FÜNF
Das entpuppte sich schließlich als ein Foto von Nikki Howard. Was an und für sich nicht außergewöhnlich gewesen wäre. Es gab Hunderte - nein, Tausende - Fotos von Nikki Howard, und zwar überall.
Dieses Foto allerdings zeigte Nikki Howard während der extrem peinlichen Phase, die wir alle mit dreizehn oder vierzehn durchmachen. Britney Spears nannte diesen Lebensabschnitt in einem ihrer Songs passenderweise »not a girl, not yet a woman« - kein Mädchen mehr und auch noch keine Frau.
Ich hätte nie gedacht, dass eine Nikki Howard ebenfalls durch diese Phase musste … oder auch nur annähernd irgendetwas erlebt hatte, das man als peinlich oder unangenehm bezeichnen hätte können … Und erst recht nicht hätte ich erwartet, dass sie irgendjemanden ein Foto hätte schießen lassen, während sie gerade mittendrin war in dieser Phase. Soweit ich das beurteilen konnte, war Nikki immer knallhart gewesen, wenn es darum ging, Fotos, auf denen sie auch nur im Entferntesten schlecht aussah, vernichten zu lassen.
Doch bei diesen Aufnahmen hatte sie offensichtlich ein Auge zugedrückt.
»Oooooh«, gurrte Lulu entzückt, als sie sich vorbeugte, um das Foto genauer in Augenschein zu nehmen. »Sieh dich an, Nik! Du hattest ja eine Zahnspange! Und hast du damals etwa dieses Sun-In-Blondierspray benutzt? Mein Gott, es wundert mich voll, dass du überhaupt noch ein Haar auf dem Kopf hast.«
»Schau dir mal das nächste Foto an«, wies Steven mich an.
Folgsam blätterte ich zum nächsten Bild weiter.
Darauf war Nikki mit derselben Frisur und derselben Zahnspange neben einer etwas jüngeren Version von Steven zu sehen. Sie spülte gerade in einer Art Hundesalon einen Pudel mit dem Schlauch ab, der Cosabella nicht unähnlich sah, nur dass sein Fell dunkel war. Die Geschwister - und tatsächlich sahen sie sich auf dem Foto noch viel ähnlicher und waren ganz unverkennbar verwandt - grinsten in die Kamera, wobei Nikkis Grinsen ein wenig krampfhaft wirkte. Ich erkannte darin ihr Los-jetzt-mach-schon-dieses-blöde-Foto-mir-reichtes-langsam-Lächeln. (Ich hatte bereits endlos viele Polaroids während unzähliger Fotoshootings zu sehen bekommen mit genau demselben Grinsen im Gesicht.)
»Dieses Foto«, erklärte Steven, »wurde ungefähr ein Jahr aufgenommen, bevor du für dich entschieden hast, dass es dir peinlich ist, mit mir gemeinsam gesehen zu werden. Oder mit Mom. In der Zeit, bevor das Auto von dieser Lady von der Talentagentur draußen vor unserer Stadt liegen blieb und sie dich beim Stop-n-Shop-Laden sah und fragte, ob du schon jemals darüber nachgedacht hättest, zu modeln. Ehe wir es uns versahen, hatte sie dich auch schon einen Vertrag unterschreiben lassen, in dem stand, dass du das neue Gesicht von Stark werden würdest. Das nächste Mal, dass ich dich zu Gesicht bekam, war auf dem Cover irgendeiner Zeitschrift.«
Ich nickte eifrig. Das nahm ich ihm jetzt ausnahmsweise sogar ab. Das klang einfach zu sehr nach Nikki, wie ich sie kannte - Nikki, die nur Fotos (und Zeitungsausschnitte) von sich selbst und niemandem sonst herumliegen ließ. Es musste also stimmen.
