DREI
Das Beste am Reisen im Privatjet ist, dass man sich die Kiste mit dem Zwei-Stunden-vor-Abflug-am-Flughafen-sein-müssen sparen kann. Man taucht fünf Minuten vor der geplanten Abflugzeit auf und man braucht noch nicht mal durch irgendwelche Sicherheitskontrollen zu gehen. Es wird ein gesondertes Einfahrtstor für einen geöffnet, und durch dieses fährt einen die Limousine direkt bis vors Flugzeug, sodass man nur noch mit seiner Tasche (und mit seinem Hund, den man im Übrigen frei rumlaufen lassen kann, weil es ja das eigene Flugzeug ist … beziehungsweise das vom eigenen Chef, aber auch egal) rauszuhüpfen braucht und direkt die Treppe hoch und zu seinem Sitzplatz marschieren kann. Niemand kontrolliert das Ticket, niemand checkt die Personalien oder so was. Alle sagen: »Guten Morgen, Miss Howard« und bieten einem ein Glas Champagner an (oder, wenn man noch minderjährig ist, ein Glas Orangensaft).
Bereits zehn Minuten später hebt man ab. Keine bescheuerte Demonstration der Sicherheitsvorkehrungen. Keine kreischenden Babys. Kein ewiges Schlangestehen für ein superenges Klo im Dixi-Stil. Nichts dergleichen.
Stattdessen kommt man in den Genuss von luxuriösen Ledersesseln und glänzenden Mahagonitischen und kann mit W-Lan surfen. (Ach ja: die Sache, dass man in einem Flugzeug kein Internet und kein Mobiltelefon benutzen darf? Völliger Bockmist. Denn wenn man mit Stark Air fliegt, kann man all das ohne Einschränkungen tun.) Man kriegt frische Schnittblumen, ein eigenes Fenster, einen eigenen DVD-Player der Marke Stark, wenn man will, dazu eine umfangreiche Auswahl an aktuellen Neuveröffentlichungen in Sachen Film.
Als Mädchen kann man sich ziemlich gut an diese Art Lifestyle gewöhnen. Und man hat so seine Schwierigkeiten, wieder ganz normale Linienflüge zu benutzen. Macht es mich zu einer schlimmen Heuchlerin, wenn ich Stark Enterprises einerseits hasse für das, was sie mir angetan haben (mir und Tausenden von Kleinunternehmern, ganz zu schweigen von der Umwelt), aber andererseits einem Flug in Robert Starks Privatjet gegenüber einem Linienflug den Vorzug gebe?
Natürlich.
Aber wenn ich auf diese Weise flugs nach Hause kam zu Christopher - und zu meinem neuen, glücklichen Leben, in dem wir beide ein Paar waren -, und zwar acht Stunden früher, als wenn ich einen Linienflug nehmen würde, dann war mir das egal.
Schneller, als ich das für möglich gehalten hätte, war plötzlich die Skyline von Manhattan unter uns zu erkennen, eingehüllt in triste graue Regenwolken. Doch irgendwie erfreute mich der Anblick dieser Insel, die inmitten des brackigen schwarzen Wassers des Hudson und des East Rivers wie ein ausgestreckter Mittelfinger emporragte, weitaus mehr als die tropische Insel mit ihren unendlich langen weißen Sandstränden, die wir eben hinter uns gelassen hatten.
Ich reckte den Kopf, um einen Blick auf den Washington Square Park und das Gebäude, in dem meine Eltern wohnten, zu erhaschen, als mich eine erste Textnachricht auf meinem Handy erreichte, dem Handy, das nicht von Stark war.
SOS, hatte Frida geschrieben. Melde dich ASAP.
Also wählte ich ihre Nummer, noch ehe ich überdacht hatte, dass es für sie bereits ein Notfall war, wenn bei Sephora die Eyeliner knapp wurden. Das Einzige, was ich denken konnte, war: Dad. Herzinfarkt. Schließlich war er ein Weißer mittleren Alters, der viel zu hart arbeitete und die meiste Zeit in New Haven verbrachte, weil er in Yale unterrichtete. Wir bekamen ihn nur am Wochenende zu sehen. Ich wusste genau, was er die meiste Zeit über zu sich nahm. Munchkins von Dunkin’ Donut und dazu kalten Kaffee. Ich hab noch nie mitgekriegt, dass er Sport getrieben hätte. Oder dass er Obst gegessen hätte.
