VIERZEHN
Bis weit nach Mitternacht mit einem total scharfen
britischen Singer-Songwriter-Jungtalent abzuhängen, und das mitten
unter der Woche, war wohl nicht die beste Art, sich auf die
Abschlussprüfungen vorzubereiten.
Genau genommen konnte man sogar davon ausgehen,
dass man am nächsten Tag nicht unbedingt Glanzleistungen
vollbrachte.
Eine andere Möglichkeit, bei den Prüfungen völlig
zu versagen, war es, wenn man spätnachts in sein Loft getorkelt kam
und dort der große Bruder auf einen wartete, der genau genommen gar
nicht der große Bruder war.
»Wo ist Lulu?«, erkundigte ich mich. Steven saß
allein auf einem der schneeweißen Sofas und sah fern. Im Loft
brannte kaum Licht, weshalb ich beinahe über Cosabella gestolpert
wäre, die wie der Blitz auf mich zugeschossen kam, als ich aus dem
Aufzug stieg.
»Sie ist ins Bett gegangen«, erklärte Steven und
stellte den Fernseher auf lautlos. Ich war nicht überrascht, als
ich bemerkte, was er sich da gerade angesehen hatte. Shark
Week auf dem Discovery Channel. Jippie! Mich konnte echt nichts
mehr verblüffen. »Da hättest du doch eigentlich schon vor
Stunden stecken sollen, oder nicht? Musst du morgen früh nicht zur
Schule?«
Die Vorstellung, dass Lulu vor mir ins Bett ging,
war dermaßen zum Brüllen komisch, dass ich mich fast verschluckt
hätte. Mir war natürlich klar, dass sie das nur getan hatte, um
Steven zu beeindrucken und ihm zu zeigen, wie vernünftig und
verantwortungsvoll sie sein konnte. Aber davon war sie wirklich
weit entfernt.
»Äh, klar«, sagte ich. Ich ließ mich neben Steven
auf die Couch plumpsen und zerrte mir die hochhackigen Stiefel von
den Füßen. Den ganzen Tag hatten mir die Füße wehgetan - mit
Ausnahme von einer kurzen Unterbrechung, während der ich die
Louboutins tragen durfte. Darin hatten mir die Füße wenigstens
anders wehgetan. Inzwischen sehnte ich mich nach diesen
blöden Stark-Ugg-Imitaten. »Ich hau mich jetzt besser aufs Ohr. Tut
mir leid, dass ich den ganzen Tag unterwegs war. Wir waren mit den
Proben etwas später dran. Hattest du was zum Abendessen?«
»Lulu hat mich bestens versorgt«, erklärte Steven
kopfnickend. »Sie hat darauf bestanden, mir die komplette
Innenstadt von Manhattan zu zeigen, inklusive Chinatown, Ellis
Island und die Freiheitsstatue.«
»Wow«, staunte ich. Cosabella hüpfte zu mir hoch
aufs Sofa, und da ich mich nun endlich meiner Stiefel entledigt
hatte, kraulte ich ihr geistesabwesend das Fell. »Ganz schön krass,
da habt ihr ja viel gesehen. Kein Wunder, dass sie schon in den
Federn liegt. Bist du denn nicht müde?«
»Doch, schon«, gab Steven zu. »Ich wollte aber
warten, bis du kommst. Wir müssen uns unterhalten.«
Sofort war ich hellwach. Mir war klar, dass ich
mich die letzten Stunden, seit wir uns gesehen hatten, nicht im
Geringsten um das gekümmert hatte, was ich ihm versprochen
hatte - nämlich einen Privatdetektiv anzuheuern. Wenn man es genau
nimmt, hatte ich rein gar nichts unternommen, um seine Mom
ausfindig zu machen. Es sei denn, man ließ gelten, dass ich
Christopher die Sozialversicherungsnummer von Mrs Howard mitgeteilt
hatte.
Und dann war da noch der Hinweis, den Dr. Higgins
mir gegeben hatte. Aber über Derartiges redete man ungern mit einem
Jungen. Schon gar nicht um ein Uhr in der Nacht.
»Was verheimlichst du mir?«, fing Steven an, bevor
ich ein Wort sagen konnte. »Was ist es, das du mir
verschweigst?«
Ich blinzelte ihn verwirrt an und fragte mich,
woher er das wusste.
»Äh«, setzte ich an. »Ich hab da was gehört
…«
Wie bringt man denn bitte einem Menschen bei, dass
seine Mom verrückt ist?
Wahrscheinlich trompetet man es einfach raus. Denn
genau so habe ich es gemacht. Na ja, ich konnte es ja schlecht noch
länger vor ihm verheimlichen, oder?