»Okay«, sagte ich leise und reichte Steven seine Brieftasche zurück. »Tut mir leid. Selbstverständlich bist du mein Bruder. I-ich wollte damit auch nicht sagen, dass ich dir nicht glaube.« Obwohl ich ihm seine Story natürlich wirklich nicht abgenommen hatte. »Es ist bloß… ich meine, ich musste doch auf Nummer sicher gehen. In letzter Zeit sind so abartig viele merkwürdige Typen hier aufgetaucht, die mir allen möglichen Schwachsinn erzählt haben. Also … was hast du bisher herausgefunden? Über, äh, Mom, meine ich?«
»Ich weiß nur, dass seit kurz nach deinem Unfall keiner mehr etwas von ihr gesehen oder gehört hat.« Er betonte das Wort Unfall so, als würde es zwischen Anführungsstrichen stehen… Beziehungsweise so, als würde er nicht ernsthaft glauben, dass es jemals einen solchen Unfall gegeben hatte. »Seitdem hat sie auch keine ihrer Kreditkarten benutzt. Oder irgendeine von ihren Rechnungen bezahlt.«
Lulu holte hörbar Luft. »Ach du meine Güte!«, entfuhr es ihr. »Ich hab kürzlich eine Folge von Law and Order gesehen, da war es ganz ähnlich! Hat schon jemand die Polizei alarmiert?«
Ich warf ihr einen warnenden Blick zu. Ich meine, immerhin redeten wir hier über die Mutter von dem Kerl, nicht über irgendeine Fernsehshow. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass er sich aufregte. Beziehungsweise dass er sich noch mehr aufregte, als das eh schon der Fall war.
»Na ja«, meinte Lulu, die meinen Blick bemerkte, aber offensichtlich keine Ahnung hatte, weshalb das, was sie da sagte, irgendjemanden aufregen sollte. »Und was, wenn es sich um ein Verbrechen handelt? In dieser Folge von Law and Order, die ich gesehen habe, ging es um eine verschwundene Frau, und es war so, dass alle dachten, sie wäre mit ihrem Freund durchgebrannt. Dabei befand sie sich die ganze Zeit im Inneren des Sofas, weil ihr Freund ihr eins über die Rübe gezogen hatte und ihre Leiche dort versteckt hatte! Vielleicht ist deine Mom ja im Inneren der Couch. Hat da schon irgendjemand nachgesehen?«
»Lulu«, mahnte ich sie in ernstem Ton.
»Ich hab sofort die örtliche Polizei verständigt, als ich nach Hause kam und feststellte, dass sie weg war«, erklärte Steven. Mir wurde klar, dass Lulus Worte ihn deshalb nicht beunruhigt hatten, weil er sie wieder einmal geflissentlich übersah. »Ich hab versucht, dich anzurufen, weil ich wissen wollte, ob du vielleicht von ihr gehört hast, aber du hast nicht ein einziges Mal zurückgerufen. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als persönlich vorbeizukommen, um herauszufinden, ob sie sich bei dir gemeldet hat.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Was sollte ich sagen? Sein Anruf war nur einer unter Tausenden, die auf Nikkis Handy eingegangen waren und die ich allesamt ignoriert hatte. Zum Glück sprach Steven gleich weiter, ohne einen Kommentar von mir abzuwarten.
»Die Cops meinten nur, dass sie in dem Fall nichts tun könnten. Wenn eine Frau ihre Kreditkarten nicht benutzt, nicht mehr an ihr Handy geht und ihr Apartment und ihr Geschäft scheinbar überstürzt verlässt, so ist das kein Verbrechen. Vielmehr könne man davon ausgehen, dass sie in Urlaub gefahren ist, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Und die Hunde hat sie eben mitgenommen.«
»Na ja«, sagte ich hoffnungsfroh. »Vielleicht hat sie ja genau das getan.«
»Du glaubst, Mom ist einfach so in Urlaub gefahren«, meinte Steven, »ohne auch nur einem Einzigen von ihren Kunden mitzuteilen, dass sie wegfahren will? Sie hat keinen ihrer Termine abgesagt. Sie hat weder für ihr Apartment noch für den Salon die Miete bezahlt. Du denkst ernsthaft, dass eine gewissenhafte Geschäftsfrau wie Mom so etwas getan hätte - fröhlich in den Urlaub fahren, ohne zuerst eine Vertretung zu organisieren, die ihre Termine übernimmt?«
»Okay«, meinte Lulu mit großen Augen. »Du glaubst also allen Ernstes, dass deine Mom spurlos verschwunden ist?«
»Zumindest weiß niemand, mit dem ich gesprochen habe, wo sie ist«, bestätigte Steven. »Nikki war meine letzte Hoffnung. Aber das war wohl reine Zeitverschwendung.«
»Vielleicht kann ich mich ja bei meinem Handyprovider nach einer Auflistung von all meinen eingegangenen Anrufen erkundigen«, schlug ich vor. Ich wollte unbedingt irgendetwas tun - ganz gleich was -, um ihm zu helfen. Er sah echt so was von geschafft und deprimiert aus. »Und dann sehen wir, ob da auch welche von deiner - ich meine, unsrer -Mom waren. Und dann können wir den Telefonanbieter vielleicht bitten, zu prüfen, von wo aus sie diese Anrufe getätigt hat.«
»Die können die Position einer Person eingrenzen mithilfe der Funktürme«, erklärte Lulu aufgeregt. Als wir beide sie verblüfft anstarrten, meinte sie kleinlaut: »Das hab ich auch bei einer Folge von Law and Order gesehen.« Dann fügte sie noch hinzu: »Ach ja, du könntest auch einen Privatdetektiv engagieren, Nikki! Mein Dad hat früher immer welche beschäftigt, um meiner Mom hinterherzuspionieren, wenn er wieder einmal den Verdacht hegte, sie würde ihn betrügen.« Sie schenkte Steven ein bezauberndes Lächeln. »Ich stamme aus einer ziemlich zerrütteten Familie.«
Das wusste er bestimmt längst, sofern er jemals eine Folge von Entertainment Tonight gesehen hatte. Doch Steven schenkte ihr nach wie vor keinerlei Beachtung.
