DREIZEHN
»Richte deinen Blick bitte einfach nur geradeaus, sieh nicht ins Licht.«
So lauteten Dr. Higgins’ Worte, während ich vor der Ärztin auf dem Behandlungstisch saß. Sie leuchtete mir mit einer Stablampe in die Augen. Wahrscheinlich wollte sie prüfen, ob Nikkis Gehirn sich irgendwie gelockert hatte, nachdem ich auf so peinliche Weise bei der Probe für die Stark-Angel-Show vom Laufsteg gekracht war.
»Im Ernst«, protestierte ich, während ich ihrer Aufforderung folgte und geradeaus schaute, »mir geht es gut.«
»Schsch«, zischte sie. »Nicht sprechen.«
Ich hatte allen versichert, dass ich heil war - wenn man meine verletzte Selbstachtung (und meinen Po) mal außer Acht ließ. Aber alle hatten mir gesagt, ich solle still sein. Die dachten womöglich, niemand könne derart heftig auf die Fresse fallen, ohne sich ernsthaft zu verletzen. Aber Alessandro war derjenige gewesen, der darauf bestanden hatte, dass ich mich von einem Arzt untersuchen ließ.
Ich war selbstverständlich kein bisschen überrascht gewesen, als schließlich die Limousine des Stark-Sicherheitsservice vor der Tür hielt und mich ins Stark Institute für Neurologie und Neurochirurgie brachte. Ich war wieder genau da angekommen, wo alles angefangen hatte. Na ja, ist doch so.
»Siehst du denn irgendwie doppelt?«, wollte die Ärztin wissen. Dr. Higgins führte die Untersuchung absolut professionell durch. Offensichtlich hatte sie heute Abend Bereitschaft und nicht Dr. Holcombe, der zu dem Team gehörte, das meine Gehirntransplantation durchgeführt hatte. »Kopfschmerzen? Übelkeit?«
»Nein, nichts«, beharrte ich. »Nein, nein und noch mal nein. Ich hab es Ihnen doch gesagt. Ich bin bloß ausgerutscht. Und zwar darauf.« Ich hielt das Büschel Federn hoch, das ich fand, kurz nachdem ich mich wieder aufgerappelt hatte. Es hatte zusammengeknüllt auf dem Laufsteg gelegen. Die Federn waren eindeutig aus den Flügeln eines Stark-Engels gerissen worden. Es war auch nicht schwer zu erraten, von wem sie stammen mussten. Nämlich vom letzten Engel, der vor mir auf der Bühne gewesen war und der mich ganz besonders auf dem Kieker hatte: Veronica.
Das erste Gesicht, das ich nach meinem Sturz über mir erblickte, war das von Gabriel. In seinen blauen Augen spiegelte sich Besorgnis. Das sind Gabriel Lunas blaue Augen, hatte ich festgestellt. Nicht die Augen, von denen ich schon so lange träumte, nämlich die von Christopher Maloney.
»Nikki? Alles okay mit dir?«, hatte Gabriel mich gefragt und dabei einen Arm um mich gelegt - so gut es ging, bei dem Chaos an Flügeln in meinem Rücken.
»Mir geht’s gut, mir geht’s gut«, hatte ich beteuert. »Ich bin nur ausgerutscht - da war irgendwas auf dem Laufsteg …«
Dann hatte ich mich umgeschaut, um zu sehen, ob ich recht hatte, und da war tatsächlich etwas. Gott sei Dank. Also lag es nicht nur an mir und an meiner Unfähigkeit, auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen zu balancieren.
Ich hatte so getan, als wäre es ein Unfall gewesen. Doch Alessandros Gesicht hatte sich verfinstert, als er sah, was Gabriel da hochhielt. Gabriel hatte mir nämlich den Klumpen Federn aus der Hand gerissen und dem Direktor empört vor die Nase gehalten. Ab diesem Moment hörte Alessandro nicht mehr auf zu schimpfen wie ein Rohrspatz, in erster Linie natürlich über die Kostümchefin, weil die die Federn nicht gut genug mit Kleber fixiert hatte.
