NEUN
Fassungslos starrte ich ihn an.
Toll. Das würde ich ihm nie verraten. Kein Wort würde ich ihm davon sagen.
»Ich hab doch gar nicht geheult«, protestierte ich schwach und nahm die Tasse entgegen. Oh, was für eine ausgezeichnete Antwort, Em! Eins zu null für dich.
»Klar hast du das«, meinte er sanft. Er ließ sich am anderen Ende der Couch nieder, aber erst nachdem er auch noch die Los Angeles Times und den Seattle Post-Intelligencer runtergefegt hatte. Cosabella, die es sich auf dem Kissen zwischen uns gemütlich gemacht hatte, sah mit neugierig gespitzten Ohren blinzelnd zu, wie die einzelnen Teile der Zeitungen runter auf den Parkettboden segelten. »Ich meine, du könntest natürlich auch behaupten, dass dir die Augen wegen der Kälte getränt haben. Aber für mich sah es ganz danach aus, als hättest du geweint.«
Sprachlos starrte ich ihn an. Was konnte ich dazu sagen? Ich war echt aufgeschmissen. Ich nahm einen winzigen Schluck Tee und hoffte, im Pfefferminzgeschmack Inspiration zu finden. Aber leider… nein. Nichts.
»Du musst es mir natürlich nicht erzählen, wenn du nicht willst«, fuhr Christopher fort. »Aber ich wüsste nicht, was du zu verlieren hättest. Ich kenne keinen von den Leuten, die du so kennst, deshalb könnte ich es auch niemandem weitererzählen.«
Ich sah mich in der Wohnung um, da ich irgendwie die Befürchtung hatte, ein Paparazzo oder gar jemand von Starks Leuten könnte plötzlich hinter einem der Möbelstücke hervorspringen und ein Foto von mir schießen. Christopher hatte kaum mehr als drei Sätze mit mir gesprochen, seit ich aus dem Koma erwacht war und wieder regelmäßig den Unterricht an der Tribeca Highschool besuchte. Warum sollten die also seine Wohnung verwanzt haben? Selbst Stark musste doch erkennen, dass er viel mehr an McKayla Donofrio interessiert war als an mir. Was hatten die bloß für ein Problem?
»Mein Dad hat gerade seine Wochenend-Sprechstunde«, erklärte Christopher und schien meine Gedanken lesen zu können - wenn auch nicht so ganz exakt. »Der letzte Tag vor den Abschlussprüfungen. Seine ganzen Studenten packt jetzt die Panik.«
»Oh«, brachte ich hervor. Ich wünschte, er hätte meine anderen Gedanken gelesen. Diejenigen, in denen es darum ging, dass er endlich seine Kaffeetasse abstellte und mich küsste. Und in denen er endlich dahinterkam, dass ich seine gute alte Freundin Em und nicht Nikki Howard war. Obwohl das für das Kussszenario womöglich kontraproduktiv gewesen wäre, da Christopher nie auch nur das geringste Interesse daran gezeigt hatte, mit mir rumzumachen, solange ich noch am Leben war. In meinem alten Körper, meine ich.
»Es ist bloß«, setzte ich zögerlich an. Weshalb sollte ich es ihm eigentlich nicht erzählen? Warum ihm nicht gestehen, dass ich seine gute alte Freundin Em und nicht tot war? Ich konnte ihm das natürlich nicht wortwörtlich so sagen, denn irgendwo in dieser Wohnung waren Abhörgeräte versteckt. Doch ich konnte die Wahrheit aufschreiben, oder nicht? Und wenn ich damit fertig war, konnte ich die Beweise wieder vernichten.
Klar, warum eigentlich nicht? Christopher würde niemandem etwas verraten.
Außer seinem Vater vielleicht. Und der war ein solch begeisterter Verschwörungstheoretiker, dass er mit Sicherheit darauf bestehen würde, mit der Story an sämtliche Nachrichtenagenturen unseres Landes heranzutreten, sobald er herausfand, dass seine Wohnung verwanzt war. Und das würde er herausfinden, denn ich müsste Christopher ja schließlich erklären, weshalb ich ihm mein Geheimnis schriftlich darlegte, statt es ihm zu erzählen. Der Commander hasste Stark nämlich beinahe so leidenschaftlich wie ich selbst. Christopher würde ihn unmöglich dazu bringen können, zu schweigen über das, was sie mir angetan hatten … oder Stillschweigen zu bewahren über die Tatsache, dass sie seine Wohnung verwanzt hatten.