»Hältst du es für möglich, dass deine Mom, jetzt wo
du die ganze Zeit unterwegs warst und ihre Beziehung zu mir nicht
gerade die beste ist, na ja, dass sie vielleicht… durchgedreht ist?
Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie sowieso nicht in der
allerstabilsten Verfassung war«, sprudelte es aus mir heraus. »Die
Leute von Stark Enterprises sind der Ansicht…«
»Die Leute von Stark Enterprises?« Steven starrte
mich an, als sei ich diejenige, bei der definitiv eine Schraube
locker war. Was unmöglich stimmen konnte, denn meine Schrauben
waren gerade erst einer Inspektion unterzogen worden. Die saßen
bestimmt bombenfest. »Was wissen denn die Leute bei Stark? Die sind
ihr doch noch nie im Leben begegnet!«
»Nun raste doch nicht gleich aus«, besänftigte ich
ihn. Ich fühlte mich noch mieser als zuvor. Und daran waren nicht
meine schmerzenden Füße schuld. »Es tut mir wirklich total leid.
Aber immerhin bist du ihr Sohn, es könnte doch durchaus sein, dass
du nicht sehen willst, dass …«
»Was will ich nicht sehen?« Steven sah mich
herausfordernd an. »Dass Mom ganz allein zwei Kinder durchgebracht
und sich ihr ganzes Leben lang abgerackert hat, um uns
durchzufüttern und auf die Schule zu schicken, bloß weil unser Dad
abhauen musste, als ich sieben und du noch nicht mal zwei warst?
Dass keiner von uns je wieder von ihm gehört und Mom dir zu
Weihnachten trotzdem jeden Wunsch erfüllt hat, obwohl wir es uns
eigentlich gar nicht hätten leisten können? Dass Mom noch einen
Zweitjob angenommen hat, als du unbedingt Ballettunterricht haben
wolltest, nur weil deine beste Freundin auch welchen bekam, und
dass sie jeden Tag noch länger schuften musste, nur damit du
zufrieden warst? Und jetzt machst du dir noch nicht mal die Mühe,
sie zu suchen, bloß weil die Leute von Stark dir erzählt haben, sie
habe eine Schraube locker?«
Scheiße. Na toll, das hatte ich ja dann wohl so was
von vermasselt. Und wie. Warum nur hatte ich Dr. Higgins geglaubt
und nicht Steven? Weshalb war ich auf die Lügen einer Ärztin
hereingefallen, die für einen Konzern arbeitete, von dem ich
wusste, dass er schlecht war?
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich sogar, warum. Weil
es für mich einfacher war, als das Richtige zu tun und
Verantwortung zu übernehmen, indem ich Nikkis Bruder half. Gerade
weil ich die letzten Tage so mit dem Drama um Christopher
beschäftigt gewesen war. Mir war echt ein Rätsel, wie dumm und
egoistisch ich gewesen war. Die ganze Zeit über hatte ich nur an
mich gedacht, während Nikkis Verwandtschaft so viel Ärger und Leid
erdulden musste. Worüber musste ich mir denn eigentlich Sorgen
machen? Ob Christopher mich nun
wirklich gern mochte oder nicht? Ob die Leute mich jetzt in einem
BH aus lauter Diamanten sahen oder nicht? Eine Frau wurde vermisst
- eine Frau, die alles für ihre Kinder geopfert hatte. Und alles,
was ich getan hatte, war, der Verantwortung aus dem Weg zu gehen
und nichts zu tun.
Ich ließ den Kopf sinken, damit Steven meine
Schamesröte nicht sehen konnte, und murmelte in Cosabellas Fell,
die mir auf den Schoß geklettert war, ein leises: »Tut mir
leid.«
Ein paar Sekunden vergingen, in denen betretenes
Schweigen herrschte, ehe Steven mich mit sich überschlagender
Stimme fragte: »Wer zum Teufel bist du eigentlich?«
Ich hob den Kopf und starrte ihn ratlos an.
»W-was meinst du?«, stammelte ich.
»Na, so wie ich es sage.« Jetzt starrte auch er
mich an. Steven schien seine beunruhigend blauen Augen nicht mehr
von mir abwenden zu können. »Ich habe ehrlich nicht die leiseste
Ahnung, wer du eigentlich bist. Denn meine Schwester bist du ganz
bestimmt nicht. Du siehst zwar so aus wie sie und deine Stimme
klingt auch wie die ihre. Aber die Worte, die aus deinem Mund
kommen, die klingen ganz und gar nicht nach ihr. So würde sie nie
im Leben sprechen.«
Ein leises Krächzen kam aus meiner Kehle. Ich
schaffte es gerade noch, daraus ein: »Ich l-leide an einer Amnesie
…« werden zu lassen.
