DREI
Das Beste am Reisen im Privatjet ist, dass man
sich die Kiste mit dem
Zwei-Stunden-vor-Abflug-am-Flughafen-sein-müssen sparen kann. Man
taucht fünf Minuten vor der geplanten Abflugzeit auf und man
braucht noch nicht mal durch irgendwelche Sicherheitskontrollen zu
gehen. Es wird ein gesondertes Einfahrtstor für einen geöffnet, und
durch dieses fährt einen die Limousine direkt bis vors Flugzeug,
sodass man nur noch mit seiner Tasche (und mit seinem Hund, den man
im Übrigen frei rumlaufen lassen kann, weil es ja das eigene
Flugzeug ist … beziehungsweise das vom eigenen Chef, aber auch
egal) rauszuhüpfen braucht und direkt die Treppe hoch und zu seinem
Sitzplatz marschieren kann. Niemand kontrolliert das Ticket,
niemand checkt die Personalien oder so was. Alle sagen: »Guten
Morgen, Miss Howard« und bieten einem ein Glas Champagner an (oder,
wenn man noch minderjährig ist, ein Glas Orangensaft).
Bereits zehn Minuten später hebt man ab. Keine
bescheuerte Demonstration der Sicherheitsvorkehrungen. Keine
kreischenden Babys. Kein ewiges Schlangestehen für ein superenges
Klo im Dixi-Stil. Nichts dergleichen.
Stattdessen kommt man in den Genuss von luxuriösen
Ledersesseln
und glänzenden Mahagonitischen und kann mit W-Lan surfen. (Ach ja:
die Sache, dass man in einem Flugzeug kein Internet und kein
Mobiltelefon benutzen darf? Völliger Bockmist. Denn wenn man mit
Stark Air fliegt, kann man all das ohne Einschränkungen tun.) Man
kriegt frische Schnittblumen, ein eigenes Fenster, einen eigenen
DVD-Player der Marke Stark, wenn man will, dazu eine umfangreiche
Auswahl an aktuellen Neuveröffentlichungen in Sachen Film.
Als Mädchen kann man sich ziemlich gut an diese Art
Lifestyle gewöhnen. Und man hat so seine Schwierigkeiten, wieder
ganz normale Linienflüge zu benutzen. Macht es mich zu einer
schlimmen Heuchlerin, wenn ich Stark Enterprises einerseits hasse
für das, was sie mir angetan haben (mir und Tausenden von
Kleinunternehmern, ganz zu schweigen von der Umwelt), aber
andererseits einem Flug in Robert Starks Privatjet gegenüber einem
Linienflug den Vorzug gebe?
Natürlich.
Aber wenn ich auf diese Weise flugs nach Hause kam
zu Christopher - und zu meinem neuen, glücklichen Leben, in dem wir
beide ein Paar waren -, und zwar acht Stunden früher, als wenn ich
einen Linienflug nehmen würde, dann war mir das egal.
Schneller, als ich das für möglich gehalten hätte,
war plötzlich die Skyline von Manhattan unter uns zu erkennen,
eingehüllt in triste graue Regenwolken. Doch irgendwie erfreute
mich der Anblick dieser Insel, die inmitten des brackigen schwarzen
Wassers des Hudson und des East Rivers wie ein ausgestreckter
Mittelfinger emporragte, weitaus mehr als die tropische Insel mit
ihren unendlich langen weißen Sandstränden, die wir eben hinter uns
gelassen hatten.
Ich reckte den Kopf, um einen Blick auf den
Washington Square Park und das Gebäude, in dem meine Eltern
wohnten,
zu erhaschen, als mich eine erste Textnachricht auf meinem Handy
erreichte, dem Handy, das nicht von Stark war.
SOS, hatte Frida geschrieben. Melde dich
ASAP.
Also wählte ich ihre Nummer, noch ehe ich überdacht
hatte, dass es für sie bereits ein Notfall war, wenn bei Sephora
die Eyeliner knapp wurden. Das Einzige, was ich denken konnte, war:
Dad. Herzinfarkt. Schließlich war er ein Weißer mittleren
Alters, der viel zu hart arbeitete und die meiste Zeit in New Haven
verbrachte, weil er in Yale unterrichtete. Wir bekamen ihn nur am
Wochenende zu sehen. Ich wusste genau, was er die meiste Zeit über
zu sich nahm. Munchkins von Dunkin’ Donut und dazu kalten Kaffee.