Und dann wären Mom und Dad ruiniert, wenn sie nicht sogar ins Gefängnis müssten, dafür dass sie gegen den Vertrag verstießen, den sie eigenhändig unterzeichnet hatten. Die zig Millionen Dollar, die sie dann für meine Operation zurückzahlen müssten, die juristischen Kosten und Strafen, die man ihnen aufbrummen würde? Selbst Nikki Howard hatte nicht so viel Geld auf ihrem Konto … Außerdem hätte ich auf dieses Geld sowieso keinen Zugriff mehr, falls der Commander sich an CNN wendete.
Nein. Unmöglich. Ich konnte Christopher nicht die Wahrheit sagen. Zumindest noch nicht.
Und so wie die Dinge jetzt liefen? Vielleicht niemals.
»Es ist nur so«, fing ich erneut an, um Zeit zu gewinnen. Was sollte ich bloß sagen? Wie wäre es mit … irgendwas, was der Wahrheit möglichst nahe kam vielleicht? Alles, nur nicht die ganze Wahrheit eben. »… Ich habe heute eine ziemlich schlechte Nachricht erhalten.«
»Im Ernst?« Christopher wirkte aufrichtig besorgt. So hat er mich immer angeschaut, wenn ich ihm von einer schlechten Note oder von einem Streit mit meiner Schwester erzählt habe oder dass meine Spielfigur in Journeyquest wieder mal ein Leben verloren hat.
Und in dem Moment wurde mir klar… Was wollte ich denn eigentlich sagen? Ich konnte ihm ja schlecht erzählen, was gerade zwischen meiner Mom und mir vorgefallen war. Dass ich traurig darüber war, dass ich über Weihnachten nicht mit meiner Familie nach Florida fahren konnte. Weil sie ja gar nicht mehr wirklich meine Familie war.
Aber irgendetwas musste ich jetzt sagen, nachdem ich schon damit herausgeplatzt war, dass ich schlechte Neuigkeiten erhalten hatte. Nur was? Dass ich einer von den Stark-Engeln bin? Oh Gott, nein … Dafür würde Christopher nicht das geringste bisschen Mitleid aufbringen können. Alles, nur das nicht. Doch was blieb mir sonst?
»Meine Mom ist verschwunden«, hörte ich mich plötzlich sagen.
Oh Mist. Na toll. Das wollte ich eigentlich auch nicht unbedingt rausposaunen. Jetzt war es allerdings zu spät, um die Worte wieder zurückzunehmen.
Christopher starrte mich mit seinen ultrablauen Augen an, die vor Schreck ganz groß geworden waren.
»Deine Mom ist verschwunden?«, fragte er ungläubig.
Erst als ich es aus seinem Mund hörte, wurde mir klar, dass das wirklich das Allerletzte war, was ich ihm gegenüber hätte erwähnen sollen. Vielleicht wäre die Sache mit dem Stark-Oberengel gar nicht mal so schlimm gewesen.
»Wir stehen uns nicht besonders nahe«, erklärte ich möglichst ungerührt, um die Sache abzutun. »Sie ist, äh« - Wow. Wie komme ich aus der Kiste jetzt bloß wieder raus? -, »schon seit einiger Zeit verschollen, und ich hab das erst jetzt erfahren, weil wir nicht regelmäßig in Kontakt sind…«
In diesem Moment fiel mir auf, dass es ja nicht gerade von Takt zeugte, dass ich das erzählte. Christopher und seine Mom standen sich nämlich ebenfalls nicht sonderlich nah, da er sich im Zuge der Scheidung seiner Eltern entschieden hatte, bei seinem Vater und nicht bei seiner Mutter zu leben. Diese Entscheidung hatte allerdings, so hatte er mir einmal gestanden, nichts damit zu tun gehabt, dass er seine Mutter nicht gemocht oder seinen Vater irgendwie bevorzugt hätte. Sie war allein darauf zurückzuführen, dass seine jüngere Schwester bei seiner Mutter leben wollte und Christopher es daher nur fair gefunden hatte, dass eines der Kinder sich auf die Seite des Vaters stellte, der ebenfalls das volle Sorgerecht beantragt hatte. So war es letztendlich auch dazu gekommen, dass er bei uns im Haus eingezogen war.
