V I E R U N D Z W A N Z I G
Blut spritzt mir ins Gesicht, die Wärme klebt an meiner Haut, und ich frage mich, ob ich tot bin.
Langsam öffne ich meine Augen und dann sehe ich, was passiert ist. Ich bin nicht tot, auf mich wurde nicht einmal geschossen. Der Sklaventreiber wurde von hinten erschossen, in den Hinterkopf, und sein ganzes Gehirn hat sich auf mir verteilt. Jemand hat ihn erschossen. Jemand hat mich gerettet.
Logen taucht hinter ihm auf, seine Pistole ausgestreckt, sie raucht noch. Ich kann es nicht glauben. Er ist meinetwegen zurückgekommen.
Logan gibt mir seine Hand. Ich nehme sie. Sie ist riesig und rau. In einer schnellen Bewegung zieht er mich auf meine Füße.
„STEIG EIN“, schreit er.
Ich renne auf die Beifahrerseite und springe hinein. Logan springt in den Fahrersitz, knallt die Tür zu, und bevor ich noch ganz drin bin, beschleunigt er schon den Humvee. Er rutscht und schlittert im Schnee, als wir losfahren.
Die anderen Sklaventreiber beeilen sich, springen von ihren Motorhauben und setzen uns nach. Einer von ihnen kommt auf einen Meter heran. Logan zielt aus dem Fenster und schießt ihm in den Kopf, tötet ihn, bevor er feuern kann. Ein weiterer kommt heran, hat schon seine Pistole ausgestreckt und zielt auf uns. Ich feuere. Es ist ein direkter Treffer in den Kopf, und er geht nieder.
Ich ziele auf einen weiteren, aber plötzlich wirft mich das Drehmoment des Fahrzeugs nach hinten. Logan gibt jetzt richtig Gas, und wir rasen über den verschneiten Platz. Wir biegen um die Ecke und die drei großen Busse sind schon wieder in Sichtweite. Sie sind nur wenige hundert Meter vor uns.
Hinter uns allerdings ist uns ein halbes Dutzend Humvees auf unseren Fersen. Sie werden uns bald einholen. Wir sind in der Unterzahl.
Logan schüttelt den Kopf. „Du konntest nicht einfach mit mir kommen, nicht wahr?“, fragt er erschöpft, schaltet in den fünften Gang und beschleunigt wieder. „Du bist noch sturer als ich.“
Wir gewinnen weiter an Geschwindigkeit, während wir den Bussen durch die Stadt auf der 34th Street in Richtung Osten folgen. Wir überqueren die Seventh Avenue … dann die Sixth … Dann biegen die Busse scharf rechts in die Fifth ab und wir folgen ihnen, nur noch wenige hundert Meter hinter ihn.
Im Rückspiegel sehe ich die Humvees direkt hinter uns. Einer von den Sklaventreibern streckt seine Hand aus dem Fenster und zielt mit seiner Pistole. Die Kugeln prallen an unserem Fahrzeug ab, das Metall hallt wider. Ich bin dankbar, dass es kugelsicher ist.
Logan tritt weiter aufs Gas, und die Straßen fliegen vorbei: 32nd Street … 31st … 30th … Ich schaue auf und bin erschrocken, als ich eine riesige Wand direkt vor uns sehe, die die Fifth Avenue absperrt. Die enge, gewölbte Öffnung in der Mitte ist der einzige Weg hinein oder hinaus.
Mehrere Wachen öffnen das riesige Metallgitter und erlauben den drei Bussen zu passieren, einer nach dem anderen.
„Wir müssen anhalten!“, schreit Logan. „Hinter diesen Toren ist das Ödland! Es ist zu gefährlich!“
„NEIN!“, brülle ich zurück. „Du kannst nicht anhalten! Los! FAHR!“
Logan schüttelt den Kopf, er schwitzt. Aber er fährt weiter.
Das Tor schließt sich. Logan wird jedoch nicht langsamer.
„Halt Dich fest!“, brüllt er.
Unser Humvee kracht in das Eisentor, der Aufprall ist enorm. Ich reiße mich zusammen, aber ich glaube nicht, dass wir das schaffen können.
Aber glücklicherweise ist dieser Humvee wirklich wie ein Panzer gebaut. Ich kann es nicht glauben, aber das Eistentor löst sich aus seinen Scharnieren und fliegt in die Luft. Unser Windschutzscheibe ist gerissen und unsere Motorhaube übel geschädigt, aber wir sind unverletzt. Wir holen die Busse weiter ein, die jetzt nur noch fünfzig Meter entfernt sind.
Ich schaue in den Rückspiegel und erwarte, die anderen Humvees hinter uns zu sehen – stattdessen bremsen sie alle vor dem offenen Tor. Keiner von ihnen wagt es, uns zu folgen. Ich verstehe das nicht – als hätten sie Angst, auf diese Seite der Mauer zu fahren.