Ich hab noch nie mitgekriegt, dass er Sport getrieben hätte. Oder
dass er Obst gegessen hätte.
»Frida?«, rief ich, sobald sie abhob. Ich bemerkte,
wie Brandon auf der anderen Seite des Ganges ein Auge öffnete,
entnervt und verärgert von der Panik in meiner Stimme. Er hatte den
ganzen Flug durchgeschlafen. Oder zumindest so getan, als würde er
schlafen. Den ganzen Morgen schon war er mir gegenüber eher
distanziert gewesen. Wahrscheinlich hatte er noch nicht so recht
verdaut, was gestern Abend zwischen uns vorgefallen war - dass ich
seinen Vorschlag, wir könnten doch wieder ein Paar werden,
abgelehnt hatte, meine ich.
Er schloss sein rot gerändertes Auge wieder, sobald
ihm klar geworden war, dass ich lediglich telefonierte und nicht
mit ihm sprach.
»Was ist los?«, drängte ich Frida mit möglichst
leiser Stimme, um den verkaterten Sohn von meinem Boss nicht zu
stören. »Ist was mit Dad? Ist alles in Ordnung?«
»Wie? Nein, mit Dad ist nichts.« Frida klang
ziemlich aufgewühlt am anderen Ende der Leitung. »Und nein, es ist
nicht alles in Ordnung. Es geht um Mom.«
»Was ist mit Mom?« Mom? Mom war stets bei
allerbester Gesundheit. Sie ging jeden Tag ins
Studenten-Fitnessstudio, um ein paar Bahnen zu schwimmen. Sie aß
nichts außer Salat und Hähnchen ohne Haut. Es war schon beinahe
abstoßend, wie gesund sie lebte. »Ist alles in Ordnung mit
ihr?«
»Es geht ihr gut«, beruhigte mich Frida. »Zumindest
physisch. Wie es ihr mental geht, ist eine andere Frage. Sie
hat das mit dem Cheerleading rausgefunden, und jetzt will sie dafür
sorgen, dass die mich aus dem Team werfen.«
Ich ließ mich in meinem Ledersitz zurücksinken. Die
Erleichterung war so immens, dass ich kein Wort mehr rausbrachte.
Außerdem wollte ich Frida am liebsten umbringen dafür, dass sie mir
einen derartigen Schrecken versetzt hatte.
»Em«, sagte Frida gerade. »Du musst sofort
herkommen und sie zur Vernunft bringen. Ich darf nicht mit ins
Cheerleader-Camp fahren!«
»Ich sitze gerade im Flieger«, machte ich ihr klar
und sah aus dem Fenster runter auf den Hudson River, der mir
glitzernd zuzwinkerte. »Ich war doch gerade auf den Jungferninseln.
Es ist folglich nicht drin, dass ich mal eben schnell
vorbeischaue.« Außerdem hatte ich im Moment wirklich Wichtigeres zu
tun, als bei den ewigen Streitereien zwischen meiner Mutter und
meiner Schwester den Schlichter zu spielen.
Zugegeben, die Chance, dass Christopher noch einmal
bei mir hereinschneite, war denkbar gering - obwohl natürlich
Sonntag war, daher konnte er eigentlich auch nichts Besseres
vorhaben. An Sonntagen tat Christopher grundsätzlich nichts
anderes, als Journeyquest zu spielen oder allenfalls noch in
Computerspielgeschäften abzuhängen, um nachzusehen, ob am Samstag
eventuell was Neues reingekommen war. Trotzdem wollte ich den
ganzen Tag lang zu Hause bleiben - nur für den Fall der
Fälle.
»Und ist es nicht ein bisschen voreilig, sich jetzt
schon Gedanken wegen des Cheerleader-Camps zu machen?«, zog ich sie
auf. »Wir haben doch erst Dezember. Du hast noch Monate Zeit bis
zum Sommer, in denen du Mom weichklopfen kannst.« Und womöglich
verlor sie dabei sowieso das Interesse am Cheerleaden und
entwickelte eine völlig neue Vorliebe für eine größere
intellektuelle Herausforderung, wie Astrophysik zum Beispiel,
dachte ich mir. Das sprach ich aber nicht laut aus.
