D R E I Z E H N

 

 

Ich erwache in Schwärze. Ich bin so desorientiert, alles tut so weh, dass ich mich zuerst frage, ob ich tot oder lebendig bin. Ich liege mit dem Gesicht nach unten auf einem kalten Metallboden, in eine unnatürliche Position verdreht. Ich drehe mich um, langsam, lege meine Handflächen nach unten und versuche,  mich hochzuziehen.

Jede Bewegung tut weh. Es scheint keinen Teil in meinem Körper zu geben, der nicht schmerzt. Als ich langsam aufrecht sitze, fühlt sich mein Kopf an, als müsste er zerbrechen. Mir ist schwindelig, schlecht, schwach und hungrig zugleich. Ich habe seit mindestens einem Tag nichts gegessen. Mein Rachen ist ausgetrocknet. Ich fühle mich, als hätte man mich durch einen Mixer gepresst.

Ich sitze dort, mein Kopf dreht sich, aber schließlich begreife ich, dass ich nicht tot bin. Irgendwie bin ich immer noch am Leben.

Ich sehe mich in dem Raum um, versuche, mich zu orientieren und frage mich, wo ich bin. Es ist schwarz hier drin. Das einzige Licht fällt durch einen schmalen Schlitz unter einer Tür ein, irgendwo auf der anderen Seite des Raums. Das ist nicht genug, um irgendetwas sehen zu können.

Allmählich hebe ich mich auf ein Knie, halte meinen Kopf, versuche, die Schmerzen zu lindern. Schon diese kleine Bewegung führt dazu, dass die Welt sich wieder um mich dreht. Ich frage mich, ob ich unter Drogen gesetzt worden bin oder ob mir nur einfach von der endlosen Reihe von Verletzungen schwindlig ist, die mir in den letzten 24 Stunden zugefügt worden sind.

Mit höchster Anstrengung zwinge ich mich auf die Füße. Großer Fehler. Auf einmal kann ich Schmerz an mindestens einem Dutzend verschiedener Stellen fühlen: die Wunde in meinem Arm, meine gebrochenen Rippen, meine Stirn, wo sie gegen das Armaturenbrett geknallt ist, und die Seite meines Gesichtes. Ich fasse dort an und ertaste eine riesige Beule. Dort muss mich der Sklaventreiber getroffen habe.

Ich versuche, mich zu erinnern … Penn Station … Die Sklaventreiber überfahren … In den Zug hineinfahren … Hinter dem Zug hinterherrennen … Aufspringen … Und dann geschlagen werden … Ich blicke zurück und realisiere, dass Ben nicht bei mir war. Ich erinnere mich, dass er im Auto saß, bewusstlos. Ich frage mich, ob er den Zusammenstoß überhaupt überlebt hat.

„Ben?“ Ich rufe zögerlich in die Dunkelheit.

Ich warte, hoffe auf eine Antwort, hoffe, dass er vielleicht hier drin ist mit mir. Ich kneife die Augen zusammen, aber im Dunkeln kann ich nichts erkennen. Da ist nichts als Schweigen. Mein Gefühl der Angst wird tiefer.

Ich frage mich wieder, ob Bree in diesem Zug saß, und wo er hinfuhr. Ich erinnere mich, dass ich Bens Bruder darin gesehen habe, aber ich kann mich nicht daran erinnern, Bree tatsächlich gesehen zu haben. Ich bin überrascht, dass dieser Tage überhaupt noch irgendein Zug fährt. Bringen sie sie vielleicht in die Arena Eins?

Nichts davon spielt jetzt eine Rolle. Wer weiß, wie viele Stunden ich ausgeknockt war, wie viel Zeit ich verloren habe. Wer weiß, wo der Zug hingefahren ist, oder wie viele hunderte von Kilometern er bereits gewonnen hat. Es gibt keine Möglichkeit, sie noch einzuholen – vorausgesetzt, ich kann hier überhaupt entfliehen. Was ich bezweifle. Ich habe das Gefühl von Wut und Verzweiflung, als mir klar wird, dass es alles umsonst war. Jetzt kann es nur noch darum gehen, meine Strafe zu erwarten, meinen sicheren Tod, die Vergeltung, die die Sklaventreiber ausüben werden. Sie werden mich wahrscheinlich foltern und dann töten. Ich bete nur, dass es schnell vorbei sein wird.