»Seit wann ist sie denn schon verschwunden?«, wollte er wissen. Gedankenverloren streichelte er Cosys Fell, die mit ihrer Schnauze auf seinem Knie eingeschlafen war.
»Seit ein paar Monaten«, erwiderte ich, ein wenig überrascht angesichts seines auffallenden Interesses. Andererseits wäre wahrscheinlich jeder alarmiert gewesen, wenn er vom Verschwinden von jemandes Mutter gehört hätte. Es sei denn, es handelte sich um Rebecca, meine Agentin. »Vielleicht… drei.«
Ein abwesender Ausdruck trat in Christophers blaue Augen. »Ungefähr seit der Zeit des Unfalls also«, murmelte er und starrte in Richtung des Fernsehers. »Das erklärt so manches.«
Erschrocken zog ich die Augenbrauen hoch. »Wie bitte?«
Seine Augen huschten zu mir zurück. »Ach, nichts«, meinte er. Doch es gab keinen Zweifel, dass da durchaus etwas war.
»Und was hast du unternommen, um sie ausfindig zu machen?«, fragte er weiter. »Hat denn schon jemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben?«
»Äh«, stammelte ich. »Klar. Schätze schon.«
»Du schätzt schon?« Christopher machte einen verwirrten Eindruck. Man konnte es ihm echt nicht verübeln. Ich war ja selbst verwirrt. Was genau ging hier eigentlich vor sich? Langsam machte ich mir ernsthaft Gedanken darüber, ob Christopher vor Sorge angesichts meines Todes durchdrehte. Dass er sich das Haar total kurz hatte schneiden lassen - es ging ihm vorher bis zu den Schultern -, war schließlich nicht die einzige Veränderung, die ich an ihm festgestellt hatte, seit ich »gestorben« war. Seither war er viel ernster, verbrachte einen Großteil seiner Zeit allein im Computerraum unserer Schule und sprach so gut wie mit niemandem mehr. Mich eingeschlossen, obwohl ich mir wirklich alle Mühe gab, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken.
»Na ja, ehrlich gesagt kümmert mein Bruder sich um die Angelegenheit«, gestand ich ihm. »Ich habe bisher nur meinen Mobilfunkanbieter angerufen«, fügte ich schnell hinzu. »Damit die für mich rausfinden, ob sie mich vielleicht angerufen hat und ich den Anruf verpasst habe …«
Christopher schüttelte den Kopf. »Das kann Monate dauern, bis die sich wegen einer solchen Auskunft bei dir melden.«
Ich sah ihn an und zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß«, gab ich zu. »Aber was soll ich denn sonst tun?« Ich hasste es, mich derart hilflos zu fühlen. Und ganz besonders vor Christopher. In meinem alten Körper hatte ich immer alles darangesetzt, mich ihm von meiner besten Seite zu zeigen, so als hätte er mir weniger Beachtung geschenkt, wenn ich auch nur ansatzweise ein Zeichen von weiblicher Schwäche hätte erkennen lassen. Wenn da zum Beispiel ein Käfer über den Boden krabbelte? Dann trat ich einfach drauf. Und wenn mir etwas auf einem Regal zu weit oben war und ich es nicht erreichen konnte? Dann holte ich mir einen Stuhl und stieg hoch. Wenn der Deckel vom Erdnussbutterglas klemmte? Dann hätte ich es garantiert lieber den ganzen Weg in unsere Wohnung geschleppt und meinen Dad gefragt, ob er es mir aufmachte, bevor ich Christopher darum gebeten hätte.
Doch jetzt… jetzt fragte ich mich ernsthaft, ob das wirklich ein so weiser Zug von mir gewesen war. Ich meine, man kriegt Jungs doch nicht rum, indem man so tut, als würde man sie nicht brauchen, oder? Jedenfalls hatte ich Brandon kürzlich nicht mit diesem Trick dazu gebracht, mich zu küssen. Ich hatte ihn stattdessen um Hilfe gebeten, um möglichst schnell zurück nach New York zu kommen, und so schnell konnte ich gar nicht schauen, da knutschten wir auch schon wild rum, und er stellte mir die Frage, ob ich nicht wieder seine Freundin sein wolle.