»Es geht hier um eine Woche Cheer-Camp, bei dem wir
unsere Moves perfektionieren sollen, und zwar während der
Weihnachtsferien«, erläuterte Frida mir. »In Florida. Alle aus dem
Team kommen mit. Aber Mom meinte, sie wolle ihre Tochter nur über
ihre Leiche an etwas teilnehmen lassen, das sich Cheer-Camp
nennt.«
»Fahren wir denn in den Weihnachtsferien nicht zu
Grandma?«, fragte ich erstaunt.
Gleichzeitig beschloss Cosabella, die fast genauso
gern flog, wie sie in Autos mitfuhr, plötzlich, dass die Aussicht
von meinem Schoß nicht mehr aufregend genug war, und sprang über
den Gang, um zu sehen, was denn vor Brandons Fenster so vor sich
ging. Dabei turnte sie heftig auf ihm rum und weckte ihn erneut
auf, und zwar nicht gerade sanft. Tonlos formte ich mit meinem Mund
ein »Entschuldigung«, doch er sah mich nur verärgert an.
Zwischen meiner Schwester und mir breitete sich
unangenehmes Schweigen aus. Ich dachte schon, wir wären an einer
Sackgasse angelangt, als Frida auf einmal sagte: »Na ja, klar.
Logisch fahren wir. Das Cheer-Camp fängt ja erst nach den Ferien
an. Aber, Em …«
»Na, dann hätten wir das Problem ja schon gelöst«,
erklärte ich. »Pass auf, ich ruf Mom an. Sie sollte doch froh sein,
dass du neue Freunde hast, dass du dich körperlich fit hältst und
dass du etwas außerhalb des Stundenplans machst, was sich bei den
Bewerbungen fürs College gut machen wird. Glaube ich jedenfalls.
Zugegeben, Fußball oder Lacrosse wären vielleicht besser gewesen,
aber…«
»Ein Anruf genügt nicht«, unterbrach Frida mich
barsch. »Du musst herkommen. Sie muss es von dir persönlich hören.
Sonst lässt sie mich niemals mitfahren …«
»Gut«, gab ich mich geschlagen. »Ich komm rüber,
sobald ich mein Zeug zu Hause abgeladen habe. Ich hab sowieso ein
paar Geschenke für euch mitgebracht.« Weihnachtseinkäufe waren zu
einer völlig neuen Erfahrung geworden, jetzt da ich Geld wie Heu
hatte. Meiner Familie genau die Geschenke kaufen zu können, die sie
sich schon lange wünschten, jedoch nicht leisten konnten, war echt
großartig. Es war sogar um Längen besser, Leute zu beschenken, als
selbst beschenkt zu werden. (Ich konnte gar nicht erwarten, Fridas
Gesicht zu sehen, wenn sie das kleine schwarze Samtkästchen
öffnete, das ich für sie gekauft hatte!)
Doch Frida sagte keinen Ton. Das war irgendwie
untypisch für sie, da sie ihren Mund eigentlich so gut wie nie
halten konnte.
Aber vielleicht war sie ja auch nur so überwältigt
vor Dankbarkeit, dass ich Geschenke mitbrachte, dass ihr glatt die
Worte fehlten.
Ja, klar. Ganz bestimmt.
Ihrer ungewohnten Schweigsamkeit nach zu schließen,
waren wir gerade durch ein Mobilfunkloch geflogen, daher legte ich
schnell auf und angelte mir meinen Hund vom Schoß von Nikki Howards
Exfreund.
Brandon zeigte keinerlei Anzeichen von Dankbarkeit.
Ich konnte ihn verstehen. Cosabella mussten dringend mal ein paar
Manieren beigebracht werden.
Obwohl es schon wirklich immer hart ist, in einem
Flugzeug eingepfercht zu sein. Das illustrierte Cosy auch sehr
schön, als sie beim Aussteigen als Erstes die ganze Landebahn
vollpinkelte. Dasselbe tat sie auch, sobald Karl, unser Portier,
die Tür unserer Limousine öffnete, die uns von Teterboro, dem
Flughafen, an dem Robert Stark seine Jets hatte, nach Hause
gefahren hatte. Sofort sprang Cosy raus und trottete zu den
Pflanzenkübeln vor der Centre Street Nummer 240 rüber. Die Sache
war zwar ultrapeinlich, aber wo, bitte schön, hätte sie es denn
auch sonst tun sollen?
