F Ü N F

 

 

Fünfzehn Fuß … Zehn … Fünf … Das Motorrad wir langsamer, aber nicht langsam genug, und wir sind nur ein paar Meter vom Rand entfernt. Ich mache mich auf den Sturz gefasst, realisiere, dass ich auf diese Art sterben werde.

Dann passiert das Verrückteste, was geschehen kann: Ich höre einen dumpfen Aufschlag und ich spüre einen Ruck nach vorn, als das Motorrad in etwas hineinfährt und komplett zum Stillstand kommt. Ein Stück Metall, herausgerissen durch die Explosion, ragt aus der Brücke heraus und hat sich in der Speiche unseres Vorderrads verhakt.

Ich bin in einem Zustand des Schocks, als ich dort sitze, auf dem Motorrad. Langsam sehe ich herunter und der Mut schwindet mir wieder, als mir klar wird, dass ich in der Luft hänge, über dem Rand der Schlucht. Unter mir ist nichts. Hunderte Meter unter mir sehe ich das weiße Eis des Hudson. Ich bin verwirrt, warum ich nicht stürze.

Ich drehe mich um und sehe, die andere Hälfte meines Motorrads – der Beiwagen – noch auf der Brücke ist. Ben, der noch betäubter wirkt als ich, sitzt noch darin. Seinen Helm hat er irgendwo auf der Strecke verloren, und seine Wangen sind mit Ruß bedeckt, verbrannt von der Explosion. Er sieht zu mir, dann nach unten in die Schlucht, dann wieder zurück zu mir, ungläubig, als wäre er verwundert, dass ich noch am Leben bin.

Mir wird klar, dass sein Gewicht, im Beiwagen, das Einzige ist, was das Gleichgewicht hält, mich davon abhält, zu fallen. Wenn ich ihn nicht mitgenommen hätte, wäre ich genau jetzt tot.

Ich muss etwas tun, bevor das gesamte Motorrad das Gleichgewicht verliert. Langsam und vorsichtig ziehe ich meinen schmerzenden Körper aus dem Sitz und klettere auf dem Beiwagen herüber, auf Ben herauf. Dann klettere ich über ihn, stelle meine Füße auf das Pflaster, und ziehe langsam am Motorrad.

Ben sieht, was ich tue, und steigt aus und hilft. Zusammen ziehen wir es vom Rand weg und bekommen das ganze Motorrad wieder auf sicheren Boden.

Ben schaut mich mit seinen großen blauen Augen an, als hätte er gerade einen Krieg erlebt.

„Woher wusstest Du, dass es eine Bombe war?“, fragt er.

Ich zucke mit den Achseln. Ich wusste es irgendwie einfach.

„Hättest Du nicht rechtzeitig gebremst, wären wir jetzt tot“, sagt er dankbar.

„Hättest Du nicht im Beiwagen gesessen, wäre ich jetzt tot“, antworte ich.

Touché. Jetzt sind wir uns gegenseitig etwas schuldig.

Wir sehen beide nach unten in die Schlucht. Als ich hochsehe, kann ich in der Ferne die Autos der Sklaventreiber sehen, wie sie auf der andere Seite des Flusses ankommen.

„Und jetzt?“, fragt er.

Ich sehe mich um, verzweifelt, wäre unsere Möglichkeiten ab. Wieder sehe ich zum Fluss hinunter. Er ist komplett weiß, mit Eis und Schnee gefroren. Ich sehe den ganzen breiten Fluss hoch und runter, suche nach anderen Brücken, irgendeinem anderen Übergang. Da ist nichts.

In diesem Moment erkenne ich, was ich tun muss. Es ist riskant. Wahrscheinlich werden wir dabei sterben. Aber ich muss es versuchen. Ich habe es mir geschworen. Ich werde nicht aufgeben. Egal, was passiert.

Ich springe wieder auf das Motorrad. Ben folgt mir, er springt in den Beiwagen. Ich setze meinen Helm wieder auf und gebe Gas, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind.