Wenn ich mit Christopher herummachen hätte wollen, wäre es dann nicht das Beste gewesen, so zu tun, als würde ich ihn dringend brauchen? Wenigstens ein kleines bisschen?
Okay, zugegeben, ich hasse diese Art Mädchen - all die Whitney Robertsons dieser Welt. Aber hey, mal ehrlich, hatte sie nicht den schärfsten Freund an unserer Schule? (Wenn man stiernackige Sportskanonen in Polohemden tatsächlich als scharf bezeichnen wollte.)
»Der Vater von McKayla Donofrio arbeitet bei der Generalstaatsanwaltschaft«, schlug Christopher nun vor, offensichtlich in der Absicht, mir zu helfen. »Vielleicht kann er ja irgendetwas für deine Mom tun?«
McKayla Donofrio? Woher wusste Christopher eigentlich, womit ihr Vater sein Geld verdiente?
Allerdings, wenn man sich überlegte, was für ein Snob McKayla war, dann wurde einem klar, dass sie in der Schule irgendwann mal damit angegeben haben musste. Sie gab sowieso die ganze Zeit damit an, dass sie ein Begabtenstipendium erhielt und die Vorsitzende des Klubs der jungen Börsianer an der Tribeca Highschool war. Sie prahlte ja sogar mit ihrer Laktoseintoleranz! Dass ihr Vater bei der Generalstaatsanwaltschaft tätig war, wäre in ihren Augen wahrscheinlich nur ein klitzekleines bisschen weniger prestigeträchtig.
Aber vielleicht waren Christopher und McKayla ja auch ein Paar? Ich hatte sie doch immer öfter dabei erwischt, wie sie ihn anstarrte, je weiter das Halbjahr voranschritt. Verstärkt ab dem Zeitpunkt, wo er sich das Haar abschneiden ließ und sich immer öfter in Schwarz kleidete. (Was steckte eigentlich dahinter?) Und hatte ich ihn nicht dabei beobachtet, wie sein Blick immer öfter zu ihr rübergewandert war? Aber wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich eigentlich immer den Eindruck gehabt, als würde er ausschließlich aus purer Langeweile auf einen Punkt irgendwo vor ihm starren.
Zwischen den beiden konnte eigentlich nichts sein. Da konnte einfach nichts sein.
Und dennoch…
Auf einmal hätte ich am liebsten wieder losgeheult. Christopher und McKayla, diese Vorstellung gab mir den Rest - nach all den anderen Problemen, die mich eh schon quälten.
Das war nun wirklich das Letzte, was mir noch gefehlt hatte: dass jemand von der Generalstaatsanwaltschaft des Staates New York in Nikki Howards Angelegenheiten herumschnüffelte. Bitte nicht.
»Hey.« Christopher legte mir sanft die Hand auf die Schulter. Darüber war ich so verblüfft, dass ich zusammenfuhr. Ich hatte mir nämlich gerade ausgemalt, wie es wäre, wenn die beiden bei einem von McKaylas Börsianer-Klub-Treffen über irgendeiner PowerPoint-Präsentation die Köpfe zusammensteckten, er seinen hellen Haarschopf und sie ihre dunkle Mähne. Ich war so versunken gewesen, dass ich völlig vergessen hatte, dass er ja noch da war. »Geht es dir gut?«
»M-mir geht es gut, ja«, stammelte ich. Meine Augen hatten sich wieder mit Tränen gefüllt. Schnell wischte ich sie mir fort. »Nur … eine Allergie. Entschuldige. Ich sollte vielleicht besser gehen …«
Ich stand auf, um zu verschwinden, bevor ich vollends die Kontrolle über meine Tränenkanäle verlor. Langsam war ich aber so was von reif für die Anstalt. Und außerdem, eine Allergie? Mitten im Winter? Klar. Spitzenmäßige Idee, Em.
»Du machst dir tatsächlich große Sorgen«, stellte Christopher fest und sah mir von der Couch aus fest in die Augen. Auf die Entschuldigung mit der Allergie war er also nicht reingefallen. »Hab ich recht?«
»Na ja«, meinte ich schniefend. Spürte ich da etwa einen Ansatz von schlechtem Gewissen, dass ich ihn in dem Glauben ließ, die Tränen galten Nikkis verschwundener Mom, wo ich doch in Wirklichkeit wegen ihm heulte? Klar. Aber was soll’s. Wenn er mich mit seinen leuchtenden blauen Augen so mitleidig anschaute, fühlte ich mich schon gleich nicht mehr so schuldig. »Ich meine, klar. Sie ist meine Mutter.«
Ooooh, wie süß, Em. Trägst du jetzt nicht ein bisschen zu dick auf?