Ich hatte ihm nicht widersprochen. Eigentlich weiß ich auch nicht, weshalb. Ich wusste ja, dass Veronica das getan hatte, und zwar mit voller Absicht. Nimm dich bloß in Acht. Aber ich hatte in dem Moment ganz andere Sorgen gehabt. Nämlich dass ich höchstwahrscheinlich hier im Institut landen würde.
Und zwar nicht allein aus dem Grund, weil die sich Sorgen um meinen Kopf machten. Oder darüber, wie fest der Schädel noch mit seinem Inhalt verbunden war.
Ich war mir sicher, dass sie diese Gelegenheit nutzen würden, um mir einen kleinen Vortrag zu halten … nun ja, darüber, wie ich mich in letzter Zeit verhalten hatte.
Und wie erwartet …
»Wir haben von dem Zwischenfall Anfang dieser Woche auf Saint John erfahren«, erklärte Dr. Higgins und blickte auf einen dicken Aktenordner hinunter, den sie in der Hand hielt. »Dort bist du ebenfalls gestürzt.«
Gott! Ich wusste doch, dass die mich ausspionierten. Ich wusste es einfach. Wann würden die mich denn endlich mal in Ruhe lassen?
Oh, na klar. Solange ich das Gesicht von Stark war und ihnen Millionen von Dollar einbrachte? Also niemals.
»Ich bin ausgerutscht«, korrigierte ich sie. »Ich bin nicht hingefallen.« Genau genommen war ich natürlich gesprungen. Aber das musste ich ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden. »Die hatten mich da an der Klippe hängen lassen und die war echt verdammt rutschig. Ich konnte mich nicht länger halten.«
»Verstehe«, sagte Dr. Higgins skeptisch und starrte immer noch in ihre Akten. »Du hast außerdem kürzlich deine Familie besucht. Und diesen Jungen, Christopher Maloney.«
Es handelte sich um eine Feststellung, nicht um eine Frage. Ich konnte nichts anderes tun als sie anstarren. Was hätte ich ihr auch antworten können? Ich kannte den Deal ja: Sie hatten mir das Leben geschenkt und dafür durften sie mich auf Schritt und Tritt beobachten - und abhören. Was also hätte ich dazu noch sagen können?
»Du weißt genau, dass wir es nicht gerne sehen, wenn du Kontakt zu Leuten aus deiner Vergangenheit hast«, fuhr Dr. Higgins fort. »Die Leute fragen sich sonst nur, woher du diese Leute kennst, und du willst doch nicht, dass man ihnen unnötig viel Aufmerksamkeit schenkt, oder?«
»Nein«, stimmte ich zu. »Aber…« Wie aus heiterem Himmel war mir plötzlich danach, jemandem eins in die Fresse zu hauen. Egal wem. Ich hatte den Diamant-BH, das Höschen und die Flügel abgelegt und war wieder in meine normalen Klamotten geschlüpft, damit ich nicht ganz so durchgeknallt rüberkam.
Aber ich war immer noch durchgeknallt genug, wie ich nun feststellte. Doch damit kam ich klar, weil ich schon immer ziemlich durchgeknallt gewesen war.
Der Gedanke, dass es Leute gab, die mir die ganze Zeit nachspionierten - und damit meine ich nicht nur Paparazzi -, war irgendwie kaum zu ertragen, ohne von rasender Wut ergriffen zu werden.