»Ich hab genug von diesem Amnesie-Gerede«,
schnauzte Steven mich an. »Du bist nicht Nikki. Sie würde sich
niemals bei mir für irgendetwas entschuldigen. Du musst eine Art
Doppelgängerin sein, die sie irgendwo aufgetrieben haben und die
jetzt aus irgendeinem Grund ihre Rolle eingenommen hat. Ich muss
schon sagen, dass sie wirklich ganze Arbeit geleistet haben. Das
haben die sogar richtig gut hingekriegt, muss ich zugeben. Denn du
siehst wirklich haargenau aus wie
sie, sogar hier…« Er griff nach meiner Hand, die auf Cosabellas
wuscheligem Kopf ruhte, und deutete auf eine winzige
halbmondförmige Narbe auf dem Handrücken. »Was haben die mit dir
gemacht? Haben die dich zerstückelt und wieder zusammengenäht,
damit du genauso aussiehst wie sie? Muss ja höllisch wehgetan
haben.« Er ließ meine Hand wieder fallen. »Ich hoffe, die bezahlen
dich wenigstens gut.«
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte.
Auf solch eine Situation hatten die Leute von Stark mich leider
nicht vorbereitet oder mir wenigstens einen Tipp gegeben, was ich
tun konnte, wenn es so weit kam. Panik stieg in mir auf. Was sollte
ich jetzt bloß sagen? Bisher hatte mir doch jeder die Sache mit der
Amnesie abgenommen. Ich hatte schon mit Hunderten von Nikkis
Freunden und Kollegen gesprochen, und auch wenn sie sich alle einig
waren darin, dass die »neue« Nikki irgendwie anders war, war bisher
keiner auf die Idee gekommen, mir vorzuwerfen, ich sei gar nicht
Nikki …
Also schüttelte ich nur den Kopf, sah ihm fest in
die Augen und sagte: »Ich hab echt keinen Schimmer, wovon du
eigentlich red…«
»Du weißt ganz genau, wovon ich rede«, fiel Steven
mir ins Wort. »Also raus mit der Sprache. Was habt ihr mit Nikki
gemacht? Ist sie vielleicht gefeuert worden, weil keiner mehr ihre
Arroganz ertragen konnte, oder wie? Wäre ja nicht das erste Mal. Wo
steckt sie überhaupt?«
Mit zittriger Hand fuhr ich mir über die Stirn, um
mir eine Strähne von Nikkis Haar aus dem Gesicht zu streichen. Ich
ließ den Blick durchs Zimmer streifen. Dann sah ich hoch zur Decke,
zu den winzig kleinen Löchern gleich neben der Halogenlampe. Ich
legte mir den Finger an die Lippen, um ihm zu signalisieren, er
solle keinen Mucks tun, und deutete nach oben. Steven folgte meinem
Blick, dann schaute er wieder
mich an, und zwar so, als wäre ich total verrückt. Eine Sekunde
später griff ich nach der Fernbedienung und stellte den Ton vom
Fernseher wieder laut. Das Apartment war erfüllt von den Klängen,
die die Hai-Dokumentation auf dem Discovery Channel begleiteten.
Dann stand ich auf, ging zum Phonoregal und schaltete die
Stereoanlage ein, in der bereits eine CD steckte. Lulus Stimme
erfüllte das Apartment. Mit schmachtender Stimme hauchte sie, dass
sie eine Katze sei und dass doch bitte jemand sie kraulen
möge.
Zu guter Letzt trat ich an die raumhohen Fenster
des Lofts und riss sie allesamt auf, um einen Schwall kalter Luft
und den Verkehrslärm von der Centre Street unten einzulassen.
»Was tust du da?«, fuhr Steven mich an.
Doch statt ihm zu antworten, setzte ich mich wieder
neben ihn und sah ihn eindringlich an.
»Ich kann dir nicht sagen, was mit deiner Schwester
geschehen ist«, flüsterte ich, damit man mich über die Kakofonie
aus Fernseher, Stereoanlage und Verkehr nicht verstehen konnte.
»Ich krieg echt Riesenärger, wenn ich es dir verrate. Na ja, also
eigentlich nicht ich, sondern meine Eltern.«
Stevens Augen verengten sich.
»Du gibst also zu, dass du nicht Nikki bist.« Seine
Stimme klang rasiermesserscharf.
Ich schüttelte den Kopf. »Na ja«, stammelte ich.