»Hör zu.« Auf einmal schien Christopher eine Entscheidung gefällt zu haben. »Bevor du jetzt gehst … lass mich bitte eine Sache versuchen.«
Er erhob sich, nachdem er Cosabella zur Seite geschoben hatte, die nur kurz aufseufzte und sich zu einer Kugel zusammenrollte, durchquerte das Wohnzimmer und marschierte den Flur entlang. Bestimmt wollte er in sein Zimmer. Was sollte das denn jetzt werden?
»Äh. Christopher?«, rief ich ihm ein paar Minuten später hinterher, weil er noch nicht wieder aufgetaucht war. Ganz offensichtlich wollte er mir nicht nur einen Schirm holen.
»Hier drinnen«, tönte es zurück. »Schon okay. Komm nur rein.«
Ich folgte dem Klang seiner Stimme und fragte mich, was zum Teufel er vorhatte. Einen Schirm zu holen, konnte nun wirklich nicht so lange dauern.
Im Türrahmen zu seinem Zimmer blieb ich dann allerdings wie angewurzelt stehen.
»All das wäre sicherlich um einiges leichter«, murmelte Christopher gerade von seinem Schreibtischstuhl aus, »wenn wir es bloß schafften, ihre Firewall zu durchbrechen …«
Doch ich konnte ihm längst nicht mehr zuhören. Denn ganz oben auf Christophers unaufgeräumten Bücherregal, das in der Mitte bereits durchhing, weil sich so unglaublich viele dicke Wälzer darauf stapelten, thronte ein Foto von …
… mir.
Nicht von McKayla Donofrio. Nicht von Nikki Howard. Von mir. Emerson Watts.
Es war das Foto, das sie bei meiner Beerdigung verwendet hatten. Meiner Meinung nach war es nicht gerade das schmeichelhafteste Bild, das je von mir gemacht worden war. Es handelte sich um ein Schulfoto, das zu kaufen ich meiner Mutter eigentlich ausreden wollte, weil auf dem Proof einer meiner Zähne total krumm ausgesehen hatte. (Ich war immer davon ausgegangen, dass ich das eines Tages würde richten lassen können. Pech gehabt.) Sie hatte es trotzdem gekauft, weil… nun ja, wegen dem, was mit mir passiert war.
Und nun stand da ein Abzug von dem Foto in Christophers Zimmer, und zwar an so prominenter Stelle, dass man in dem Zimmer eigentlich nirgendwo hingehen konnte, ohne dass man den Eindruck hatte, es würde einen ansehen.
»Hey, Felix.« Christopher schenkte mir keinerlei Beachtung mehr und sprach in seinen Computer.
Eine piepsige Jungenstimme kam aus den Lautsprechern, und ich sah, wie Christophers vierzehnjähriger Cousin, Felix, auf dem Monitor erschien. Er stand schon seit einiger Zeit irgendwo in Brooklyn unter Hausarrest wegen irgendeines Hackingvergehens.
»Du bist doch eben erst raus hier?«, wunderte Felix sich. »Was ist passiert, hast du was vergessen?«
»Meine Freundin Nikki ist hier bei mir«, erklärte Christopher. »Ihre Mutter ist verschwunden. Kannst du vielleicht einen Suchlauf starten und schauen, ob du über ihre Sozialversicherungsdaten was rausfindest?«
»Ein Mädchen?« Felix’ Stimme stieg um eine ganze Oktave. »Du hast ein Mädchen bei dir im Zimmer?«
»Klar hab ich ein Mädchen bei mir im Zimmer«, bestätigte Christopher völlig ruhig. Er wurde nicht einmal rot, nichts, ganz anders als früher, in den guten alten Zeiten. Und das war für mich nur noch umso mehr Beweis dafür, dass zwischen ihm und McKayla was lief.
Aber andererseits … was war dann mit dem Foto von mir?
Um die Wahrheit zu sagen, ich konnte gar nicht glauben, wie er… na ja, auf einmal alles in die Hand nahm. Das war einfach nicht Christopher. Christopher aß gern Doritos und sah sich den Discovery Channel an, aber er kommandierte doch keine Leute rum und skypte seinem Cousin, um ihn zu bitten, die Sozialversicherungsnummer einer verschwundenen Person zu überprüfen.