»Willkommen zurück, Miss Howard«, sagte Karl, als
ich mich aus dem Wagen in den eiskalten Nieselregen begab, der aus
dem bleiernen Himmel niederfiel. Das alles war weit entfernt von
den lauen Brisen der Jungferninseln, und keiner kam angelaufen, um
mir eine Piña Colada zu servieren, wie die das in dem Hotel auf
Saint John gemacht hatten. »Ich hoffe, Sie hatten eine schöne Zeit
in der Ferne.«
»Es war großartig«, kam es automatisch aus mir
heraus. Ich machte mir wie immer Sorgen wegen des Hundes. Karl muss
das bemerkt haben, denn jetzt sagte er: »Oh, ich mach das schon
weg, Miss Howard. Gehen Sie nur nach drinnen ins Warme. Ach,
übrigens, was ich Ihnen noch mitteilen sollte … auf Sie wartet
Besuch in der Lobby. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich … na ja,
Sie werden ja sehen.«
Mein Herz machte schon wieder einen Sprung, obwohl
ich mir selbst einredete, dass er es gar nicht sein konnte. Ich
meine, Christopher war definitiv kein Typ, der in der Lobby auf ein
Mädchen wartete, bis es heimkam.
Doch als ich die Lobby betrat und einen kurzen
Blondschopf erblickte, konnte ich nicht anders, als zu denken:
Das ist er! Oh mein Gott, er ist es wirklich! Dann fing ich
regelrecht an zu zittern, so nervös war ich.
Natürlich war das lächerlich. Ich meine, immerhin
war ich seit einer halben Ewigkeit mit dem Typen befreundet. Mit
ihm habe ich sogar schon um die Wette gerülpst, verdammt. Klar war
das in der siebten Klasse gewesen, aber trotzdem. Warum zum Teufel
wurde ich denn jetzt auf einmal nervös? Ich hatte einen neuen
Körper, und er hatte das noch nicht einmal geschnallt, obwohl ich
ihm bereits einen total eindeutigen Hinweis gegeben hatte. Er war
immer noch so sehr damit beschäftigt, mein altes Ich - das Ich, das
ihm nicht aufgefallen war, bis es zu spät war - zu vermissen. Er
hatte es bis jetzt nicht geschnallt, dass die Nachrichten von
meinem Tode voll übertrieben gewesen waren.
Warum also war ich diejenige, der jetzt die Knie
weich wurden wie Wackelpudding?
Doch ich konnte mich noch nicht einmal dazu
durchringen, in seine Richtung zu sehen. Weil ich mit der Situation
irgendwie nicht umgehen konnte und verzweifelt versuchte, die Coole
zu spielen, wie Lulu es mir einmal empfohlen hatte, tat ich
stattdessen so, als würde ich ihn gar nicht bemerken. Ich stolperte
zum Aufzug hinüber. Dabei versuchte ich, zu stolzieren wie Nikki
Howard. Allerdings war mir klar, dass ich vielmehr stolperte, ganz
wie Em Watts das getan hätte, während Cosabella mir zwischen den
Beinen herumflitzte. Doch dann hörte ich eine männliche Stimme
rufen: »Nikki!«
Ich wollte nicht allzu interessiert wirken. Die
Typen hassen das (wenn man Lulu Glauben schenken mag, meinem
persönlichen Experten in Sachen Jungs). Ich musste ihm die Führung
überlassen. Ich musste ihn in dem Glauben lassen, dass es allein
seine Idee gewesen war, mich zu besuchen (was natürlich auch
absolut stimmte). Ich musste …
»Nikki.«
Sekunde. Das war ja gar nicht er.
Das war nicht Christophers Stimme.
Ich wandte mich um. Da stand ein großer blonder
Junge in der Lobby meines Wohnhauses, so viel war klar. Genau wie
Lulu ihn am Telefon beschrieben hatte, war er durchtrainiert. Und
er sah mir direkt ins Gesicht.
Allerdings trug er eine Uniform der Navy.
Christopher hätte sich nie im Leben freiwillig zum
Militärdienst gemeldet, denn sein Vater, genannt der Commander,
Professor für Politikwissenschaft an der NYU, hatte seinem Sohn ein
Misstrauen gegenüber jeglicher Autorität eingetrichtert, die in
diesem nun tief verwurzelt war. Und da er ja zudem erst in der
elften Klasse war wie ich auch, hätte Christopher im Übrigen noch
gar nicht zum Militär gehen können, selbst wenn er es gewollt
hätte.
Auf dem Gesicht des blonden Typen lag ein Ausdruck
extremer Abneigung.