»Ich weiß, dass es schwer für dich ist«, sagte Dr. Higgins voller Mitgefühl, so als hätte sie meine Gedanken gelesen. Was sie natürlich nicht konnte. Denn wenn es so wäre, dann hätte sie eine besorgtere Miene gezogen. Außerdem gehörten meine Gedanken immerhin noch mir allein. Die konnte Stark nicht beherrschen. Noch nicht. »Selbstverständlich vermisst du diese Menschen. Und wir erwarten auch gar nicht, dass du sie nie wiedersiehst. Aus dem Grund darfst du ja auf dieselbe Schule wie deine Schwester gehen. Allerdings solltest du die persönlichen Besuche schon ein bisschen einschränken. Du wirst dich nie voll und ganz an dein neues Leben gewöhnen können, wenn du dich so sehr an dein altes Leben klammerst. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Ich dachte an Christopher. War es nicht genau das, was er tat? Klammerte er sich nicht an seine alte Liebe, Em (auch wenn er nie zugegeben hatte, dass er mich sehr mochte, solange ich noch da war), statt sich dem Hier und Jetzt zu stellen?
»Vielleicht«, gab ich zu, aber eigentlich nur, damit sie endlich still war und mich gehen ließ. Ich meinte es nicht wirklich so. »Die Übergangsphase fällt mir nur unglaublich schwer.«
»Und eben dieses Zugeständnis«, sagte Dr. Higgins lächelnd, »ist schon der beste Weg zur Besserung.« Sie blickte auf ihre Akten und blätterte eine Seite um. »Und nun zu Nikki Howards Bruder.«
Mit einem Schlag schrillten in mir sämtliche Alarmglocken. Stark wusste von ihm! Stark wusste von Steven!
Aber andererseits … warum sollten sie auch nichts von ihm wissen. War ja eigentlich logisch. Die wussten doch alles.
Dr. Higgins sah von der Akte hoch und lächelte mich erneut an. »Ich weiß, dass du dich wegen seiner Mutter schlecht fühlst und ihm helfen möchtest. Aber im Ernst, du hättest doch nur zu fragen brauchen. Denn wir von Stark würden uns überaus glücklich schätzen, wenn wir irgendetwas tun könnten, um diese unglückliche und wirklich sehr bedauerliche Situation zu verbessern.«
Ich blinzelte sie an. »Moment mal … ohne Quatsch?«
»Ja, natürlich. Es ist schon erstaunlich, dass Steven Howard überhaupt erst auf dich zugegangen ist, statt sich an uns zu wenden, aber unter diesen Umständen …«
Ich schüttelte verstört den Kopf. »Welche Umstände denn?«
»Nun ja, der… Zustand seiner Mutter. Ich nehme an, die Sache war ihm irgendwie unangenehm.«
»Ihr Zustand?« Ich sah sie verständnislos an. Wovon zum Teufel sprach sie? »Welcher Zustand denn?«
Dr. Higgins schloss meine Akte und durchquerte den Raum, um sich vor den Computer auf ihrem Schreibtisch zu setzen. Da Dr. Higgins vorher nicht im Büro gewesen war, musste sie den Computer erst einschalten und hochfahren lassen. Währenddessen erklärte sie mir: »Es überrascht mich nicht, dass er es nicht erwähnt hat, aber Mrs Howard ist in keiner soliden geistigen Verfassung. Falls sie dich oder Steven kontaktieren sollte, dann musst du das unbedingt im Hinterkopf behalten, ganz gleich was für ungeheuerliche Dinge sie dir auch erzählen mag. Sie leidet schon seit langer Zeit an einer geistigen Krankheit, und, so leid es mir tut, sie ist seit Langem abhängig von Medikamenten und Alkohol.«
Fassungslos starrte ich sie an. Dr. Higgins blickte vom Computerbildschirm auf und nickte mir aufmunternd zu, als sie meinen entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Es kommt demnach nicht gerade überraschend, dass sie nun so plötzlich verschwunden ist. Das macht sie nicht zum ersten Mal.«
Ich hörte mit wachsender Ungläubigkeit zu, während Dr. Higgins weitersprach.