Dieser Wandel bei ihm machte mich irgendwie total verrückt. Und zwar im absolut positiven Sinne. Mal abgesehen von dem Foto meines früheren Ichs und von der Sache mit McKayla.
»Kannst du etwas für sie tun?«, erkundigte Christopher sich gerade bei seinem Cousin.
»Selbstverständlich kann ich ihr helfen«, erklärte Felix. Er klang noch wie ein Kind. Was ja nicht gerade ungewöhnlich war, denn auf dem Monitor konnte ich erkennen, dass er genau das war - mit seinem dünnen Hals, seinem fedrigen schwarzen Haar, seinen Pickeln und allem. »Ich will sie sehen.«
»Du brauchst sie doch nicht zu sehen«, meinte Christopher.
»Ich will sie aber sehen«, insistierte Felix. »Ich bin derjenige, der den lieben langen Tag ganz allein hier drinnen versauern muss. Wenn du wirklich ein Mädchen bei dir im Zimmer hast, dann will ich sie sehen.«
»Du kannst sie nicht…«, setzte Christopher an.
Aber ich machte schnell einen Schritt in Richtung Monitor, sodass ich nun über die Kamera zu sehen war. »Hi, Felix«, sagte ich, damit er endlich Ruhe gab.
Felix stieß einen Fluch aus und verschwand urplötzlich von der Bildfläche. »Chris«, kam seine flüsternde Stimme von irgendwo außerhalb des Sichtfeldes der Kamera. »Das ist ja Nikki Howard. Du hast mir nicht erzählt, dass es sich bei dem Mädchen in deinem Zimmer um Nikki Howard handelt, verdammt.«
»Na ja«, meinte Christopher, wobei er leicht amüsiert klang. »Bei dem Mädchen in meinem Zimmer handelt es sich aber nun mal um Nikki Howard.«
»Und wie zum Teufel«, kam Felix’ Frage nun von wo auch immer er sich versteckt hielt, »hast du es geschafft, Nikki Howard in dein Zimmer zu locken?«
Christopher warf mir einen kurzen Blick zu. Er zeigte den Ansatz eines Lächelns. »Sie ist mir einfach so hierher gefolgt«, witzelte er. Ich konnte nicht anders, ich musste einfach zurücklächeln. Wenn er mit all dem bezweckte, mich vom Weinen abzuhalten, dann gelang ihm das recht gut. Wow. Ich hätte es bei Christopher schon vor Jahren mit ein paar Tränen versuchen sollen. Dann hätte ich ihn vielleicht dazu gebracht, umzuschalten, immer wenn er sich unbedingt eine von diesen langweiligen Top-Gear-Folgen ansehen musste. »Denkst du, dass du ihr helfen kannst, Felix, oder eher nicht?«
»Logisch kann ich ihr helfen.« Felix’ Gesicht tauchte wieder auf dem Computermonitor auf. Er hatte sich sein strubbeliges schwarzes Haar gekämmt und sich ein anderes Hemd übergezogen. »Hi, Nikki«, sagte er nun mit viel tieferer Stimme. »Wie geht’s dir?«
»Äh, tja«, erwiderte ich kichernd, trotz des Unbehagens, das die Situation mir bereitete. »Mir geht’s gut.«
»Bestens. Das ist toll«, meinte Felix. »Also, du brauchst mir nur die Sozialversicherungsnummer deiner Mom zu verraten, dann können wir loslegen.«
Ich warf Christopher einen schnellen Blick zu. »Die Polizei hat das alles auch schon probiert, glaube ich …«
»Die Polizei!«, platzte es verächtlich aus Felix raus. »Glaubst du, die haben dieselben Mittel und Möglichkeiten wie ich? Obwohl die mir natürlich meine W-Lan-Verbindung gekappt haben und ich jetzt heimlich bei meinen Nachbarn mitsurfen muss. Glaub mir, solange sie nicht tot ist oder aus der Gesellschaft ausgestiegen ist, finde ich sie. Spuck einfach nur die Nummer aus, Baby.« Christopher warnte ihn mit erhobenem Zeigefinger und Felix entschuldigte sich brav. »Sorry, ich meine natürlich Miss Howard.«
»Ich hab die Nummer leider gar nicht bei mir«, erklärte ich. Als ich Felix’ enttäuschten Blick auffing, schob ich schnell hinterher: »Aber ich glaube, ich kann sie dir besorgen …«
»Großartig!« Felix’ Gesicht hellte sich sofort wieder auf. »Schick sie mir per SMS, sobald du sie hast! Oder vielleicht könntest du ja sogar bei mir vorbeikommen. Meine Mom macht ein wirklich tolles Chilli …«
Christopher streckte die Hand aus und schaltete den Monitor ab. Felix löste sich sofort in Luft auf.