»Ich möchte nicht, dass Nikki irgendetwas unternimmt, wobei sie sich nicht wohlfühlt«, erklärte er steif.
»Kein Problem«, sagte ich schnell. »Ich werde einen Privatdetektiv engagieren, damit der sich auf die Suche macht nach … Mom. Vielleicht kannst du mir ja ein paar zuverlässige Detektive empfehlen, Lulu. Anscheinend hast du ja schon einige Erfahrung mit ihnen.«
»Oh ja, klar«, sagte Lulu mit funkelnden Augen. Im Ernst, ihre Augen funkelten wirklich, als sie das sagte, wie bei dieser grässlichen Fee Tinker Bell aus dem Disneyfilm. »Aber Detektive sind nicht gerade billig, musst du wissen.«
»Das sollte ja wohl kein Problem sein«, warf Steven ein und grinste in meine Richtung. »Nikki kann es sich leisten.«
Ich lächelte brav zurück, konnte aber nichts anderes denken als: Ich bin ja so was von tot. Und dieses Mal meinte ich das ausnahmsweise nicht im wörtlichen Sinne. Mal ehrlich, ich konnte doch keinen Privatdetektiv anheuern. Der würde dann doch gleichzeitig alles aufdecken, was mit meiner Gehirntransplantation zusammenhing, und damit würde er diese Stark-Geschichte mit einem Knall auffliegen lassen. So schnell könnte ich gar nicht schauen, da wäre das Ganze schon auf CNN zu sehen und ich befände mich auf der Flucht vor den bewaffneten Scharfschützen von Brandons Dad.
Und Robert Stark hat wirklich Scharfschützen, da bin ich mir sicher.
Okay, nun beruhige dich, lächle den netten Seemann an und sag artig: »Okay, ich fang gleich morgen früh damit an und telefoniere mit ein paar Privatdetektiven.« Aha. So sollte mein Leben also von nun an aussehen? Na ja, warum auch nicht? Ich hab ja bereits eine Gehirntransplantation hinter mir und muss jeden Tag Mascara auftragen. Warum also nicht auch das?
»Und in der Zwischenzeit« - Lulu strahlte Steven noch ein bisschen mehr an - »musst du hier bei uns bleiben. Wir haben nämlich bald eine Weihnachtsparty, und wir bestehen darauf, dass du unser Ehrengast bist.«
Wieder warf ich Lulu einen warnenden Blick zu, denn es schien mir nicht gerade die beste Idee, wenn Nikkis Bruder bei uns blieb. Zum einen hatten wir nur zwei Schlafzimmer, wo sollte er also schlafen … auf der Couch vielleicht? Zum anderen, wie lange würde es wohl dauern, bis er herausfand, dass ich gar keine Privatdetektive angerufen hatte, wie ich es versprochen hatte? Ach ja, und dass ich gar nicht seine Schwester war, sondern ein wildfremdes Mädchen, das neuerdings im Körper seiner Schwester lebte? Außerdem war da noch das klitzekleine Problem, dass er unser Ehrengast sein sollte bei einer Party, bei der ich noch nicht einmal anwesend sein würde. Ich hatte nur noch nicht den nötigen Mumm gehabt, das der Gastgeberin mitzuteilen …
Und was war damit, dass unser Loft möglicherweise - okay, sogar äußerst wahrscheinlich - von Unbekannten verwanzt worden war. (Obwohl ich mir natürlich ziemlich sicher war, wer dafür verantwortlich war.)