„Was machen sie?“, frage ich. „Sie halten an! Sie verfolgen uns nicht mehr!“
Logan wirkt nicht überrascht – was ich auch nicht verstehe.
„Natürlich haben sie angehalten.“
„Warum?“
„Wir sind auf der anderen Seite der Mauer. Das ist das Ödland. So dumm sind sie nicht.“
Ich sehe ihn an, aber ich verstehe immer noch nicht.
„Sie haben Angst“, sagt er.
Ich verstehe nicht: Wie kann eine so große Gruppe von bewaffneten Kriegern in Humvees mit Maschinengewehren Angst haben?
Ich sehe mich um, nehme unsere Umgebung in mich auf und bin plötzlich noch misstrauischer als je zuvor. Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter. Was kann so gefährlich an diesem Ort sein, dass ein Bataillon Soldaten in Humvees Angst hat?
Als ich mich vorbeuge und genauer hinsehe, entdecke ich plötzlich Bewegung. Als ich wieder hochschaue, sehe ich die entsetzlich vernarbten Gesichter von Bioopfern, die aus all den verlassenen Gebäuden heraussehen. Es sind hunderte von ihnen.
Plötzlich heben sich alle Kanaldeckel um uns herum. Dutzende weitere Bioopfer erheben sich aus dem Boden. Wir passieren einen verlassenen U-Bahnhof, und noch mehr von ihnen rennen die Treppen hoch, auf uns zu.
Mein Herz beginnt beim Anblick dieser Leute zu pochen. Es sind hunderte von ihnen, die aus allen Richtungen kommen. Ich habe ihr Territorium betreten, eine Grenze zu einem Gebiet betreten, in dem ich nicht sein sollte. Ich muss so schnell wie möglich Bree wiederbekommen und uns aus dieser Hölle hier heraus.
Ein Psycho springt hoch und greift durch das offene Fenster, er versucht, mich zu fassen zu bekommen. Ich lehne mich zurück, dann ziele ich und treffe ihn mit dem Kolben meiner Waffe ins Gesicht. Er fällt, sein Körper gleitet langsam in den Schnee.
Die Busse vor uns fahren Schlangenlinien, und Logan folgt ihrem Weg. Von der Bewegung wird mir übel.
„Warum fährst Du solche Schlangenlinien“, frage ich.
„Vermint!“, brüllt Logan zurück. „Dieses ganze verdammte Ödland ist vermint!“
Wie, um diese Aussage zu untermauern, gibt es kleine Explosion in der Straße vor uns, und einer von den Bussen schafft es in letzter Sekunde, auszuweichen. Meine Zuversicht schwindet. Wie viel schlimmer kann dieser Ort noch werden?
„Hol ihren Bus ein!“, brülle ich über das Tosen des Motors.
Er gibt wieder Gas, und wir holen auf. Jetzt sind wir nur noch vielleicht 30 Meter entfernt, und ich versuche, einen Plan auszuarbeiten. Als wir näherkommen, erhebt sich plötzlich ein Psycho aus einem Kanaldeckel, schultert eine RPG und feuert.
Die Granate rast durch die Luft und trifft direkt den schwarzen Bus. Er explodiert direkt vor uns und zwingt uns, in letzter Sekunde auszuweichen.
Der Bus kippt um und landet auf seiner Seite, dann geht er in Flammen auf. Ich denke an all die Mädchen darin, und meine Zuversicht schwindet weiter. Jetzt sind nur noch zwei Busse übrig. Ich danke Gott, dass Bree in einem von den gelben Bussen war. Jetzt ist Zeit ein noch kostbareres Gut.
„BEEIL DICH!“, brülle ich. „FAHR AN IHREN BUS RAN“
Wir steuern direkt auf das Gebäude von Flatiron zu. Die Fifth Avenue gabelt sich, und einer von beiden Bussen biegt links ab, auf den Broadway, der andere rechts, um auf der Fifth zu bleiben. Ich habe keine Ahnung, in welchem Bree ist. Mein Herz pocht vor Panik. Ich muss mich entscheiden.
„Welcher?“, schreit Logan verzweifelt.
Ich zögere.
„WELCHER BUS?“, schreit er wieder.
Wir kommen an der Kreuzung an und ich muss mich entscheiden. Ich denke nach und versuche verzweifelt, mich zu erinnern, in welchen sie eingestiegen ist. Aber es ist sinnlos. Ich bin verwirrt, und die beiden Busse sehen identisch aus. Ich muss einfach raten.
„Rechts!“, brülle ich.
In letzter Sekunde schwenkt er nach rechts. Er rast hinter dem Bus her. Ich bete, dass ich die richtige Wahl getroffen habe.
Logan gibt Gas und schafft es, den Bus einzuholen. Wir sind nur noch wenige Meter hinter ihm, können seine Abgase riechen. Die hinteren Fenster sind schwarz vor Ruß und ich kann nicht etwas erkennen, aber ich kann Formen ausmachen, die Körper all dieser jungen, angeketteten Mädchen. Ich bete, dass Bree dabei ist.