»Vielleicht zum Teil, ich meine … aber äußerlich schon.«
»Was meinst du damit, äußerlich schon?« Steven
funkelte mich jetzt mit bösen Augen an. »Was redest du da für
wirres Zeug?«
»Ja, schon gut.« Ratlos blickte ich auf Cosabella,
die völlig reglos zwischen uns lag, als befände sie sich in einer
Art Koma, so entspannt war sie trotz des ganzen Lärms. Oh Mann, in
dem Moment hätte ich wirklich alles dafür gegeben,
ein Hund zu sein. »Ich kann dir das nicht erklären. Du musst mir
einfach glauben. Nikki - die Nikki, die du kanntest - existiert
nicht mehr.«
»Sie existiert nicht mehr?«, hakte Steven nach.
»Was meinst du damit, sie existiert nicht mehr? Existiert nicht
mehr, also im Sinne von…« Ungläubig sah er mich an.
»Ganz genau«, bestätigte ich seine unausgesprochene
Vermutung. »Sie hat ein Aneurysma erlitten. Die Zeitbombe tickte
schon seit einiger Zeit in ihrem Kopf. Sie litt an einer ganz
seltenen genetisch bedingten Gefäßschwäche im Gehirn …«
»Schwachsinn, so etwas hatte sie bestimmt nicht«,
unterbrach Steven mich abrupt. Jetzt machte er nicht nur einen
ungläubigen Eindruck. Er machte vielmehr den Eindruck, als würde er
jeden Moment losprusten vor Lachen. »Wer hat dir denn den Quatsch
erzählt? War sie das etwa selbst?«
»Äh, nein«, erklärte ich. Eigentlich hielt ich ein
Lachen für keine angemessene Reaktion, wenn einem jemand mitteilte,
dass die eigene Schwester an einem Gehirn-Aneurysma gestorben war.
»Ich bin ihr offen gestanden nie begegnet …«
»Und woher kommt dann dieser Schwachsinn von wegen,
sie habe einen genetischen Defekt im Gehirn?«, wollte Steven
wissen. »Nikki war robust wie ein Pferd, wie im Übrigen unsere
gesamte Familie. Keiner von uns hat irgendwelche genetischen
Defekte, das kannst du mir glauben, und schon gar nicht Nikki. Sie
hat sich mal den Kopf angehauen, als sie die Tribüne in der Schule
runtergefallen ist. Anschließend wurden ein CT durchgeführt
und eine Magnetresonanztomographie. Da war sie in der
neunten Klasse und es hatte keinerlei Anzeichen gegeben für einen
Gehirndefekt. Also, wer hat dir diesen Bockmist erzählt?«
Ich schluckte. Dann brachte ich zaghaft hervor:
»Stark war’s.«
»Stark also, wie?« Er starrte mich fassungslos an.
»Die gleichen Leute, die dir weismachen wollten, dass meine Mutter
einen an der Klatsche hat.«
Ich holte Luft, um etwas zu erwidern, überlegte es
mir dann aber doch anders. »Äh … stimmt.«
»Und du glaubst diesen Leuten?«
Ich konnte ihm ja schlecht erzählen, dass ich gute
Gründe hatte, weshalb ich ihnen glaubte. Sollte ich ihm etwa
stecken, dass ich ohne Stark gar nicht mehr hier sitzen und mit ihm
reden könnte?
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. »Ich wüsste
nicht, weshalb ich das nicht tun sollte«, antwortete ich
schließlich mit fester Stimme. Diese Antwort schien mir irgendwie
am diplomatisch geschicktesten.
»Darf ich dich mal was fragen?« Steven beugte sich
zu mir vor und sah mich an. »Wann soll denn all das passiert sein?
Ich meine, als du ihre Rolle eingenommen hast und sie dieses
sogenannte Aneurysma erlitten hat?«
»Das war nicht nur ein sogenanntes Aneurysma«,
zeterte ich aufgebracht. »Dafür gibt es Zeugen. Das haben viele
mitgekriegt. Und zwar bei der großen Eröffnungsveranstaltung eines
Stark-Megastores. Sogar auf CNN haben sie darüber berichtet. Das
ist wirklich …«
»Ist ja gut«, fuhr er mit einer unwirschen
Handbewegung dazwischen. »Wann ist das passiert?«
»Vor drei Monaten«, erwiderte ich.
Im Kopf schien er irgendwelche komplizierten
Rechnungen anzustellen. »Aha, ungefähr um dieselbe Zeit«, murmelte
er.
