner Schule hatten das gesehen.
»Gut«, erklärte ich. Meine Knochen schienen schon wieder bis ins Mark gefroren, wie schon vorhin draußen vor dem Stark Megastore. Der Schauplatz des Unfalls, der für all das hier verantwortlich war. Nur dass ich jetzt nicht draußen in der Kälte stand und Nikki Howard von den Postern in unzähligen Schaufenstern auf mich herablächelte. Es gab also keine vernünftige Erklärung dafür, weshalb ich plötzlich glaubte, zu erfrieren. »Grandma denkt also, ich bin tot.«
Wie dumm von mir, geglaubt zu haben, dass ich über Weihnachten mit meiner Familie zu ihr fahren könnte. Wie dumm von mir, die Tasche angeschleppt zu haben, die drüben bei der Tür stand, voll mit Geschenken für sie alle. Ich hatte vorgehabt, sie mit nach Florida zu Grandma zu nehmen, wo sie sie auspacken sollten.
Alle waren der Meinung, ich sei tot.
Ich war jetzt Nikki Howard.
Em Watts war tot.
»Ist schon okay«, meinte ich mit einem gleichgültigen Lachen - ich hoffte zumindest, dass es gleichgültig klang. In Wirklichkeit klang es natürlich eher zutiefst verzweifelt. Plötzlich musste ich gegen Tränen ankämpfen - woher kamen die denn auf einmal? Doch ich hoffte, Mom und Frida würden sie nicht bemerken. »Wie dumm von mir. Ich hab Stark ja völlig vergessen. Und den Vertrag. Wie alles andere auch. Himmel. Ich bin ja so was von blöd.«
»Schätzchen.« Mom legte die Zeitung zur Seite und erhob sich von der Couch, um einen Arm um mich zu legen, obwohl ich einen Schritt vor ihr zurückwich. »Geht es dir gut? Wir hätten wohl besser vorher darüber reden sollen, aber ich bin einfach davon ausgegangen, du würdest sowieso arbeiten, daher …«
»Mir geht es gut«, sagte ich und wich weiter vor ihr zurück. Ich wollte nicht, dass sie meine Tränen sah, dass sie sah, dass es mir alles andere als gut ging. Außerdem befürchtete ich, dass auf eine Berührung von ihr hin die Fassade bröckeln würde. »Eigentlich ist es so auch viel besser, weil Lulu sowieso diese Megaparty plant, und ich wusste eh nicht, wie ich ihr beibringen soll, dass ich nicht da sein werde. Das bleibt mir nun erspart. Also, puh, Glück gehabt!«
Mom machte nicht den Eindruck, als wäre sie davon überzeugt, dass es mir gut ging.
»Weißt du was«, meinte sie. »Das ist doch doof. Wir bleiben dieses Jahr über Weihnachten einfach alle zusammen hier. Ich ruf Grandma gleich an. Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden …«
Frida schien überhaupt nicht mitzubekommen, was Mom da gerade gesagt hatte. Denn etwas völlig anderes hatte sie total aus dem Häuschen gebracht. »Lulu schmeißt eine Party?«, japste sie aufgeregt. »Eine Weihnachtsparty? Bin ich eingeladen?«
Klar. Tja, war wohl doch ein Irrtum, Frida sei inzwischen so reif geworden.
»Nein«, erklärte ich. Ich griff nach meinen Regenklamotten, die ich gerade erst abgelegt hatte, und schnappte mir Cosys Mäntelchen, die Leine, meine Handschuhe und das ganze Zeug. »Wisst ihr was? Das hätte ich ja fast vergessen. Ich hab Lulu versprochen, dass ich ein paar Sachen für die Party für sie abhole, und jetzt ist es schon fast fünf, und der Partyshop macht schon bald zu, weil ja Sonntag ist. Ich mach mich also besser auf den Weg …«
»Em«, sagte Mom sanft und streckte ihre Hand nach mir aus. Ihr schien es meinetwegen fast das Herz zu brechen.
Doch ich war zu flink für sie. Schnell wich ich ihr aus und war schon halb auf dem Weg zur Tür den Flur runter, bevor auch nur eine von ihnen zu begreifen schien, was hier vor sich ging.
»Ich ruf euch später noch mal an«, rief ich ihnen über die Schulter zu. Da hörte ich Mom noch einmal meinen Namen sagen, aber ich eilte bereits in Richtung Aufzug. Hoffentlich erreichte ich ihn, bevor mir die Tränen kamen und bevor mich eine von ihnen einholen konnte!