„Was nun?“, schreit Logan.
Genau das frage ich mich auch.
„Ich kann sie nicht von der Straße abdrängen!“, fügt Logan hinzu. „Damit bringe ich sie vielleicht um!“
Ich denke schnell nach, versuche, einen Plan auszuarbeiten.
„Fahr näher heran“, sage ich. „Zieh neben den Bus!“
Er schafft es bis zu hinteren Seite des Busses, unsere Stoßstangen berühren sich beinahe. Ich hebe mich aus dem Sitz und krieche aus dem offenen Fenster, sitze auf der Türkante. Der Wind ist so stark, dass er mich fast herunterschlägst.
„Was machst Du da?“, schreit Logan verzweifelt. Aber ich ignoriere ihn. Ich habe keine Zeit, über Eventualitäten nachzudenken.
Schnee und Wind schlagen mir ins Gesicht, während Logan neben dem Bus hochzieht. Ich versuche, mich zu stabilisieren, warte auf den perfekten Moment. Die Rückseite des Busses ist jetzt nur noch einen halben Meter entfernt, und an seiner Stoßstange ist ein breiter, flacher Tritt. Ich mache mich bereit, mein Herz klopft.
Und dann springe ich.
Meine Schulter schlägt gegen den Büß, als ich auf dem Tritt lande. Ich greife nach den dicken Metallstangen. Das Metall gefriert an meinen bloßen Händen, aber ich halte mich fest. Der Boden fliegt nur so an mir vorbei. Ich kann es kaum glauben. Ich habe es geschafft.
Der Bus muss 80 im Schnee fahren, und er fährt irrsinnige Schlangenlinien. Ich wickle einen Arm gründlich um das Gitter, halte mich mit aller Kraft fest und schaffe es gerade so, nicht loszulassen.
Wir treffen ein Schlagloch, ich rutsche fast ab. Einer meiner Füße verliert den Halt und schleift durch den Schnee – der von meinem verletzten Bein. Ich schreie vor Schmerz. Mit höchster Anstrengung schaffe ich es, das Bein wieder hochzuziehen.
Ich versuche, die Hintertür zu öffnen, aber meine Zuversicht schwindet, als ich entdecke, dass einem Vorhängeschloss und einer Kette gesichert ist. Meine Hand zittert, aber ich schaffe es, die Pistole aus meinem Gürtel zu lösen. Ich lehne mich zurück und feuere.
Funken fliegen. Das Vorhängeschloss bricht und die Kette fällt rasselnd zu Boden.
Ich versuche wieder, die Tür zu öffnen, und dieses Mal funktioniert es, aber der Wind ist so stark, dass die Tür mich fast umhaut. Ich ziehe mich durch die Öffnung in den hinteren Teil des Busses.
Jetzt stehe ich drinnen, im Gang des Schulbusses. Ich eile den Gang schnell hinunter, sehe mich verzweifelt um. Da sind Dutzende von jungen Mädchen, die aneinander gekettet sind und an die Sitze. Alle sehen voller Panik zu mir hoch. Schnell suche ich jede Reihe ab, von links nach rechts, suche nach meiner Schwester.
„BREE!”, brülle ich verzweifelt.
Als die Mädchen mitbekommen, dass ich da bin und sie vielleicht retten sind, fangen sie hysterisch an zu weinen.
„HILF MIR“, schreit eine von ihnen.
„BITTE HOL MICH HIER RAUS!“, schreit eine andere.
Der Fahrer bekommt auch mit, dass ich da bin, ich sehe, dass er mich im Rückspiegel sieht. Plötzlich zieht er den Bus stark zur Seite. Davon fliege ich durch den Gang und schlage mir den Kopf an der Metallverkleidung der Decke auf.
Ich gewinne mein Gleichgewicht wieder, aber da zieht er in die andere Richtung, und ich fliege auf die andere Seite des Busses.
Mein Herz klopft, aber wieder kann ich mein Gleichgewicht gewinnen. Dieses Mal halte ich mich an den Sitzen fest, als ich mich vorsichtig nach vorn weiter bewege, Reihe um Reihe. Ich suche jede Reihe nach Bree ab, und es sind nur noch wenige Reihen übrig.
„BREE!”, brülle ich, ich frage mich, warum sie ihren Kopf nicht hebt.
Ich prüfe die nächsten zwei Reihen, dann die nächsten zwei und dann die nächsten zwei … Schließlich erreiche ich die letzte Reihe und der Mut schwindet mir.
Sie ist nicht hier.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag: Ich habe mich für den falschen Bus entschieden.
Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung draußen und höre eine Explosion. Als ich mich umdrehe, entdecke ich, wie unser Humvee mit Logan darin sich in die Luft erhebt – er hat eine Mine getroffen. Er landet auf seiner Seite, schlittert durch den Schnee. Dann hält er an.
Meine Zuversicht schwindet. Logan muss tot sein.