»Ungefähr um dieselbe Zeit wie was?«
Plötzlich machte es
bei mir Klick. »Zur selben Zeit, wie deine Mom verschwunden ist?«
Abwartend sah ich ihn an. »Aber … worin soll denn da der
Zusammenhang bestehen?«
»Keine Ahnung«, gab er zu. »Aber es scheint mir
doch mehr als nur ein Zufall zu sein, findest du nicht auch? Und
erst recht, weil Stark dir diese Story aufbindet, von wegen meine
Mom sei geistig nicht voll zurechnungsfähig…«
»Du willst also behaupten, Stark habe etwas
mit dem Verschwinden von deiner Mom zu tun?« Mein Mund war auf
einmal staubtrocken.
Andererseits, warum sollte Stark hier nicht seine
Finger im Spiel haben? Sprach ja nichts dagegen, im Gegenteil.
Stark spionierte mir den ganzen Tag lang hinterher. Stark wusste
über alles Bescheid, bekam alles mit. Starks wahres Vermächtnis
ist Mord.
»Das ist doch klar wie Kloßbrühe«, empörte sich
Steven. »Sieh dich doch an. Du schiebst wegen Stark eine solche
Paranoia, dass du es nicht einmal wagst, auch nur ein Wort zu
sagen, ohne dass du vorher jedes Elektrogerät anmachst, das einen
Ton zu erzeugen vermag. Glaubst du denn ernsthaft, dass die Wohnung
verwanzt ist?«
Statt ihm zu antworten, griff ich nach meiner
Tasche, holte den Wanzendetektor daraus hervor und stellte ihn an.
Der Alarmton wurde lauter und lauter, piepte in immer schnelleren
Intervallen, je weiter ich mich mit der Antenne der Decke und damit
den winzigen Löchern über unseren Köpfen näherte.
»Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass dieses Ding
völliger Schrott ist«, warnte ich ihn. »Ich hab nämlich fast
fünfhundert Dollar dafür hingeblättert.«
Steven blinzelte verstört. »Oh, wie blöd«, meinte
er. »Das Ding ist nämlich tatsächlich Schrott.«
»Ist es nicht«, beharrte ich. »Ich bin überzeugt,
dass die hier drinnen irgendwas installiert haben, und damit
zeichnen sie all unsere Gespräche auf. Die wussten ganz genau, dass
du hier bist. Sie sind ständig über Dinge informiert, die sie
eigentlich gar nicht wissen können.«
»Ich bin gelernter Techniker für
Kommunikationselektronik«, erklärte Steven mir mit ruhiger Stimme.
»Und das bei der US-Navy. Glaub mir, das Ding da ist nichts als ein
Haufen Schrott… Was allerdings nicht heißen soll, dass es nicht
funktioniert.«
Ich spürte, wie mir ein eisiger Schauer über den
Rücken lief. »Im Ernst?«
»Im Ernst«, bestätigte er. Er nahm mir den Detektor
aus der Hand und stand selbst auf, um die Antenne in Richtung Decke
zu halten. Das Klicken wurde sofort lauter und schneller.
»Wie lange sind die da schon?«, erkundigte er sich
und wies mit dem Kinn auf die Löcher.
»Keine Ahnung«, flüsterte ich. »Ich hab sie
irgendwann einfach bemerkt.«
»Nicht gut, gar nicht gut«, meinte er. Er stellte
das Gerät aus und warf es achtlos auf die Couch. »Und was machen
wir jetzt?«
»Was meinst du damit, was machen wir
jetzt?«, hakte ich nach.
»Verstehst du denn nicht? Zwei Frauen sind spurlos
verschwunden, und Stark ist offensichtlich der Einzige, der den
Grund dafür kennt.« Steven klang aufgebracht.
»Nur eine Frau ist verschwunden«, präzisierte ich
mit meinen viel zu spröden Lippen. »Ich hab dir doch gesagt,
Nikki…«
»… existiert nicht mehr, das hast du mir bereits
erklärt.
Aber das stimmt doch nicht ganz?« Er stand da und sah abwartend zu
mir runter.
»Nein, nicht ganz«, sagte ich. »Rein rechtlich
gesehen ist sie noch am Leben. Denn rein rechtlich gesehen bin ich
sie.«
Steven hielt seinen Blick weiter auf mich
gerichtet. Nach einem kurzen Zögern sagte er: »Du willst mich wohl
verarschen, stimmt’s?«
»Nein, überhaupt nicht«, protestierte ich
verzweifelt. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust. Ich
musste es ihm sagen. Ich musste ihm die Wahrheit sagen. Er
verdiente es, die Wahrheit zu kennen. Immerhin war sie seine
Schwester gewesen. Ich musste ihm die ganze Sache erklären, es gab
keine andere Möglichkeit. »Was du hier siehst, ist der Körper
deiner Schwester Nikki. Ihr Gehirn aber…«
Ehe ich es mich versah, hatte er sich zu mir
runtergebeugt, mich an beiden Schultern gepackt und hoch auf die
Füße gezerrt. Cosabella erschrak dermaßen, dass sie zu jaulen
anfing. Doch das ließ ihn völlig kalt.