»… und falls du von ihr hören solltest«, so Dr. Higgins, »musst du uns selbstverständlich umgehend informieren, damit wir uns um die Angelegenheit kümmern können. Mrs Howard benötigt umgehend ärztliche Behandlung.«
Was ging denn hier bitte schön ab? Was erzählte Dr. Higgins mir da? Das war doch wohl nicht dieselbe Person, über die Steven Howard mit mir gesprochen hatte? Obwohl er mir natürlich nicht gerade besonders viel von seiner Mom erzählt hatte. Und trotzdem, das passte alles so gar nicht zu dem, was er mir gesagt hatte. Dass sie zum Beispiel so gar nicht der Typ Frau war, die ihr Geschäft unbeaufsichtigt ließ.
Doch wer sprach hier die Wahrheit? Dr. Higgins? Oder Steven?
»Äh«, stammelte ich. Dr. Higgins tippte irgendwas in die Tastatur. »Okay.«
»Ich bin sehr froh, dass wir darüber gesprochen haben.« Dr. Higgins erhob sich, kam zu mir rüber und tätschelte mir den Rücken. Dann half sie mir vom Behandlungstisch runter. »Manchmal tut es schon gut, wenn man einfach nur von Frau zu Frau redet, nicht wahr?«
»Klar«, sagte ich. Sie meinte wahrscheinlich, wenn nicht auch noch die Juristen von Stark Corporate anwesend waren und mir sagten, was ich tun durfte und was ich nicht sagen konnte? »Auf jeden Fall.«
»Gute Nacht«, wünschte Dr. Higgins mir an der Tür zu ihrem Büro und schüttelte zum Abschied meine Hand. »Und wenn du Kopfschmerzen bekommst, doppelt siehst, dir übel wird oder andere Symptome auftreten, dann ruf mich ruhig an.«
Ich versicherte ihr, dass ich mich umgehend melden würde. Kurz darauf, als Dr. Higgins an ihren Computer zurückkehrte, zweifellos um sämtliche Details unseres Gesprächs schriftlich in meiner Akte festzuhalten, ließ ich mich von den Stark-Sicherheitsmännern durch die - zu dieser späten Stunde - dunklen und unheimlich stillen Gänge zum Vordereingang des Krankenhauses geleiten. Dort wartete die Stark-Limousine bereits darauf, mich zurück zu meinem Loft zu bringen.
Doch als ich beim Ausgang ankam, wartete dort erst mal die Presse auf mich. Horden von Presseleuten. Irgendjemand musste denen einen Hinweis gegeben haben, dass man mich in dieses Krankenhaus gebracht hatte. Wie sonst hätten die das alle herausfinden können? Sofort als ich zur Tür raus war, ging das Blitzlichtgewitter los und blendete mich derart, dass ich nichts mehr sah. Jetzt war ich dankbar, dass diese Securityleute bei mir waren und mich mit ihren starken Armen stützten. Sonst wäre ich zu meiner Schande gleich noch einmal auf die Schnauze gefallen. Sicher geleiteten sie mich die Stufen hinunter zu der wartenden Limousine.
»Nikki!«, rief einer der Paparazzi. »Geht es dir gut?« Überall um mich herum leuchteten grelle Blitze auf. Ich konnte die Betonstufen vor mir so gut wie nicht erkennen.
»Was ist geschehen, Nikki? Möchten Sie sich dazu äußern?«, wollte ein anderer von mir wissen.
»Nein, danke«, erklärte ich und versuchte es mit einem ungezwungenen Lachen. »Ich hab mich nur ein bisschen dumm angestellt, das ist alles. Mir geht es gut. Sehen Sie? Nichts gebrochen. Außer mein Stolz.«
»Nikki, hat dieser Sturz etwas damit zu tun, was Ihnen vor ein paar Monaten zugestoßen ist? Als Sie bei der Eröffnung eines Stark-Megastores einen hypoglykämischen Schock erlitten und ins Krankenhaus mussten?«, erkundigte sich ein anderer. Blitz. Blitz. Blitz.