»Frida?«, rief ich, sobald sie abhob. Ich bemerkte, wie Brandon auf der anderen Seite des Ganges ein Auge öffnete, entnervt und verärgert von der Panik in meiner Stimme. Er hatte den ganzen Flug durchgeschlafen. Oder zumindest so getan, als würde er schlafen. Den ganzen Morgen schon war er mir gegenüber eher distanziert gewesen. Wahrscheinlich hatte er noch nicht so recht verdaut, was gestern Abend zwischen uns vorgefallen war - dass ich seinen Vorschlag, wir könnten doch wieder ein Paar werden, abgelehnt hatte, meine ich.
Er schloss sein rot gerändertes Auge wieder, sobald ihm klar geworden war, dass ich lediglich telefonierte und nicht mit ihm sprach.
»Was ist los?«, drängte ich Frida mit möglichst leiser Stimme, um den verkaterten Sohn von meinem Boss nicht zu stören. »Ist was mit Dad? Ist alles in Ordnung?«
»Wie? Nein, mit Dad ist nichts.« Frida klang ziemlich aufgewühlt am anderen Ende der Leitung. »Und nein, es ist nicht alles in Ordnung. Es geht um Mom.«
»Was ist mit Mom?« Mom? Mom war stets bei allerbester Gesundheit. Sie ging jeden Tag ins Studenten-Fitnessstudio, um ein paar Bahnen zu schwimmen. Sie aß nichts außer Salat und Hähnchen ohne Haut. Es war schon beinahe abstoßend, wie gesund sie lebte. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Es geht ihr gut«, beruhigte mich Frida. »Zumindest physisch. Wie es ihr mental geht, ist eine andere Frage. Sie hat das mit dem Cheerleading rausgefunden, und jetzt will sie dafür sorgen, dass die mich aus dem Team werfen.«
Ich ließ mich in meinem Ledersitz zurücksinken. Die Erleichterung war so immens, dass ich kein Wort mehr rausbrachte. Außerdem wollte ich Frida am liebsten umbringen dafür, dass sie mir einen derartigen Schrecken versetzt hatte.
»Em«, sagte Frida gerade. »Du musst sofort herkommen und sie zur Vernunft bringen. Ich darf nicht mit ins Cheerleader-Camp fahren!«
»Ich sitze gerade im Flieger«, machte ich ihr klar und sah aus dem Fenster runter auf den Hudson River, der mir glitzernd zuzwinkerte. »Ich war doch gerade auf den Jungferninseln. Es ist folglich nicht drin, dass ich mal eben schnell vorbeischaue.« Außerdem hatte ich im Moment wirklich Wichtigeres zu tun, als bei den ewigen Streitereien zwischen meiner Mutter und meiner Schwester den Schlichter zu spielen.
Zugegeben, die Chance, dass Christopher noch einmal bei mir hereinschneite, war denkbar gering - obwohl natürlich Sonntag war, daher konnte er eigentlich auch nichts Besseres vorhaben. An Sonntagen tat Christopher grundsätzlich nichts anderes, als Journeyquest zu spielen oder allenfalls noch in Computerspielgeschäften abzuhängen, um nachzusehen, ob am Samstag eventuell was Neues reingekommen war. Trotzdem wollte ich den ganzen Tag lang zu Hause bleiben - nur für den Fall der Fälle.
»Und ist es nicht ein bisschen voreilig, sich jetzt schon Gedanken wegen des Cheerleader-Camps zu machen?«, zog ich sie auf. »Wir haben doch erst Dezember. Du hast noch Monate Zeit bis zum Sommer, in denen du Mom weichklopfen kannst.« Und womöglich verlor sie dabei sowieso das Interesse am Cheerleaden und entwickelte eine völlig neue Vorliebe für eine größere intellektuelle Herausforderung, wie Astrophysik zum Beispiel, dachte ich mir. Das sprach ich aber nicht laut aus.