„Wo willst Du hin?“, ruft er. „Das ist die falsche Richtung!“

Ich ignoriere ihn, rase über die Brücke, zurück auf unsere Seite des Hudson. Sobald ich die Brücke verlassen habe, biege ich links auf die Spring Street ab, in Richtung der Stadt Catskill.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind mit meinem Vater hergekommen bin, und an eine Straße, die direkt ans Flussufer führt. Wir haben dort gerne geangelt, wir konnten direkt heranfahren und mussten nicht einmal unseren Truck verlassen. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich war, dass wir direkt ans Wasser heranfahren konnten. Und jetzt formt sich in meinem Verstand ein Plan. Ein sehr, sehr gewagter Plan.

Wir fahren an einer kleinen, verlassenen Kirche und einem Friedhof auf unserer rechten Seite vorbei, die Grabsteine ragen aus dem Schnee, so typisch für eine Stadt in New England. Es verblüfft mich, dass die Friedhöfe, während die ganze Welt geplündert und zerstört aussieht, vollkommen unberührt scheinen. Es ist, als würden die Toten die Erde beherrschen.

Die Straße endet an einer T-Kreuzung. Ich biege rechts auf die Bridge Street ab und fahre einen steilen Hügel hinunter. Nach einigen Blocks komme ich zu den Ruinen eines riesigen Gebäudes aus Marmor. „Greene County Court House“ steht noch auf über dem Eingangstor. Dann biege ich links auf die Main Street ab und rase durch das, was einst der verschlafene Ort Catskill war. Auf beiden Seiten stehen Geschäfte, ausgebrannte Hüllen, verfallene Gebäude, zerbrochene Fenster und verlassene Fahrzeuge. Es ist keine Seele in Sicht. Ich rase mitten die Main Street herunter, es gibt keinen Strom, an Ampeln vorbei, die nicht mehr funktionieren. Nicht, dass ich anhalten würde, wenn sie es täten.

Ich fahre an den Ruinen eines Postamtes auf der linken Seite vorbei und weiche einem Müllhaufen auf der Straße aus, Überreste eines Stadthauses, das irgendwann eingestürzt sein muss. Die Straße führt weiter bergab, macht Kurven und wird schließlich schmaler. Ich fahre an verrosteten Bootskörpern vorbei, die jetzt im Sand liegen, zerstört. Hinter ihnen erheben sich die riesigen, verrosteten Gebäude, die einst Benzinlager waren, runde, hundert Fuß hohe Gebäude.

Ich biege links ab, in Richtung des Parks am Wasser, jetzt voller Unkraut. Auf den Resten eines Hinweisschilds steht „Dutchman's Landing“. Der Park dehnt sich bis zum Fluss hin aus, und das Einzige, was die Straße vom Fluss trennt, sind einige Felsbrocken mit Lücken dazwischen. Ich ziele auf eine dieser Lücken, senke mein Visier und richte das Motorrad aus. Jetzt oder nie. Ich kann mein Herz höher schlagen hören.

Ben muss erkennen, was ich mache. Er sitzt pfeilgerade, hält sich entsetzt an den Seiten des Motorrads fest.

„HALT AN!“, schreit er. „WAS MACHST DU?“

Aber ich kann jetzt nicht anhalten. Er wollte mitfahren, und es gibt kein Zurück mehr. Ich würde ihm anbieten, auszusteigen, aber ich habe keine Zeit mehr zu verlieren; außerdem, wenn ich jetzt anhalte, habe ich vielleicht nicht noch einmal die Nerven, das zu tun, was ich jetzt tun will.

Ich prüfe den Tacho. 60 … 70 … 80

„DU FÄHRST UNS DIREKT IN DEN FLUSS!“, schreit er.

„ER IST MIT EIS BEDECKT!“, schreie ich zurück.

„DAS EIS WIRD NICHT HALTEN“, schreit er wieder zurück.

90 … 100 … 110 …

„DAS WERDEN WIR HERAUSFINDEN!“, antworte ich.

Er hat Recht. Vielleicht hält das Eis nicht. Aber ich sehe keinen anderen Weg. Ich muss diesen Fluss überqueren, und ich habe keine anderen Ideen.

120 … 130 … 140 …

Der Fluss kommt schnell auf uns zu.

„LASS MICH RAUS!“, schreit er verzweifelt.

Aber es ist keine Zeit. Er wusste, worauf er sich einlässt.

Ich richte das Motorrad ein letztes Mal aus.

Und dann wird unsere Welt weiß.