»Nein, nichts dergleichen«, sagte ich mit fester Stimme. »Ich bin nur ausge…«
Aber ich konnte meinen Satz nicht mehr beenden. Denn plötzlich konnte ich klar und deutlich sehen, dass neben der Limousine ein Junge auf mich wartete. Ein Typ mit dunklem Haar und blauen Augen, in Jeans und brauner Wildlederjacke. In der Hand hielt er einen riesigen Strauß roter Rosen. Und er grinste. Mir direkt ins Gesicht.
»Hallo, du«, sagte Gabriel Luna lächelnd.
»Ach, äh, hallo«, erwiderte ich. Ich blickte um mich, weil ich mir ziemlich sicher war, dass ich die Antwort kannte, jedoch sichergehen wollte, dass ich mich nicht wieder zum Gespött machte. »Bin ich denn bei der falschen Limousine gelandet?«
»Nein«, meinte Gabriel. »Das ist schon deine Limousine. Also, wie geht’s dir?«
»Mir geht es gut«, erklärte ich, immer noch unsicher, ob es wahr war, was ich da sah. Gabriel Luna wartete also mit einem riesengroßen Strauß Rosen bei meinem Wagen auf mich. Vor den Augen sämtlicher Paparazzi, die haufenweise Fotos von uns beiden schossen. Was genau ging hier eigentlich vor sich? Geschah das etwa alles, weil er mich »liebte«, oder wie?
»Oh, die hier sind für dich.« Auf einmal schienen Gabriel die Rosen wieder einzufallen, und er überreichte sie mir. Unzählige weitere Blitze leuchteten um uns herum auf. »Ein bisschen kitschig, ich weiß«, flüsterte er mir ins Ohr, damit die Paparazzi es nicht hören konnten. »Doch mein Manager war der Meinung, das wäre eine ausgezeichnete Idee.«
Ich nahm den wunderschönen Strauß entgegen. »Dein … Manager?«, flüsterte ich zurück. Ich verstand überhaupt nicht, was hier passierte.
»Und deine Agentin ebenfalls«, schickte Gabriel hinterher, immer noch breit lächelnd, während alle uns fotografierten. Er öffnete die Tür des Wagens und half mir beim Einsteigen. »Die beiden gehen ins selbe Fitnessstudio. Egal, wegen meines Songs und der Show und weil wir beide für Stark arbeiten, dachten sie, na ja, dass es keine schlechte Idee wäre, wenn man uns beide zusammen sehen würde. Ich weiß, das alles wirkt irgendwie arg inszeniert, aber es kann ja nicht verkehrt sein, wenn unsere Fans denken, dass wir ein Paar sind, oder?«
»Oh«, sagte ich, plötzlich begreifend. »Du meinst deinen Song …«
Gabriel grinste breit. »Klar. Der Song.«
Wir befanden uns nun im Inneren der Limousine, und die Securityleute hatten die Tür hinter uns zugeschlagen und scheuchten die Paparazzi weg, die beharrlich weiter nach mehr Fotos verlangten und Dinge riefen wie: »Nikki! Bist du mit Gabriel Luna zusammen? Wohin wollt ihr jetzt? Wie lange seid ihr schon ein Paar?«
Nachdem die Tür geschlossen wurde, war es im Wagen weitaus ruhiger. Gabriel blickte mich fragend mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich hoffe doch«, sagte er jetzt, »dass dir das nichts ausmacht. Deine Agentin war der Meinung, das wäre kein Problem.«
»Oh«, erwiderte ich. Was sollte ich denn sagen? Dass ich Rebecca dafür später an die Gurgel gehen würde? »Nein. Ist schon in Ordnung.«
»Gut«, sagte Gabriel erleichtert. »Ich will dich selbstverständlich nicht aufhalten. Du musst unheimlich geschafft sein. Wenn du jetzt also lieber nach Hause möchtest, ist das völlig in Ordnung. Aber wenn du gern noch einen Happen zu essen möchtest …«
Erst jetzt merkte ich, dass ich tatsächlich am Verhungern war. Es war eine halbe Ewigkeit her, dass ich diese schokolierten Erdbeeren gegessen hatte. Und ich hatte so abartig viel zu erledigen - ich musste für die Abschlussprüfungen büffeln, ein Referat vorbereiten, mich mit meiner Schwester aussöhnen, Nikki Howards Mutter ausfindig machen und ihrem Bruder eine wirklich grauenvolle Frage stellen. Ganz zu schweigen davon, dass Christopher noch auf eine Antwort von mir wartete, ob ich ihm nun dabei behilflich sein würde, Stark Enterprises in den Ruin zu treiben oder nicht.