»Es geht hier um eine Woche Cheer-Camp, bei dem wir unsere Moves perfektionieren sollen, und zwar während der Weihnachtsferien«, erläuterte Frida mir. »In Florida. Alle aus dem Team kommen mit. Aber Mom meinte, sie wolle ihre Tochter nur über ihre Leiche an etwas teilnehmen lassen, das sich Cheer-Camp nennt.«
»Fahren wir denn in den Weihnachtsferien nicht zu Grandma?«, fragte ich erstaunt.
Gleichzeitig beschloss Cosabella, die fast genauso gern flog, wie sie in Autos mitfuhr, plötzlich, dass die Aussicht von meinem Schoß nicht mehr aufregend genug war, und sprang über den Gang, um zu sehen, was denn vor Brandons Fenster so vor sich ging. Dabei turnte sie heftig auf ihm rum und weckte ihn erneut auf, und zwar nicht gerade sanft. Tonlos formte ich mit meinem Mund ein »Entschuldigung«, doch er sah mich nur verärgert an.
Zwischen meiner Schwester und mir breitete sich unangenehmes Schweigen aus. Ich dachte schon, wir wären an einer Sackgasse angelangt, als Frida auf einmal sagte: »Na ja, klar. Logisch fahren wir. Das Cheer-Camp fängt ja erst nach den Ferien an. Aber, Em …«
»Na, dann hätten wir das Problem ja schon gelöst«, erklärte ich. »Pass auf, ich ruf Mom an. Sie sollte doch froh sein, dass du neue Freunde hast, dass du dich körperlich fit hältst und dass du etwas außerhalb des Stundenplans machst, was sich bei den Bewerbungen fürs College gut machen wird. Glaube ich jedenfalls. Zugegeben, Fußball oder Lacrosse wären vielleicht besser gewesen, aber…«
»Ein Anruf genügt nicht«, unterbrach Frida mich barsch. »Du musst herkommen. Sie muss es von dir persönlich hören. Sonst lässt sie mich niemals mitfahren …«
»Gut«, gab ich mich geschlagen. »Ich komm rüber, sobald ich mein Zeug zu Hause abgeladen habe. Ich hab sowieso ein paar Geschenke für euch mitgebracht.« Weihnachtseinkäufe waren zu einer völlig neuen Erfahrung geworden, jetzt da ich Geld wie Heu hatte. Meiner Familie genau die Geschenke kaufen zu können, die sie sich schon lange wünschten, jedoch nicht leisten konnten, war echt großartig. Es war sogar um Längen besser, Leute zu beschenken, als selbst beschenkt zu werden. (Ich konnte gar nicht erwarten, Fridas Gesicht zu sehen, wenn sie das kleine schwarze Samtkästchen öffnete, das ich für sie gekauft hatte!)
Doch Frida sagte keinen Ton. Das war irgendwie untypisch für sie, da sie ihren Mund eigentlich so gut wie nie halten konnte.
Aber vielleicht war sie ja auch nur so überwältigt vor Dankbarkeit, dass ich Geschenke mitbrachte, dass ihr glatt die Worte fehlten.
Ja, klar. Ganz bestimmt.
Ihrer ungewohnten Schweigsamkeit nach zu schließen, waren wir gerade durch ein Mobilfunkloch geflogen, daher legte ich schnell auf und angelte mir meinen Hund vom Schoß von Nikki Howards Exfreund.
Brandon zeigte keinerlei Anzeichen von Dankbarkeit. Ich konnte ihn verstehen. Cosabella mussten dringend mal ein paar Manieren beigebracht werden.
Obwohl es schon wirklich immer hart ist, in einem Flugzeug eingepfercht zu sein. Das illustrierte Cosy auch sehr schön, als sie beim Aussteigen als Erstes die ganze Landebahn vollpinkelte. Dasselbe tat sie auch, sobald Karl, unser Portier, die Tür unserer Limousine öffnete, die uns von Teterboro, dem Flughafen, an dem Robert Stark seine Jets hatte, nach Hause gefahren hatte. Sofort sprang Cosy raus und trottete zu den Pflanzenkübeln vor der Centre Street Nummer 240 rüber. Die Sache war zwar ultrapeinlich, aber wo, bitte schön, hätte sie es denn auch sonst tun sollen?