Und ich hab es geschafft, wenn auch nur mit Müh und Not. Ich hab es sogar noch am Portier vorbei über die Auffahrt unter die Markisen vor dem Haus geschafft, ehe ich heulend zusammenbrach.
Und dann zerfloss mein Gesicht vollends. Oder zumindest fühlte es sich so an. Heiße Tränen quollen mir aus den Augen und kullerten mir über die Wangen. Ich konnte nichts erkennen, weder vor mir noch um mich herum. Alles verschwamm zu einem Brei aus kleinen Punkten und Schmierern, den impressionistischen Gemälden aus dem neunzehnten Jahrhundert im Metropolitan Museum nicht unähnlich. Die Tränen verschleierten einfach alles. Ich bin mir sicher, dass da irgendwo auch Rotz mit im Spiel war.
Und noch während ich mich ihm ausgiebig hingab - dem Heulen, meine ich -, wurde mir bewusst, wie lächerlich es eigentlich war. Ich hatte es nämlich immer gar nicht so gut gefunden, wenn wir zu Grandma fuhren, wenn man mal vom Strand und dem Pool absieht. Ihre Wohnung war viel zu klein für sie und uns vier zusammen, und ich musste immer auf einem Klappbett schlafen, das mir viel zu kurz war. Außerdem servierte sie uns Tiefkühl-Bagels zum Frühstück statt der echten Teile, die man hier in New York bekam, ofenfrisch, außen knusprig und innen noch warm und teigig.
Aber dass man mir jetzt mitteilte, ich könne nicht mit, weil ich tot war …
Na ja, im Augenblick wünschte ich mir jedenfalls, ich wäre gestern Abend unten am Grunde des Ozeans geblieben. Es war so angenehm gewesen dort unten, so ruhig und friedlich, okay, auch kalt, aber trotzdem. Keiner hatte irgendetwas von mir verlangt, wie etwa: Klettere diese Klippe hoch, finde meine verschollene Mom, zieh diesen Diamant-BH an oder: Komm nicht nach Florida mit uns, du bist tot, hast du das vergessen?
Allerdings hatte ich gleichzeitig auch das Gefühl, tatsächlich wieder zurück am Grunde des Ozeans zu sein. Mir war irgendwie genauso kalt, und ich fühlte mich ebenso einsam - auch wenn Cosy hier war -, und bald würde ich wieder raus in diesen elenden Schneeregen müssen. Dann wäre ich auch noch genauso nass wie gestern, weil ich keinen Schirm mitgenommen hatte.
Wie aus heiterem Himmel entschied ich, dass ich es nicht länger ertragen konnte. Ich hielt es einfach nicht mehr aus! Mir war klar, dass ich wie eine Idiotin aussehen musste, doch das war mir egal. Es war ja sowieso keiner da. Und bei diesem Sauwetter wäre sowieso nur ein Volltrottel vor die Tür gegangen. Also beschloss ich, einfach nur stehen zu bleiben und zu heulen. Wenigstens so lange, bis ein Taxi vorbeikam, das ich herwinken konnte.
Aber auf gar keinen Fall wollte ich bei diesem Mistwetter heimlatschen.
Also stand ich vor dem Wohnhaus meiner Eltern und heulte hemmungslos und tat mir selbst ausgiebig leid, da legte mir jemand plötzlich eine Hand auf die Schulter. Weil ich dachte, es wäre Eddie, der Portier, der sich erkundigen wollte, ob er mir ein Taxi rufen solle - wozu man bei diesem Wetter schon sehr viel Glück brauchte -, drehte ich mich schniefend um. Mein Gesicht war immer noch derart aufgelöst, dass ich kaum etwas sehen konnte. Allerdings konnte ich vage erkennen, dass es eine männliche Gestalt war, die da neben mir stand.
»Was denn?«, fragte ich und zog den Rotz hoch.
»Nikki?«, hörte ich eine vertraute Stimme sagen. Sie war mir fast so vertraut wie meine eigene. Oder so vertraut, wie meine eigene Stimme mir früher gewesen war, bevor mein Kehlkopf unter einem dreihundert Pfund schweren Plasmabildschirm zerquetscht worden war.
Es war nicht Eddie. Es war jemand anders, jemand, der im selben Haus wohnte wie meine Eltern. Mir war dieses klitzekleine Detail lediglich im Zuge der Selbstmitleidsorgie, die ich mir zuliebe veranstaltet hatte, völlig entfallen.
Und für einen kurzen Augenblick glaubte ich, ich müsste an meinen eigenen Tränen ersticken.
Denn vor mir stand Christopher.