Ich frage mich, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, hier zu entfliehen. Ich versuche, ein paar zaghafte Schritte in die Schwärze zu gehen, strecke meine Hände vor mir aus. Jeder Schritt ist eine Höllenqual, mein Körper ist so erschöpft von Beschwerden und Schmerzen. Es ist kalt hier drin, und ich zittere. Schon seit Tagen war mir nicht mehr wirklich warm, und ich habe das Gefühl, ich habe Fieber. Selbst wenn ich durch einen Glücksfall einen Weg finde, zu entkommen, bezweifle ich, dass ich gut genug in Form bin, um allzu weit zu kommen.

Ich komme an eine Wand und fahre mit meinen Händen daran entlang, bewege mich weiter durch das Zimmer in Richtung Tür. Plötzlich höre ich ein Geräusch von draußen. Darauf folgt das Geräusch von Schritten, von mehreren Paaren Springerstiefeln, die auf Stahlböden marschieren. Ihr Echo ertönt ominös im Dunklen, als sie sich nähern.

Dann ein Rasseln von Schlüsseln, und meine Zellentür wird aufgestoßen. Licht durchflutet den Innenraum, und ich hebe meine Hände an meine Augen, geblendet.

Meine Augen haben sich noch nicht angepasst, aber ich sehe genug, um die Silhouetten von einigen Menschen im Eingang ausmachen zu können. Sie sind groß und muskulös und sehen beeindruckend aus in ihren Sklaventreiber-Uniformen mit schwarzen Gesichtsmasken.

Langsam senke ich meine Hände, als meine Augen sich an das Licht gewöhnt haben. Es sind fünf von ihnen. Der eine, der in der Mitte steht, streckt schweigend ein Paar geöffnete Handschellen aus. Er spricht und bewegt sich nicht, aber seine Geste sagt offensichtlich, dass ich dort hinübergehen und ihm erlauben soll, mir die Handschellen anlegen zu lassen. Offensichtlich warten sie darauf, mich irgendwo hinzubringen.

Schnell sehe ich mir meine Zelle an, die jetzt mit Licht durchflutet ist, und sehe, dass es ein schlichter Raum ist, zehn mal zehn Fuß, mit Stahlböden und -wänden und sonst nichts darin. Und ohne jegliche Fluchtmöglichkeit. Ich fahre mit meinen Händen an meiner Hüfte entlang und kann fühlen, dass mir mein Waffengürtel abgenommen worden ist. Ich bin wehrlos. Es hätte keinen Sinn, zu versuchen, sich diesen gut bewaffneten Soldaten zu widersetzen.

Ich wüsste nicht, was ich zu verlieren hätte, wenn ich ihnen erlauben würde, mir Handschellen anzulegen. Nicht, dass ich eine Wahl hätte. So oder so, das hier ist meine Fahrkarte nach draußen. Und wenn es die Fahrkarte in meinen Tod ist, werde ich es zumindest hinter mir haben.

Langsam gehe ich auf sie zu und drehe mich um. Sie schließen die kalten, metallenen Handschellen um meine Handgelenke, viel zu eng. Dann fassen sie mich von hinten, greifen mich an meinem Shirt, und stoßen mich in den Flur.

Ich stolpere den Gang hinunter, die Sklaventreiber direkt hinter mir, ihre Stiefel klingen wie die der Gestapo. Die Flure werden sporadisch von matten Notleuchten erhellt, alle zwanzig Meter etwa, sie bieten gerade genug Licht, dass man den Weg vor Augen sieht. Es ist ein langer, steriler Flur mit Metallböden und -wänden. Wieder werde ich gestoßen, und ich gehe schneller. Mein Körper protestiert bei jedem Schritt, aber je mehr ich gehe, desto mehr löst sich diese Steifigkeit.

Der Flur endet und ich habe keine andere Wahl, als rechts abzubiegen. In der Ferne öffnet er sich. Wieder werde ich gestoßen, als ich diesen neuen Korridor entlanggehe, und das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich in einem riesigen, weiten Raum stehe, zusammen mit Hunderten von Sklaventreibern. Sie sind in ordentlichen Reihen entlang der Wände aufgereiht, sie formen einen Halbkreis, gekleidet in ihre schwarzen Uniformen und Gesichtsmasken. Wir müssen uns immer noch irgendwo unter der Erde aufhalten, weil ich keine Fenster oder Tageslicht sehe. Der dämmrige Raum wird nur von Fackeln an den Wänden erhellt, die in der Stille knacken.