»Willkommen zurück, Miss Howard«, sagte Karl, als ich mich aus dem Wagen in den eiskalten Nieselregen begab, der aus dem bleiernen Himmel niederfiel. Das alles war weit entfernt von den lauen Brisen der Jungferninseln, und keiner kam angelaufen, um mir eine Piña Colada zu servieren, wie die das in dem Hotel auf Saint John gemacht hatten. »Ich hoffe, Sie hatten eine schöne Zeit in der Ferne.«
»Es war großartig«, kam es automatisch aus mir heraus. Ich machte mir wie immer Sorgen wegen des Hundes. Karl muss das bemerkt haben, denn jetzt sagte er: »Oh, ich mach das schon weg, Miss Howard. Gehen Sie nur nach drinnen ins Warme. Ach, übrigens, was ich Ihnen noch mitteilen sollte … auf Sie wartet Besuch in der Lobby. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich … na ja, Sie werden ja sehen.«
Mein Herz machte schon wieder einen Sprung, obwohl ich mir selbst einredete, dass er es gar nicht sein konnte. Ich meine, Christopher war definitiv kein Typ, der in der Lobby auf ein Mädchen wartete, bis es heimkam.
Doch als ich die Lobby betrat und einen kurzen Blondschopf erblickte, konnte ich nicht anders, als zu denken: Das ist er! Oh mein Gott, er ist es wirklich! Dann fing ich regelrecht an zu zittern, so nervös war ich.
Natürlich war das lächerlich. Ich meine, immerhin war ich seit einer halben Ewigkeit mit dem Typen befreundet. Mit ihm habe ich sogar schon um die Wette gerülpst, verdammt. Klar war das in der siebten Klasse gewesen, aber trotzdem. Warum zum Teufel wurde ich denn jetzt auf einmal nervös? Ich hatte einen neuen Körper, und er hatte das noch nicht einmal geschnallt, obwohl ich ihm bereits einen total eindeutigen Hinweis gegeben hatte. Er war immer noch so sehr damit beschäftigt, mein altes Ich - das Ich, das ihm nicht aufgefallen war, bis es zu spät war - zu vermissen. Er hatte es bis jetzt nicht geschnallt, dass die Nachrichten von meinem Tode voll übertrieben gewesen waren.
Warum also war ich diejenige, der jetzt die Knie weich wurden wie Wackelpudding?
Doch ich konnte mich noch nicht einmal dazu durchringen, in seine Richtung zu sehen. Weil ich mit der Situation irgendwie nicht umgehen konnte und verzweifelt versuchte, die Coole zu spielen, wie Lulu es mir einmal empfohlen hatte, tat ich stattdessen so, als würde ich ihn gar nicht bemerken. Ich stolperte zum Aufzug hinüber. Dabei versuchte ich, zu stolzieren wie Nikki Howard. Allerdings war mir klar, dass ich vielmehr stolperte, ganz wie Em Watts das getan hätte, während Cosabella mir zwischen den Beinen herumflitzte. Doch dann hörte ich eine männliche Stimme rufen: »Nikki!«
Ich wollte nicht allzu interessiert wirken. Die Typen hassen das (wenn man Lulu Glauben schenken mag, meinem persönlichen Experten in Sachen Jungs). Ich musste ihm die Führung überlassen. Ich musste ihn in dem Glauben lassen, dass es allein seine Idee gewesen war, mich zu besuchen (was natürlich auch absolut stimmte). Ich musste …
»Nikki.«
Sekunde. Das war ja gar nicht er.
Das war nicht Christophers Stimme.
Ich wandte mich um. Da stand ein großer blonder Junge in der Lobby meines Wohnhauses, so viel war klar. Genau wie Lulu ihn am Telefon beschrieben hatte, war er durchtrainiert. Und er sah mir direkt ins Gesicht.
Allerdings trug er eine Uniform der Navy.
Christopher hätte sich nie im Leben freiwillig zum Militärdienst gemeldet, denn sein Vater, genannt der Commander, Professor für Politikwissenschaft an der NYU, hatte seinem Sohn ein Misstrauen gegenüber jeglicher Autorität eingetrichtert, die in diesem nun tief verwurzelt war. Und da er ja zudem erst in der elften Klasse war wie ich auch, hätte Christopher im Übrigen noch gar nicht zum Militär gehen können, selbst wenn er es gewollt hätte.
Auf dem Gesicht des blonden Typen lag ein Ausdruck extremer Abneigung.