»Was zur Hölle redest du da eigentlich?«, fragte er
mich, während er mich kräftig schüttelte. »Wie zum Teufel kann denn
das hier der Körper meiner Schwester sein?«
Mit einem Mal sah ich ihn nur noch total
verschwommen. Daran waren die salzigen Tränen schuld, die mir aus
den Augen quollen.
»Ich kann es dir nicht sagen«, heulte ich.
»Wahrscheinlich sind die wirklich schuld daran, dass deine Mutter
verschwunden ist. Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich es
mir mit denen verscherzen will? Du hast ja keine Ahnung. Du hast
keinen Schimmer, wozu die fähig sind, wie mächtig sie sind, wie
viel Kohle die zur Verfügung haben…«
Steven hielt mich mit eisernem Griff umklammert.
Langsam machte ich mir Sorgen, dass ich blaue Flecken bekommen
könnte. Wenn die nicht bis Silvester verschwunden waren, würde das
bei der Aufzeichnung der Stark-Angel-Show gar nicht gut
aussehen.
»Das ist doch völlig verrückt«, schrie Steven
nervös und schüttelte mich bei jeder Silbe, um seinen Worten
Nachdruck zu verleihen. Cosabella, die uns vom Sofa aus
beobachtete, ließ ein nervöses Bellen vernehmen. »Und du
bist auch verrückt, hörst du? Kein Wort von dem, was du sagst, ist
wahr, alles völliger Schwachsinn.«
»Ich bin nicht verrückt«, beharrte ich. »Ich hatte
nur eine Gehirntransplantation, das ist alles. Verstehst du, mein
Gehirn, im Körper deiner Schwester…«
Das schien ihn nun vollends umzuhauen. Trotzdem
ließ er mich nicht los. »Stark? Steckt Stark hinter
dieser Sache? Wenn Stark tatsächlich für all das verantwortlich
sein soll - wenn sie das ernsthaft getan haben sollten -, warum
weiß dann niemand darüber Bescheid? Warum hast du es niemandem
erzählt?«
»Ich hab’s dir doch gesagt«, fauchte ich ihn an und
verlor fast die Beherrschung. »Wir können es niemandem erzählen.
Niemandem, verstehst du nicht? Die Leute von Stark haben mir
gedroht, meine Eltern in den Knast zu bringen, wenn ich auch nur
einen Ton sage! Und die meinen das ernst! Glaub bloß nicht, dass du
damit an die Presse gehen könntest oder so was. Das kannst du dir
gleich aus dem Kopf schlagen. Du hast keine Chance. Denn Stark hat
die Presse in der Hand. Aber ich versprech dir, ich werde alles
tun, um deine Mom zu finden.«
»Wie denn?«, wollte er wissen und lockerte seinen
Griff. »Wie willst du das denn bitte anstellen?«
Tja, gute Frage, wie wollte ich das eigentlich
anstellen? Ich konnte ja schlecht Christopher und den verrückten
Plan, den
er mit seinem Cousin Felix ausgeheckt hatte, anführen. Erstens war
der dermaßen verrückt, dass nicht die geringste Aussicht auf Erfolg
bestand. Und zweitens wollte ich nicht, dass Christopher noch
tiefer in die ganze Sache mit reingezogen wurde, als es eh schon
der Fall war. Ich liebte Christopher, auch wenn er meine Gefühle
nicht erwiderte - beziehungsweise auch wenn er ein totes Mädchen
liebte, das ich einmal gewesen war, nicht die, die ich jetzt war.
Ich durfte ihn da nicht tiefer mit reinziehen, nicht wenn das, was
Steven vermutete, der Wahrheit entsprach und seine Mom tatsächlich
verschwunden war wegen der Sache mit Nikki und mir. Das war viel zu
gefährlich.
Aber andererseits …
Andererseits, wenn Christopher und Felix wirklich
schafften, was sie mir vorgeschlagen hatten …
»Ich kenn da ein paar Leute, die behaupten, sie
könnten sie finden«, hörte ich mich plötzlich sagen.
Wie durch ein Wunder ließ Steven meine Arme
los.
»Wer sind diese Leute?«, wollte er wissen.
Genau in diesem Augenblick öffnete sich langsam
meine Schlafzimmertür und Lulu streckte ihr zerzaustes Köpfchen
heraus.
»Was ist denn hier los?«, meinte sie und blinzelte
uns verschlafen an. »Was soll der Lärm? Warum brüllt ihr euch an?