Und diese Abneigung schien mir zu gelten. Es war ja
sonst niemand anwesend, gegen den sie gerichtet hätte sein
können.
Na toll. Was hatte ich Blondie wohl angetan? Ich
hatte ihn ja noch nie in meinem Leben gesehen.
»Äh«, begann ich und drückte dabei ein paar Mal
ungeduldig auf den Aufzugsknopf. »Tut mir leid. Redest du mit
mir?«
Die Feindseligkeit im Gesicht von Blondie wurde
noch stärker. Er sah aus wie ungefähr zwanzig, vielleicht auch ein
bisschen älter. Auf seiner Uniform trug er eine ganze Reihe von
Abzeichen. Ich aber war so sehr von seiner feindseligen Miene
gefesselt, dass ich meinen Blick nicht von seinem Gesicht abwenden
konnte, um mir die Abzeichen genauer anzusehen.
»Hör auf mit dem Quatsch, Nik«, sagte er und
stakste auf mich zu. Er hatte eine tiefe Stimme. Ich glaubte, auch
ganz
entfernt einen leichten Südstaatenakzent darin zu erkennen. »Diese
Sache mit der Amnesie mag ja bei deinen ganzen trendigen Freunden
funktionieren, aber bei mir zieht das nicht.«
Ich blinzelte ihn verständnislos an und wendete den
Blick zur Eingangstür. Karl stand immer noch draußen und machte die
von Cosabella verursachte Sauerei weg. Was wirklich ein Pech war,
denn eigentlich sollte er dafür da sein, sich um derartig
unangenehme Situationen zu kümmern. Ich muss zugeben, dass Blondie
nicht war wie die ganzen Hipster mit ihren Pferdeschwänzen, die
hier sonst auftauchten, um Geld von mir zu verlangen. Sie erklärten
mir immer, sie würden sonst an den Star herantreten und
denen die Story von einer gemeinsamen stürmischen Nacht in Vegas
oder wo auch immer auftischen.
Aber aus welchem Grund sollte der Typ sonst hier
sein?
»Tut mir leid«, erklärte ich noch einmal. Im Geiste
ging ich die übliche Ansprache durch, die ich in den vergangenen
Wochen schon so oft hatte vorbringen müssen. Und zwar jedes Mal,
wenn ich einem von Nikkis sogenannten Freunden oder Verwandten über
den Weg gelaufen war, die alle mit derselben Tour ankamen. »Aber
wegen dieser Amnesie - und ich versichere dir, es ist tatsächlich
wahr - kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern, wer du
bist. Du wirst dich mir schon vorstellen müssen. Also, wie heißt
du?«
Blondies blaue Augen - sie erinnerten mich entfernt
an irgendjemanden, bloß an wen? -, die im Übrigen ziemlich kalt
wirkten, wurden noch eisiger. Er starrte mich durchdringend
an.
»Aha«, sagte er. »Du willst das also echt
durchziehen, wie? Diese Amnesiesache? Du glaubst wirklich, so
kommst du bei mir durch? Bei mir?«
Er sprach das Wort »Amnesiesache« aus, als handele
es
sich um eine Lüge, die Nikki schon früher an ihm ausprobiert
hatte. Und die ganz offensichtlich keine Wirkung zeigte.
»Das ist keine Sache«, bemerkte ich und
reckte beleidigt das Kinn. Obwohl an seinen Zweifeln natürlich
schon was dran war. Denn unter Gedächtnisverlust litt ich ja nun
wirklich nicht. Ich war bloß nicht Nikki Howard. Außer vielleicht
in rechtlicher Hinsicht. »Ich hab echt keinen Schimmer, wer du sein
könntest. Wenn du mir das nicht glauben willst, dann würde ich
vorschlagen, du verschwindest, bevor ich Maßnahmen ergreifen muss,
die wir beide bereuen würden.«
»Was denn zum Beispiel?«, traktierte er mich.
»Willst du etwa die Polizei rufen?«
Das war genau das, worum ich Karl gebeten hätte -
auch wenn es eine Schande war, das bei einem Mitglied des
US-Militärs tun zu müssen. Deshalb sagte ich keinen Ton mehr.
Blondie stierte mich weiterhin feindselig an.