»Er ist ein kleiner Spinner«, sagte Christopher entschuldigend. »Aber er hat wirklich Ahnung von dem, was er tut, ob du’s glaubst oder nicht. Deshalb hat der Richter ihn auch zu sechs Monaten verdonnert, statt ihn mit einem blauen Auge davonkommen zu lassen. Mein Dad schickt mich jeden Sonntag rüber zu ihm, in der Hoffnung, dass ich einen guten Einfluss auf Felix ausübe, aber ich befürchte, es ist genau umgekehrt. Egal, du kannst die Nummer einfach mir geben, sobald du sie hast. Und ich sorg dann dafür, dass er sie bekommt.«
»Äh, danke«, stammelte ich und sah kurz hoch zu dem Foto von mir, auf dem mein altes Ich mit seinem krummen Zahn grinste. Schnell wandte ich den Blick wieder ab. »Das ist echt lieb von dir.«
Christopher antwortete mit einem Schulterzucken. »Im Gegenzug könntest du auch etwas für mich tun. Ich meine natürlich, nur wenn du das möchtest.«
Konnte ich denn irgendetwas für ihn tun? Mir schossen da gleich eine ganze Menge Ideen durch den Kopf. Der Trick mit der Zunge vielleicht, obwohl ich immer noch nicht genau wusste, wie der ging. Trotzdem kam mir der als Erstes in den Sinn, was mich ziemlich irritierte. Ich musste mich auf Christophers säuberlich gemachtes Bett sinken lassen (der Commander war der Ansicht, dass ein ordentliches Bett Zeichen war für einen geordneten Geist), weil meine Knie unter mir nachgaben.
»Oh, echt?« Das war alles, was ich mit belegter Stimme rausbrachte, als ich meine Fassung wiedererlangt hatte.
»Klar«, erwiderte Christopher. »Also. Wie loyal bist du eigentlich deinem Boss gegenüber?«
Diese Frage traf mich so dermaßen unvorbereitet, dass ich völlig unüberlegt mit einem »Wem?« herausplatzte.
»Dein Chef«, erklärte Christopher noch einmal. »Robert Stark. Wie viel bedeutet er dir?«
Völlig perplex stammelte ich: »W-warum?«
»Du arbeitest für ein Unternehmen, das im vergangenen Jahr Berichten zufolge dreihundert Milliarden Dollar Umsatz verzeichnen konnte, wovon der Großteil in die Taschen von deinem Boss geflossen ist. Ich frag mich nur«, sagte Christopher mit ruhiger Stimme, »wie du zu ihm stehst.«
Ich war so gefesselt von Christophers Augen, dass ich mich, ehe ich es verhindern konnte, rausposaunen hörte: »Er verlangt von mir, dass ich in einem zehn Millionen Dollar teuren BH aus lauter Diamanten halb nackt im Fernsehen auftrete. Was glaubst du wohl, was ich von so einem halte?«
Christopher lächelte. Und da geschah tief in meinem Inneren etwas sehr Seltsames: Meine Eingeweide schienen sich nämlich zu verflüssigen.
»Ich hatte gehofft, dass du genau das sagen würdest.«
Und dann verriet er mir, was er vorhatte. Und wie ich ihm dabei helfen konnte.
Und meine Welt, die sowieso schon völlig durcheinander war, stellte sich ein weiteres Mal auf den Kopf.