Und weshalb ist Cosabella so aus dem Häuschen?«
Steven wich von mir zurück.
»Nichts«, wehrte er stirnrunzelnd ab und griff nach
der Fernbedienung. Er stellte den Fernseher aus. »Nur ein kleiner
Familienstreit. Geh wieder ins Bett.«
Doch Lulu hörte nicht auf ihn. Stattdessen kam sie
barfuß ins Wohnzimmer getrippelt. Statt des üblichen Negligés trug
sie einen pinkfarbenen Flanellschlafanzug in Übergröße, der
mit riesigen Kirschen bedruckt war. Anhand der hochgekrempelten
Hosenbeine schloss ich, dass der Pyjama Nikki gehören musste.
»Nein, im Ernst«, insistierte sie. »Was ist los?
Hey, hört ihr euch etwa meine CD an?«
»Klar«, log ich und wischte mir eine Haarsträhne
aus dem Gesicht. »Alles in Ordnung, glaub mir. Geh wieder
schlafen.«
»Nein.« Lulu torkelte entschlossen zum Sofa hinüber
und ließ sich neben Cosabella in die Polster plumpsen. »Es klang
ganz so, als würdet ihr euch streiten. Und ich will nicht, dass ihr
euch zofft. Hört mal, ich selbst hatte nie einen Bruder oder eine
Schwester, und aus dem Grund hab ich mir komischerweise immer
Geschwister gewünscht, mit denen ich mich streiten konnte. Aber
egal. Weshalb habt ihr euch denn in die Haare gekriegt?«
Ich warf Steven einen fragenden Blick zu. Der
stierte finster auf den weißen Teppich. Da es nicht den Anschein
machte, als würde er so bald irgendwas sagen, zuckte ich mit den
Schultern und meinte: »Er hat das mit der Seelenübertragung
rausgekriegt.«
Lulu sah erschrocken zu Steven rüber, dann griff
sie nach seiner Hand. Im Vergleich zu ihren zierlichen Händen
wirkte die wie eine riesige Pranke.
»Ach, mein armer Schatz!« Sie drückte ihm tröstend
die Hand. »Du vermisst die alte Nikki, stimmt’s?«
Er sah sie ungläubig an. »Die alte Nikki? Wovon zum
Teufel … Du weißt von der ganzen Sache?«
»Klar«, hauchte sie einfühlsam und zog liebevoll an
seinem kleinen Finger, um ihn dazu zu bewegen, sich neben sie auf
die Couch zu setzen. Logisch, dass er sich dagegen wehrte. »Wir
wissen es doch alle. Na ja, zumindest ich und Brandon wissen
Bescheid. Wir sind sogar losgezogen, um Nikki
aus dem Krankenhaus zu entführen, nachdem es passiert war. Das
fand sie allerdings überhaupt nicht gut. Aber wir dachten doch, die
von der al-Qaida hätten sie sich geschnappt! Oder die Scientologen,
was weiß ich. Aber dann hat sich rausgestellt, dass es weder die
einen noch die anderen waren. Die alte Nikki war einfach weg. Und
die neue Nikki hatte ihren Platz eingenommen. Und dann haben wir
beschlossen, die neue noch lieber zu mögen als die alte. Zumindest
war das bei mir so. Keine Ahnung, wie das bei Brandon war. Warum
fragst du?« Lulu sah abwechselnd mich und Steven an. »Hast du denn
ein Problem damit?«
Steven schüttelte verstört den Kopf. »Ich brauch
sofort ein Aspirin«, war alles, was er noch herausbrachte.
Dann aber ließ er Lulu gewähren und setzte sich
neben sie auf die Couch. Den Kopf in den Händen vergraben, saß er
reglos da. Er sah aus wie ein Mann, der nach langem Kampf seine
Niederlage eingestehen musste. Na ja, ich konnte ihn schon
irgendwie verstehen.
»Soll ich dir den Nacken massieren?«, fragte Lulu
ihn strahlend. Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte sie sich zu
ihm, um ihm den Nacken zu kneten. »Ich bin ein echtes Talent, was
Nackenmassagen betrifft. Nikki schmilzt in meinen Händen immer
total dahin und wird zu Wackelpudding. Katerina, unsere
Haushälterin, hat mir das beigebracht. Und die hat ihre Ausbildung
in einem der besten Spas in Gstaad absolviert. Wichtig ist, dass
man die Spannung rauskriegt, und zwar genau hier, an dem
Punkt …«
»Ich kenn da echt jemanden«, flüsterte ich ihm zu.
Ich wollte jetzt unbedingt alles wiedergutmachen. Wenn mir auch
noch nicht so ganz klar war, wie irgendetwas jemals wieder gut
werden konnte. Seine Schwester war tot, auch wenn er es allem
Anschein nach nicht wahrhaben wollte.