In der Mitte des Raumes, auf der anderen Seite, steht, was ich nur als einen Thron beschreiben kann – ein riesiger Stuhl auf einer selbstgebauten Plattform. Auf diesem Stuhl sitzt ein einzelner Mann, ganz offensichtlich ihr Anführer. Er sieht jung aus, vielleicht ist einer in seinen Dreißigern, dennoch hat er einen weißen Haarschopf, der hoch- und in alle Richtungen absteht, wie bei einem verrückten Wissenschaftler. Er trägt eine elaborierte Uniform aus grünem Samt, mit militärischen Knöpfen und einem hohen Kragen, der seinen Hals einrahmt. Er hat große, graue, leblose Augen, die weit geöffnet sind und mich anstarren. Er sieht aus wie ein Verrückter.

Die Reihen der Sklaventreiber öffnen sich vor mir, und ich werde von hinten geschoben. Ich stolpere vorwärts, auf die Mitte des Saales hin, und werde so geführt, dass ich vor ihrem Anführer zum Stehen komme.

Ich stehe etwa zehn Meter entfernt, sehe zu ihm hoch, die Sklaventreiber halten hinter mir Wache. Und ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob sie mich auf der Stelle exekutieren werden. Schließlich habe ich viele von ihnen getötet. Ich suche den Raum nach einem Zeichen von Bree, Ben oder seinem Bruder ab. Da ist niemand. Ich bin allein.

Geduldig warte ich in der angespannten Stille, während der Anführer mich von oben bis unten anschaut. Ich kann nichts tun außer warten. Mein Schicksal liegt jetzt in den Händen von diesem Menschen, offenbar.

Er sieht mich an, als wäre ich ein Teil einer Beute, und dann, nach einem Zeitraum, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, überrascht er mich, indem er langsam beginnt, zu lächeln. Es ist eher ein höhnisches Lächeln, verdorben durch die riesige Narbe entlang seiner Wange. Er beginnt, zu lachen, lauter und lauter. Es ist das kälteste Geräusch, das ich je gehört habe, und es hallt in dem abgedunkelten Raum wider. Mit glitzernden Augen starrt er auf mich herab.

„Du bist das also“, sagt er schließlich. Seine Stimme ist unnatürlich rau und tief, als würde sie einem hundert Jahre alten Mann gehören.

Ich starre zurück, weil ich nicht weiß, was ich antworten soll.

Du bist also die, die solche Verwüstung unter meiner Männern angerichtet hat. Du bist die, die es geschafft hat, uns durch die ganze Stadt zu jagen. Durch MEINE Stadt. New York gehört jetzt mir. Wusstest Du das?“, fragt er. Plötzlich wird seine Stimme scharf vor Wut, seine Augen treten aus ihren Höhlen. Seine Arme zittern, als er sich an den Stuhl klammert. Er sieht aus, als wäre er gerade aus einer psychiatrischen Klinik ausgebrochen.

Wieder weiß ich nicht, was ich antworten soll, also schweige ich.

Langsam schüttelt er seinen Kopf.

„Einige andere haben es versucht – aber kein anderer hat es bisher geschafft, meine Stadt auch nur zu betreten. Geschweige denn, den ganzen Weg bis zu meinem Haus zu schaffen. Du wusstest, dass das Deinen sicheren Tod bedeutet. Und trotzdem bist Du gekommen.“ Er sieht mich von oben bis unten an.

„Ich mag Dich“, schließt er.

Als er mich so anstarrt, mich erfasst, fühle ich mich mehr und mehr unwohl. Ich bereite mich darauf vor, dass jetzt alles kommen kann.

„Und sieh Dich an“, fährt er fort. „Nur ein Mädchen. Ein dummes, junges Mädchen. Nicht einmal groß oder stark. Kaum irgendwelche Waffen, die der Rede wert wären. Wie kann es sein, dass Du so viele meiner Männer getötet hast?“

Er schüttelt seinen Kopf.