»Felix und ich suchen schon seit einer Ewigkeit nach einem Schlupfloch, durch das wir Zugang zum Großrechner von Stark finden«, erklärte er. »Aber wir haben es bisher nicht geschafft. Ihre Firewall ist einfach bombensicher. Statt es also weiter durch die Hintertür zu versuchen, wollen wir nun sozusagen durch den Haupteingang rein.«
Christopher lächelte nun nicht mehr und betrachtete mich ernst. »Denkst du, du könntest uns Usernamen und Passwort von jemandem besorgen, der bei Stark Enterprises beschäftigt ist? Am besten von jemandem in gehobener Position, aber jeder andere würde es auch tun …«
Ich starrte ihn entgeistert an.
Das ist es also, was er von mir will?, war alles, was mir dazu einfiel. Einen lausigen Usernamen und ein Passwort?
Das passte ja prima zusammen. Warum war ich eigentlich so überrascht? Ich meine, der Typ hatte das Foto von einem toten Mädchen bei sich im Regal stehen. Und noch dazu nicht nur ein ganz kleines Porträt, sondern ein acht mal zehn Hochglanzbild mit Augen, die einen überallhin verfolgten.
Toll. Jetzt war ich also schon eifersüchtig auf mich selbst.
Ich stand auf. Dann schlenderte ich zu seinem Fenster rüber. Zu seiner Überraschung riss ich das Fenster auf, um einen Schwall kalter Luft und das konstante Trommeln des Schneeregens und den lauten Verkehrslärm von der Bleecker Street unten reinzulassen. Diese kleine Geräuschkulisse, so hoffte ich, würde es unmöglich machen, unser Gespräch zu belauschen oder auch nur ein Wort zu verstehen von dem, was wir sagten.
»Was machst du da?«, fragte er neugierig. Er musste ein wenig lauter sprechen, damit ich ihn über den Verkehrslärm hinweg verstehen konnte.
Ich zeigte mit der Hand über meinen Kopf. »Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass sie uns abhören könnten?«, fragte ich ihn.
Christophers Gesicht nahm einen verblüfften Ausdruck an. »Wer soll uns denn bitte abhören?«
»Na, die von Stark«, flüsterte ich. Mein Herz tat einen kleinen Sprung, als ich das sagte. Nicht so sehr aus dem Grund, weil Stark uns belauschen könnte, sondern weil Christopher mich ansah … mich so richtig ansah, so als würde er mich zum ersten Mal wirklich wahrnehmen.
Nur dass er das natürlich nicht tat.
Christopher lachte. »Stark? Hier drinnen? Das meinst du ernst?«
Mir war die Sache sogar todernst. Aber das konnte ich ihm ja schlecht sagen. Ganz besonders jetzt nicht.
»Christopher, du solltest diese Leute nicht unterschätzen«, erklärte ich ihm stattdessen. »Die … die wissen so einiges.«
Er lachte noch einmal auf. »Du bist ja total paranoid.«
»Vielleicht«, sagte ich und begab mich wieder zu meinem Sitzplatz auf seinem Bett. »Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn du dir davon eine Scheibe abschneidest. Was du da redest … das ist völlig irre. Ich meine, was habt ihr Jungs denn vor, wenn ihr erst mal in deren System eingedrungen seid?«
Er sah mich überrascht an.
»Na, wir wollen es auseinandernehmen«, sagte er in einem Ton, der nichts anderes ausdrückte als: Was denn sonst?
Klar, es auseinandernehmen. Als wäre das die logischste Sache der Welt. Und als wäre das Ganze so einfach. Er tat ja so, als wäre er Robin Hood und Stark Enterprises so was wie eine Kutsche voller Gold, die er auszurauben gedachte.
»Ist das nicht ein kleines bisschen … kindisch?« Ich schob mir eine Haarsträhne hinters Ohr, während ich überlegte, wie ich ihm das, was ich ihm als Nächstes sagen wollte, am besten beibrachte, ohne ihn zu verletzen. »Ich meine, klar, okay, ihr legt ihre Systeme also für ein paar Stunden lahm. Ihr verärgert ein paar Besitzer von Stark-Mobiltelefonen oder wen auch immer. Vielleicht bringt ihr es sogar zu ein paar Schlagzeilen auf Google News. Aber was bezweckt ihr damit? Tut ihr das nur, um zu beweisen, dass ihr das könnt? Dass eure Computer stärker sind als die ihren? Na toll.«
»Nein, nein«, unterbrach Christopher mich kopfschüttelnd. »Du verstehst nicht. Ich meine, wir wollen es auseinandernehmen. Wir wollen Stark Enterprises auseinandernehmen. Und zwar für immer.«