Na ja, und natürlich hielt ich das alles für meine
Schuld, auch wenn ich tief in meinem Inneren wusste, dass dem nicht
so war.
Steven blickte auf.
»Was meinst du?«, hakte er nach.
»Ich kenn da einen Typen«, wiederholte ich im
Flüsterton. Ich betete, dass das leise genug gewesen war, nicht
dass man das über die Wanzen noch hören konnte. »Einen Typen, der
sich echt krass gut mit Computern auskennt. Der behauptet, er könne
deine Mom finden.«
Was ich ihm verschwieg, war die Tatsache, dass es
sich bei dem Typen um den vierzehnjährigen Cousin von einem Jungen
handelte, in den ich schon seit, sagen wir mal, der siebten Klasse
völlig verschossen war. Steven machte auch so schon den Eindruck,
als würde er sich am liebsten umbringen. Er starrte mich blicklos
an, während Lulu ihm den Nacken massierte. Komischerweise schien
Lulus Genickmassage auf Steven nicht denselben Effekt zu haben wie
auf Nikki.
»Wie denn?«, wollte Steven wissen. »Wie will er sie
denn finden, wenn selbst die Polizei das nicht geschafft
hat?«
»Ich hab keine Ahnung«, wisperte ich leise. »Er hat
gesagt, dass er das kann. Sieh mal, wir haben doch nichts zu
verlieren.« Außer meinem Leben und noch so einigem mehr, wenn
Steven herausfinden sollte, dass es sich bei dem »Typen« um einen
Teenie handelte.
»Und wann können wir loslegen?«, fragte Steven,
plötzlich ganz aufgeregt. Anscheinend konnte er es gar nicht mehr
erwarten.
Ich spürte, wie mein Herz kurz aussetzte. Dass er
so schnell zu überzeugen wäre, damit hatte ich nicht gerechnet. Was
tat ich Christopher nur an? Und dem kleinen Felix?
Andererseits, wenn der Plan der beiden wirklich
aufging,
dann würde es womöglich keinen Stark-Konzern mehr geben, der uns
hinterher etwas würde anhaben können.
Ja, klar, wer’s glaubt … Und Nikki Howard wurde
vielleicht demnächst auch noch Präsidentin der USA.
»Äh. Morgen früh vielleicht?«, sagte ich
zögernd.
»Bestens.« Steven nickte zufrieden. »Dann machen
wir das so.«
Lulu wirkte ebenfalls zufrieden. »Fantastisch!«,
rief sie quietschvergnügt und machte sich sogleich mit ihrem
Ellbogen an seinem Trapezmuskel zu schaffen. »Und soll ich euch was
sagen? Du wirkst auf mich schon gleich viel entspannter!«
»Danke schön.« Steven schenkte ihr ein kurzes
Lächeln, dann stand er auf und ging auf die Tür zu ihrem Zimmer zu.
»Ich bin fix und fertig. Wir … wir sehen uns morgen früh.«
An der Tür zu Lulus Zimmer angekommen, drehte er
sich nach kurzem Zögern noch einmal zu mir um.
»Wie soll ich dich denn eigentlich nennen?«, fragte
er mich mit in Falten gelegter Stirn.
Meine Stimme klang nach all dem vorangegangenen
Gebrüll plötzlich ungewöhnlich sanft und leise in dem riesigen
Loft. Vom Fenster her drang immer noch lauter Verkehrslärm zu uns,
obwohl es schon so spät in der Nacht war. Na ja, immerhin lebten
wir in der Stadt, die laut Frank Sinatra niemals schlief. Über die
Lautsprecher war Lulu zu hören, die schnurrte und fauchte wie eine
Katze. Selbst wenn die von Stark Fetzen von unserer Konversation
mitbekamen, musste sie das aus dem Konzept bringen.
»Nikki«, antwortete ich Steven. »So heiße ich jetzt
nun mal.«
Ganze zehn Sekunden lang starrte er mich an, ohne
eine Miene zu verziehen. Selbst wenn ich es versucht hätte, ich
hätte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten können.
Dann drehte er sich abrupt um, verschwand durch die
Tür und schloss sie leise hinter sich. Ich warf Lulu einen
fragenden Blick zu.
»Oh Mann«, sagte sie, ein breites Grinsen in ihrem
frisch geschrubbten Gesicht. »Das lief doch ganz gut, oder? Findest
du nicht?«
Mit einem frustrierten Stöhnen ließ ich mich neben
ihr aufs Sofa fallen. Mir war klar, dass mir wieder mal eine
schlaflose Nacht bevorstand.