»Mein Gott«, sagte er nach einer Minute, und ein
ungläubiger Ausdruck trat nun allmählich auf sein hübsches, wenn
auch irgendwie müde wirkendes Gesicht. »Du würdest das tatsächlich
tun, was? Du würdest mir die Cops auf den Hals hetzen?«
»Ich hab es dir doch klipp und klar gesagt«,
erklärte ich ihm. Der Aufzug war zu meiner großen Erleichterung
endlich eingetroffen. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wer
du bist. Und nun, wenn du bitte gestattest: Ich komme gerade von
einem Shooting zurück, ich bin hundemüde, und ich muss meine Sachen
noch auspacken …«
Urplötzlich schnappte er sich meinen Arm. Sein
Griff war stählern. Ich hätte keine Chance gehabt, mich ihm zu
entwinden, selbst wenn ich es versucht hätte. Und ich wollte es
garantiert nicht versuchen, denn mir war durchaus daran gelegen,
dass meine Knochen heil blieben.
Jetzt bekam ich es allerdings langsam ernsthaft mit
der Angst zu tun. Karl war nirgends zu sehen und die Lobby
menschenleer. Das war für einen Sonntagnachmittag recht
ungewöhnlich, da die restlichen Bewohner des protzigen
Apartmentblocks mit seinen Wohnungen zu 10.000 Dollar Monatsmiete
sich normalerweise zu dieser Zeit auf den Weg ins Fitnessstudio
oder zu Starbucks machten, um ihre tägliche Ration Latte Macchiato
zu sich zu nehmen. Wer war dieser gruselige Kerl mit seinem
eiskalten Blick und seiner Militäruniform?
»Ich hab gesagt, du sollst aufhören, Nik«, sagte er
in einem Ton, der so fest war wie sein Griff. Auch Cosabella, die
sich zwischen meinen Beinen versteckt hielt, schien langsam zu
spüren, dass da was nicht stimmte, und jaulte nervös vor sich hin.
Blondie schenkte ihr keinerlei Beachtung. »Ist es dir etwa
peinlich, zuzugeben, dass du mich kennst? Okay. Das war ja schon
immer der Fall. Aber wie konntest du ihr das bloß antun? Sie
verschwindet und dich kümmert das einen Dreck? Du weißt ganz genau,
dass ich kein Auge auf sie haben konnte, solange ich mit dem U-Boot
unterwegs war. Und jetzt ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Kein
Mensch weiß, wo sie ist, nicht einmal ihre engsten Freunde Leanne
und Mary Beth. Die beiden haben ewig nichts von ihr gehört. Versuch
gar nicht erst, es so hinzubiegen, als sei das alles nicht deine
Schuld.«
Er starrte mich vorwurfsvoll an, aber ich hatte
ganz ehrlich keine Ahnung, wovon er sprach. Kein Wort von dem, was
er sagte, ergab in meinen Ohren Sinn. Leanne? Mary Beth? Und wer
war verschwunden? Wer zum Teufel war mit sie gemeint?
Wer auch immer sie war, sie schien ihm jedenfalls
sehr viel zu bedeuten. So viel, dass sein Blick nun nicht mehr ganz
so kalt wirkte, stattdessen schienen seine Augen nun voller Gefühl
zu leuchten.
Ein Gefühl, das mir ganz nach Hass aussah.
Und zwar Hass auf mich.
»Moment mal«, sagte ich und hielt abwehrend eine
Hand hoch - und zwar die, die nicht an dem Arm hing, dem er
inzwischen mit seinem Todesgriff die Blutzufuhr abschnürte. »Ganz
langsam. Ich habe wirklich keinen Schimmer, wovon du sprichst. Wer
ist Leanne? Und wer ist Mary Beth? Wer bist du? Und wer ist
die vermisste Frau, von der du da redest?«
Diese letzte Frage schien ihn wie ein Fausthieb zu
treffen. Er schien so erschüttert, dass er tatsächlich meinen Arm
losließ und einen Schritt zurückwich. Dabei starrte er mich an, als
wäre ich irgendeine seltsame und nicht gerade ansehnliche Tierart,
die man soeben im Zoo der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Im
Reptilienhaus möglicherweise.
»Mit sie meine ich unsere Mutter«, sagte er
schließlich und wies bei diesen Worten auf eines der Abzeichen auf
seiner Brust. Darauf stand, wie ich nun leider zu spät feststellte,
HOWARD. »Und ich bin dein großer Bruder, Steven. Erinnerst du dich
jetzt an mich, Nikki?«