»Äh«, stammelte Steven verlegen. Wer konnte ihm schon böse sein? Ich war buchstäblich eine Fremde für ihn (und zwar in noch ganz anderer Hinsicht, als er das ahnte). »Besten Dank für die Einladung, aber ich hab mir schon ein Hotelzimmer in der Innenstadt genommen …«
Lulu sah entsetzt aus.
»Ein Hotelzimmer!«, rief sie ungläubig. »Nein! Du gehörst doch zur Familie! Bleib bei uns. So könnt Nikki und du euch wieder näherkommen. Stimmt’s, Nikki?«
»Klar«, pflichtete ich ihr bei, in der Hoffnung, Steven würde mein Zögern nicht bemerken. »Obwohl wir natürlich nur zwei Schlafzimmer haben …«
»Er kann bei mir im Zimmer schlafen«, erklärte Lulu bereitwillig. Da ihr das ein wenig peinlich zu sein schien - das erste Mal, dass Lulu irgendwas peinlich war -, fügte sie noch erklärend hinzu: »Ich meine natürlich, Nikki hat doch dieses riesige King-Size-Bett. Ich schlafe bei ihr, und Steven, du kannst mein Zimmer haben.«
»Nein«, sagte Steven nicht unhöflich. Es lag sogar Wärme in seiner Stimme - echte, menschliche Wärme. Das erste Anzeichen von Wärme, das ich bei ihm überhaupt feststellte, seit ich ihm unten in der Lobby begegnet war. Ich fühlte mich plötzlich schlecht, dass ich keinerlei Absicht hegte, ihm bei seiner Suche nach seiner Mutter zu helfen. Moment. Ich hatte schon die Absicht, ihm bei der Suche nach seiner Mutter zu helfen. Ich hatte bloß nicht vor, zu diesem Zweck einen Privatdetektiv zu engagieren.
Die Frage ist nur, wie man auf eigene Faust eine vermisste Frau wiederfindet?
»Danke, das ist wirklich nett von dir«, sagte Steven. »Aber ich möchte dir keine unnötigen Umstände bereiten …«
»Bleib«, hörte ich mich plötzlich selbst sagen.
Ich hab keine Ahnung, was da über mich gekommen ist. Ich meine, ich brauchte Nikki Howards Bruder in meinem Loft fast genauso dringend, wie ich (noch) ein Loch im Kopf brauchte.
Allerdings sagte mir irgendetwas, dass Steven Howard seine Mutter liebte. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie diejenige gewesen war, die das Foto gemacht hatte, auf dem er und Nikki gemeinsam den Hund wuschen und das er in seiner Brieftasche trug. Der Ausdruck, der in seinen Augen lag, während er die Person ansah, die die Kamera in der Hand gehalten hatte, strahlte die reinste Zuneigung aus - wenn er auch zugleich ein klein wenig genervt wirkte.
Ich wusste jedenfalls, was ich zu tun hatte. Es war das Einzige, das ich für ihn tun konnte, um sie zu finden. Es war auch das Geringste, das ich tun konnte, um wiedergutzumachen, dass Nikki eine so schreckliche Schwester und Tochter gewesen war. So schrecklich, dass sie noch nicht einmal ein Foto von ihrem Bruder oder ihrer Mutter in ihrem Zimmer oder ihrem Portemonnaie hatte.
»Ernsthaft«, sagte ich, als er mich völlig verblüfft ansah. »Du musst bleiben. Ich bestehe darauf.«
»Du bestehst darauf?« Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich das Wort »bestehen« benutzt hatte, das vielleicht normalerweise nicht zu Nikkis Wortschatz zählte, oder weil er der Ältere und daher nicht gewohnt war, von Nikki herumkommandiert zu werden.
Was auch immer der Grund war, mein Beharren wirkte jedenfalls. Er zuckte mit der Schulter und sagte: »Na gut, wenn du unbedingt darauf bestehst. Ich fahr dann nur kurz zurück ins Hotel und hol meine Sachen.«
Daraufhin ließ er sich ohne ein weiteres Wort vom Hocker gleiten und machte sich auf den Weg zum Aufzug.
Niemand schien vom Fitnessstudio oder von seinem Besuch bei Starbucks nach Hause zurückgekommen zu sein, seit ich mit Nikkis Bruder vorhin den Aufzug verlassen hatte, denn die Tür zum Lift öffnete sich sofort. Er trat ein und blickte Lulu und mich eine Sekunde lang an, bevor die Tür sich wieder schloss.
»Bis gleich«, meinte er noch. Und dann war die Tür auch schon zu und er war fort.