»Klar«, sagte ich deshalb, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. »Warum nicht?«
Und so fand ich mich anderthalb Stunden später im Dos Gatos wieder, einem Underground-Club. Um den schon allein zu kennen, musste man eine Berühmtheit sein, denn von außen machte es den Anschein, als handle es sich um ein ganz gewöhnliches Diner.
Wenn man allerdings seinen Namen nannte, dann ließ einen ein Typ mit Walkie-Talkie eine Tür passieren, auf der stand: NUR FÜR MITARBEITER. Dahinter verbarg sich in Wirklichkeit ein Fahrstuhl. Und plötzlich fand man sich in einem der angesagtesten Clubs der Stadt wieder. Dort saß ich nun mit Gabriel Luna in einem kuscheligen Séparée in der Ecke, im flackernden Kerzenschein von unzähligen mexikanischen Laternen, die über uns hingen. Und dort erzählte er mir jetzt haarklein, wie der Song »Nikki« entstanden war.
»Bei der Nikki in dem Lied handelt es sich nicht unbedingt um dich«, erklärte er mir gerade. Wir hatten soeben ein ganzes Tablett Minitacos mit gegrilltem Fleisch verputzt, garniert mit leuchtend grünen Korianderstängeln, dazu einen Pitcher Key-Lime-Margarita. (Virgin-Margarita selbstverständlich, also ohne Alkohol. Gabriel hätte wohl auch nichts anderes zugelassen, um Nikkis Ruf zu wahren.)
»Ach so«, sagte ich. »Also geht es in dem Song um ein ganz anderes Mädchen, das zufällig auch Nikki heißt?«
Er grinste breit. »Okay. Also, ich geb’s zu, vielleicht geht es ja wirklich um dich. Aber eigentlich ist es eher so eine Vorstellung von dir …« Eine Strähne seines dunklen Haares warf im Kerzenschein plötzlich einen Schatten über seine Augen, daher konnte ich seinen Gesichtsausdruck nur schwer deuten. »Was ich damit sagen will, ist, dass es eine öffentliche Nikki gibt, die alle zu kennen glauben. Dass da aber auch noch eine andere Nikki existiert, die du allem Anschein nach vor aller Welt zu verbergen suchst.«
Ich musterte ihn forschend. Gabriel war ja tatsächlich klüger, als ich gedacht hatte. »Denkst du das wirklich? Du findest also, ich lass keinen an mich ran?«
»Du bist doch diejenige, die in den vergangenen Wochen so gut wie unerreichbar war«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass du dich mit jemand anderem getroffen hast.«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Denn er hatte natürlich absolut recht, ich traf wirklich jemand anderen. Na ja, in der Schule zumindest. Derjenige wusste bloß nichts davon.
Aber jetzt… na ja, jetzt wusste ich von diesem Jemand, dass er in jemand anderen verliebt war.
Und diese andere Person war wohl ich … allerdings ich, wie ich früher war.
»Moment mal«, warf Gabriel nun ein und strich mir sanft eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es gibt da wirklich einen anderen, habe ich recht?«
Oh Gott. Warum nur mussten seine Augen so verdammt blau sein? Genau genommen sahen sie aus wie die Augen von diesem anderen. Nur noch blauer, da sie einen so schönen Kontrast zu seinem dunklen Haar und seinen langen, geschwungenen Wimpern bildeten.