„Es ist, weil Du ein Herz hast. Das ist es, was wertvoll ist in dieser Welt. J, das ist es, was wertvoll ist. Plötzlich lacht er. „Aber natürlich hattest Du keinen Erfolg. Wie könntest Du? Das ist MEINE Stadt“, kreischt er, sein Körper schüttelt sich.

Er sitzt da, zitternd, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Meine Befürchtung bestätigt sich. Ganz offensichtlich liegt mein Schicksal in den Händen eines Verrückten.

Schließlich räuspert er sich.

„Du hast einen starken Geist. Fast wie ich. Das bewundere ich. Das reicht, um Dich schnell töten zu wollen, anstatt langsam.“

Ich schlucke hart, weil sich das nicht gut anhört.

„Ja“, spricht er weiter, und starrt mich an. „Ich kann es in Deinen Augen sehen. Der Geist eines Kriegers. Ja, Du bist genau wie ich.“

Ich weiß nicht, was er in mir sieht, aber ich bete, dass ich nichts mit diesem Mann gemeinsam habe.

„Es ist schwierig, jemanden wie Dich zu finden. Nur wenige haben es geschafft, da draußen zu überleben, in all diesen Jahren. Nur wenige haben einen solchen Geist … Daher werde ich Dich, statt Dich zu exekutieren, wie Du es verdient hättest, belohnen. Ich werde Dir ein großes Geschenk machen. Das Geschenk des freien Willens. Eine Wahl.

Du kannst uns beitreten. Einer von uns werden. Ein Sklaventreiber. Du wirst allen Luxus haben, den Du Dir vorstellen kannst – mehr Essen, als Du Dir auch nur erträumen kannst. Du wirst eine Abteilung von Sklaventreibern leiten. Du kennst Dein Gebiet gut. Diese Berge. Ich kann Dich brauchen, ja. Du wirst Expeditionen leiten, alle verbliebenen Überlebenden fangen. Du wirst uns dabei unterstützen, unsere Armee zu vergrößern. Im Gegenzug schenke ich Dir das Leben. Ein Leben in Luxus.“

Er hält inne, starrt mich an, als würde er auf eine Antwort warten.

Natürlich macht der Gedanke mich krank. Ein Sklaventreiber. Ich kann mir nichts vorstellen, was ich mehr verabscheuen würde. Ich öffne meinen Mund, um zu antworten, aber zuerst ist mein Hals so verdorrt, dass nichts herauskommt. Ich räuspere mich.

„Und wenn ich mich weigere?“, frage ich. Es klingt sanfter, als ich will.

Seine Augen öffnen sich weit vor Überraschung.

„Weigere?“, echot er. „Dann wirst Du in der Arena sterben. Du wirst einen qualvollen Tod sterben, zu unser alle Vergnügen. Das ist Deine andere Option.“

Ich denke angestrengt nach, zermartere mir den Kopf, versuche, mehr Zeit zu kaufen. Auf keinen Fall werde ich seinen Vorschlag jemals akzeptieren – aber ich muss mir einen Ausweg überlegen.

„Und was ist mit meiner Schwester?“, frage ich.

Er lehnt sich zurück und lächelt.

„Wenn Du bei uns dabei ist, werde ich sie freilassen. Es steht ihr frei, in die Wildnis zurückkehren. Wenn Du Dich weigerst, wird sie natürlich auch getötet.“

Mein Herz klopft bei dem Gedanken. Bree lebt noch. Angenommen, er sagt die Wahrheit.

Ich denke angestrengt nach. Würde Bree wollen, dass ich ein Sklaventreiber werde, wenn es bedeutete, ihr Leben zu retten? Würde sie nicht. Bree würde nie dafür verantwortlich sein wollen, dass ich andere junge Mädchen und Jungen entführte, ihnen ihre Leben stahl. Ich würde alles tun, um sie zu retten. Aber hier muss ich die Grenze ziehen.

„Du wirst mich töten müssen“, antworte ich schließlich. „Auf gar keinen Fall könnte ich jemals ein Sklaventreiber sein.“

Durch die Menge geht ein Raunen, ihr Anführer steht auf und schlägt seine Handfläche auf seine Armlehne. Sofort wird es still im Saal.

Er steht auf und sieht mich an.

„Ich werde Dich töten“, knurrt er. „Und ich werde in der ersten Reihe sitzen, um zuzusehen.“