Und diese Abneigung schien mir zu gelten. Es war ja sonst niemand anwesend, gegen den sie gerichtet hätte sein können.
Na toll. Was hatte ich Blondie wohl angetan? Ich hatte ihn ja noch nie in meinem Leben gesehen.
»Äh«, begann ich und drückte dabei ein paar Mal ungeduldig auf den Aufzugsknopf. »Tut mir leid. Redest du mit mir?«
Die Feindseligkeit im Gesicht von Blondie wurde noch stärker. Er sah aus wie ungefähr zwanzig, vielleicht auch ein bisschen älter. Auf seiner Uniform trug er eine ganze Reihe von Abzeichen. Ich aber war so sehr von seiner feindseligen Miene gefesselt, dass ich meinen Blick nicht von seinem Gesicht abwenden konnte, um mir die Abzeichen genauer anzusehen.
»Hör auf mit dem Quatsch, Nik«, sagte er und stakste auf mich zu. Er hatte eine tiefe Stimme. Ich glaubte, auch ganz entfernt einen leichten Südstaatenakzent darin zu erkennen. »Diese Sache mit der Amnesie mag ja bei deinen ganzen trendigen Freunden funktionieren, aber bei mir zieht das nicht.«
Ich blinzelte ihn verständnislos an und wendete den Blick zur Eingangstür. Karl stand immer noch draußen und machte die von Cosabella verursachte Sauerei weg. Was wirklich ein Pech war, denn eigentlich sollte er dafür da sein, sich um derartig unangenehme Situationen zu kümmern. Ich muss zugeben, dass Blondie nicht war wie die ganzen Hipster mit ihren Pferdeschwänzen, die hier sonst auftauchten, um Geld von mir zu verlangen. Sie erklärten mir immer, sie würden sonst an den Star herantreten und denen die Story von einer gemeinsamen stürmischen Nacht in Vegas oder wo auch immer auftischen.
Aber aus welchem Grund sollte der Typ sonst hier sein?
»Tut mir leid«, erklärte ich noch einmal. Im Geiste ging ich die übliche Ansprache durch, die ich in den vergangenen Wochen schon so oft hatte vorbringen müssen. Und zwar jedes Mal, wenn ich einem von Nikkis sogenannten Freunden oder Verwandten über den Weg gelaufen war, die alle mit derselben Tour ankamen. »Aber wegen dieser Amnesie - und ich versichere dir, es ist tatsächlich wahr - kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern, wer du bist. Du wirst dich mir schon vorstellen müssen. Also, wie heißt du?«
Blondies blaue Augen - sie erinnerten mich entfernt an irgendjemanden, bloß an wen? -, die im Übrigen ziemlich kalt wirkten, wurden noch eisiger. Er starrte mich durchdringend an.
»Aha«, sagte er. »Du willst das also echt durchziehen, wie? Diese Amnesiesache? Du glaubst wirklich, so kommst du bei mir durch? Bei mir?«
Er sprach das Wort »Amnesiesache« aus, als handele es sich um eine Lüge, die Nikki schon früher an ihm ausprobiert hatte. Und die ganz offensichtlich keine Wirkung zeigte.
»Das ist keine Sache«, bemerkte ich und reckte beleidigt das Kinn. Obwohl an seinen Zweifeln natürlich schon was dran war. Denn unter Gedächtnisverlust litt ich ja nun wirklich nicht. Ich war bloß nicht Nikki Howard. Außer vielleicht in rechtlicher Hinsicht. »Ich hab echt keinen Schimmer, wer du sein könntest. Wenn du mir das nicht glauben willst, dann würde ich vorschlagen, du verschwindest, bevor ich Maßnahmen ergreifen muss, die wir beide bereuen würden.«
»Was denn zum Beispiel?«, traktierte er mich. »Willst du etwa die Polizei rufen?«
Das war genau das, worum ich Karl gebeten hätte - auch wenn es eine Schande war, das bei einem Mitglied des US-Militärs tun zu müssen. Deshalb sagte ich keinen Ton mehr.
Blondie stierte mich weiterhin feindselig an.