»Es… gab einen anderen«, murmelte ich und wich Gabriels Blick aus. Innerlich verfluchte ich Nikki dafür, dass sie so eine unsägliche körperliche Schwäche für Jungs hatte. Denn als ich spürte, wie seine Finger über meine Wange strichen, da schmolz ich förmlich dahin. Nur ein bisschen, wie in dem Moment, als Brandon mich an dem Abend auf Saint John berührt hatte. Warum nur konnte Christopher mich nicht so berühren? Warum nur? »Da ist nichts mehr. Er steht… auf ein anderes Mädchen. Na ja, nicht so richtig, aber… äh, vielleicht doch.«
Gabriel hob eine seiner tintenschwarzen Augenbrauen. Seine Hand war von meiner Wange in meinen Nacken weitergewandert. Oh, oh. »Klingt ganz schön kompliziert.«
»Und wie«, hauchte ich.
Da geschah es. Gabriel begann, mir mit seinen Fingern den Nacken zu massieren.
Keine Ahnung, was anschließend über mich kam. Aber, wenn ich ehrlich bin, weiß ich es ganz genau: Das war alles nur Nikki Howards Schuld. Die Schuld von Nikkis Körper, um genau zu sein. Denn ehe ich es mich versah, war es bereits geschehen. Diese Sache, die mit Nikkis Körper immer dann passierte, wenn er sich unter der Berührung von einem Jungen aufzulösen begann und dahinschmolz.
Das Schlimmste an der Sache war, dass Gabriel das ganz genau wusste. Ich meine, er musste es einfach bemerken. Das war klar, weil er nämlich ganz plötzlich auf der gepolsterten Bank näher rückte und seine andere Hand um mein Gesicht legte.
Ohne dass ich es gewollt hätte - obwohl gar keine Paparazzi vor Ort waren, um ein Foto von uns beiden zu schießen -, ließ ich ihn mein Gesicht zu seinem drehen und wehrte mich nicht, als er seine Lippen auf meine drückte. Ich weiß! Ich habe ihn mich echt küssen lassen. Ich habe ihn sogar noch zurückgeküsst, küsste ihn mit all der Leidenschaft, die sich schon seit Tagen in mir angestaut zu haben schien.
Das Schlimmste an der Sache war aber, was ich empfand. Denn meine Gefühle galten keineswegs Gabriel. So viel war klar. Die angestaute Leidenschaft galt jemand anderem. Jemandem, dessen Augen ebenso blau waren wie die von Gabriel.
Allerdings auch jemand, der nie im Leben, nicht in einer Million Jahren, mein Gesicht so mit der Hand umfasst, sich vorgebeugt und mich geküsst hätte, und schon gar nicht hätte er einen Song über mich geschrieben. Oder bemerkt, dass es eine öffentliche Nikki gab und eine andere Nikki, die sich hinter einer Maske verbarg.
Gabriel küsste mich nicht wie einer, den erst sein Manager auf die Idee gebracht hatte, mir Rosen zu schenken. Mittlerweile hatte er beide Arme um mich geschlungen und küsste mich so leidenschaftlich, als meine er es wirklich ernst und habe nur auf diesen Augenblick gewartet, und als wäre alles Bisherige nichts weiter als kleine Appetithäppchen gewesen, und endlich, endlich, seien wir beim Hauptgericht angekommen.
Aus dem Grund verlor ich aber leider auch ganz plötzlich den Mut, als ich feststellte, dass ich im Grunde null Komma nichts für ihn empfand. Und als ich merkte, dass das leise Gemurmel der Speisenden um uns herum auf einen Schlag verstummt war, als hätten alle gleichzeitig aufgehört mit dem Essen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf uns konzentriert.
Ich löste mich aus Gabriels Umarmung und rückte ein wenig von ihm ab.
»Äh«, stammelte ich und senkte den Kopf, sodass meine Haare meinen hochroten Kopf verbargen. Ich fing an, wie wild in meiner Tasche nach meinem Lipgloss zu wühlen. »Boah.«
»Tut mir leid«, meinte Gabriel schnell. Er griff nach seinem Glas Wasser. Der Geräuschpegel der Leute um uns herum nahm wieder zu, und zwar keinen Augenblick zu früh. »Das hätte ich wohl besser nicht tun sollen.« Da war ein leichtes Zittern in seiner Stimme.
»Nein«, sagte ich. Ich hielt mir die Puderdose vors Gesicht, um einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen und neuen Lipgloss aufzutragen, ohne danebenzumalen. Aber auch in der Hoffnung, ich könnte so verbergen, wie rot ich plötzlich geworden war. »Ist schon in Ordnung. Wirklich.«
»Und du bist dir ganz sicher, dass es da jemand anderen gibt?«
»Ja«, sagte ich sanft. »Tut mir leid, aber so ist es.«
»Was für eine Schande«, meinte er mit einem Grinsen, wobei er sein leeres Wasserglas absetzte. »Ich glaube, wir wären grandios miteinander ausgekommen. Auch wenn du eigentlich unmöglich bist.«
»Ich bin unmöglich?« Mit einem Klicken ließ ich die Puderdose zuschnappen. Auf einmal war ich gar nicht mehr rot im Gesicht. »Ich bin nicht diejenige, die einen Song über ein Mädchen geschrieben hat und darüber, wie sehr ich sie liebe, und das, wo ich sie kaum kenne. Ich will jetzt mal nicht zu sehr darauf herumreiten, dass das Mädchen, das du dir dafür ausgesucht hast, ganz zufällig das Gesicht des Konzerns ist, dem das Plattenlabel gehört, auf dem du erscheinst.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich den Song allein aus dem Grund dir gewidmet habe, damit ich Publicity kriege, oder?«, empörte sich Gabriel und wirkte ernsthaft verletzt.
Ich wusste selbst nicht mehr, was ich glauben sollte. Alles, woran ich in den vergangenen Monaten geglaubt hatte, hatte sich am Ende als Lüge herausgestellt. Eltern, die eigentlich dazu da waren, einen zu beschützen, waren dazu nicht immer in der Lage. Konzerne, die gemeinhin als böse galten, retteten einem gelegentlich sogar das Leben, während Intelligenzbolzen wie ich auf einmal gar nichts mehr zu wissen schienen.
Tja, woran konnte ich denn eigentlich noch glauben?
»Es ist ja wirklich ziemlich offensichtlich, dass du deinen Song über mich der Welt ausgerechnet vorstellen musstest bei einer Modenschau, bei der ich als Model über den Laufsteg spaziere«, gab ich ihm zu verstehen. »Oder liege ich da etwa falsch?«
Eine Minute lang schien Gabriel wie benommen. Dann lachte er auf einmal laut los.
»Tja, damit liegst du genau richtig«, meinte er amüsiert. »Aber mein Agent hat mich dazu gezwungen. Ich war von Anfang an dagegen, bei dieser Stark-Angel-Show mitzumachen.«
»Na ja«, sagte ich nun. Es kostete mich wirklich alle Mühe, nicht zu grinsen. Denn eigentlich war die Sache ja nicht witzig. Obwohl, irgendwie schon. »Ich war auch nicht gerade begeistert, bei dieser Fashionshow mitzumachen.«
»Tja, dann haben wir beide wohl mehr gemeinsam, als wir dachten«, stellte Gabriel grinsend fest.
»Okay«, sagte ich. Dabei fiel es mir inzwischen verdammt schwer, weiter das knallharte Topmodel zu spielen, wo er doch so nett zu mir war. »Wir sind also beide Sklaven des Konzerns.«
»Das soll jetzt aber nicht heißen«, meinte Gabriel, »dass das, was ich in meinem Song singe, nicht stimmt. Du hast etwas an dir, Nikki, das mir nicht mehr aus dem Kopf will, seit wir uns kennen.«
Ich lächelte ihn bedauernd an. »Glaub mir, Gabriel«, erklärte ich ihm. »In meinen Kopf würdest du garantiert nicht reinwollen.«