»Mein Gott«, sagte er nach einer Minute, und ein ungläubiger Ausdruck trat nun allmählich auf sein hübsches, wenn auch irgendwie müde wirkendes Gesicht. »Du würdest das tatsächlich tun, was? Du würdest mir die Cops auf den Hals hetzen?«
»Ich hab es dir doch klipp und klar gesagt«, erklärte ich ihm. Der Aufzug war zu meiner großen Erleichterung endlich eingetroffen. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wer du bist. Und nun, wenn du bitte gestattest: Ich komme gerade von einem Shooting zurück, ich bin hundemüde, und ich muss meine Sachen noch auspacken …«
Urplötzlich schnappte er sich meinen Arm. Sein Griff war stählern. Ich hätte keine Chance gehabt, mich ihm zu entwinden, selbst wenn ich es versucht hätte. Und ich wollte es garantiert nicht versuchen, denn mir war durchaus daran gelegen, dass meine Knochen heil blieben.
Jetzt bekam ich es allerdings langsam ernsthaft mit der Angst zu tun. Karl war nirgends zu sehen und die Lobby menschenleer. Das war für einen Sonntagnachmittag recht ungewöhnlich, da die restlichen Bewohner des protzigen Apartmentblocks mit seinen Wohnungen zu 10.000 Dollar Monatsmiete sich normalerweise zu dieser Zeit auf den Weg ins Fitnessstudio oder zu Starbucks machten, um ihre tägliche Ration Latte Macchiato zu sich zu nehmen. Wer war dieser gruselige Kerl mit seinem eiskalten Blick und seiner Militäruniform?
»Ich hab gesagt, du sollst aufhören, Nik«, sagte er in einem Ton, der so fest war wie sein Griff. Auch Cosabella, die sich zwischen meinen Beinen versteckt hielt, schien langsam zu spüren, dass da was nicht stimmte, und jaulte nervös vor sich hin. Blondie schenkte ihr keinerlei Beachtung. »Ist es dir etwa peinlich, zuzugeben, dass du mich kennst? Okay. Das war ja schon immer der Fall. Aber wie konntest du ihr das bloß antun? Sie verschwindet und dich kümmert das einen Dreck? Du weißt ganz genau, dass ich kein Auge auf sie haben konnte, solange ich mit dem U-Boot unterwegs war. Und jetzt ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Kein Mensch weiß, wo sie ist, nicht einmal ihre engsten Freunde Leanne und Mary Beth. Die beiden haben ewig nichts von ihr gehört. Versuch gar nicht erst, es so hinzubiegen, als sei das alles nicht deine Schuld.«
Er starrte mich vorwurfsvoll an, aber ich hatte ganz ehrlich keine Ahnung, wovon er sprach. Kein Wort von dem, was er sagte, ergab in meinen Ohren Sinn. Leanne? Mary Beth? Und wer war verschwunden? Wer zum Teufel war mit sie gemeint?
Wer auch immer sie war, sie schien ihm jedenfalls sehr viel zu bedeuten. So viel, dass sein Blick nun nicht mehr ganz so kalt wirkte, stattdessen schienen seine Augen nun voller Gefühl zu leuchten.
Ein Gefühl, das mir ganz nach Hass aussah.
Und zwar Hass auf mich.
»Moment mal«, sagte ich und hielt abwehrend eine Hand hoch - und zwar die, die nicht an dem Arm hing, dem er inzwischen mit seinem Todesgriff die Blutzufuhr abschnürte. »Ganz langsam. Ich habe wirklich keinen Schimmer, wovon du sprichst. Wer ist Leanne? Und wer ist Mary Beth? Wer bist du? Und wer ist die vermisste Frau, von der du da redest?«
Diese letzte Frage schien ihn wie ein Fausthieb zu treffen. Er schien so erschüttert, dass er tatsächlich meinen Arm losließ und einen Schritt zurückwich. Dabei starrte er mich an, als wäre ich irgendeine seltsame und nicht gerade ansehnliche Tierart, die man soeben im Zoo der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Im Reptilienhaus möglicherweise.
»Mit sie meine ich unsere Mutter«, sagte er schließlich und wies bei diesen Worten auf eines der Abzeichen auf seiner Brust. Darauf stand, wie ich nun leider zu spät feststellte, HOWARD. »Und ich bin dein großer Bruder, Steven. Erinnerst du dich jetzt an mich, Nikki?«