D R E I U N D Z W A N Z I G
Ich öffne meine Augen, als eine raue Hand meine Schulter schüttelt.
„LASST UNS GEHEN“, höre ich ein dringendes Flüstern.
Ich öffne meine Augen ruckartig, orientierungslos, unsicher, ob ich wach bin oder schlafe. Ich sehe mich rundum um, versuche, mich zu sammeln, und sehe graues Licht, dass die Morgendämmerung ankündigt, durch das Fenster hereinfallen. Tagesanbruch. Ich muss auf dem Boden eingeschlafen sein, mit meinem Kopf auf Bens Schulter. Logan weckt auch ihn grob auf.
Ich springe auf meine Füße. Dabei wird der Schmerz in meiner Wade wieder fast unerträglich, er explodiert in meinem Bein.
„Wir verlieren Zeit!“, schnappt Logan. „Bewegt Euch! Beide! Ich gehe. Wenn Ihr mitkommen wollt, ist jetzt Eure Chance!“
Logan eilt zur Tür und lehnt sein Ohr dagegen. Ich fühle den Adrenalinschub, als ich das Zimmer durchquere. Ben ist jetzt auch wach und an meiner Seite, wir stellen uns hinter Logan. Wir hören zu. Draußen scheint alles ruhig zu sein. Keine Fußtritte mehr, keine Ausrufe, kein Grölen … nichts. Ich wundere mich, wie viele Stunden vergangen sind. Es klingt, als ob alle verschwunden wären.
Auch Logan scheint zufrieden. Mit seiner Waffe in der einen Hand schließt er mit der anderen langsam die Tür auf, um prüft, ob wir bereit sind. Langsam zieht er die Tür auf.
Vorsichtig tritt er nach draußen, umrundet die Ecke scharf, bereit, zu schießen.
Er macht eine Geste, damit wir ihm folgen, und ich trete ebenfalls heraus und sehe, dass die Gänge leer sind.
„Bewegung!“, flüstert er verzweifelt.
Er rennt den Gang hinunter und ich renne hinter ihm her, mit aller Kraft. Jeder Schritt führt zu einer kleinen Explosion von Schmerz in meiner Wade. Ich kann nicht anders, als herunterzusehen, und wünschte, ich hätte es gelassen: Sie ist inzwischen so groß wie ein Fußball. Außerdem ist sie knallrot, und ich habe Angst, dass die Wunde infiziert sein könnte. Auch alle meine anderen Muskeln tut mir weh, von meinen Rippen bis zu meiner Schulter und zu meinem Gesicht – aber die Wade macht mir am meisten Sorgen. Die anderen Sachen sind nur Verletzungen. Aber wenn die Wade infiziert ist, brauche ich Medizin. Und zwar schnell.
Aber darauf kann ich mich jetzt nicht konzentrieren. Ich renne weiter, humple eher den Gang entlang, Ben neben mir und Logan etwa zehn Meter vor uns. Die stählernen Gänge werden von sporadischen Notbeleuchtungen dämmrig erhält, und ich folge Logan in der Dunkelheit, verlasse ich mich darauf, dass er diesen Ort kennt. Glücklicherweise ist immer noch niemand in Sicht. Ich vermute, dass sie alle auf der Suche nach uns sind.
Logan biegt rechts in einen Gang ab, dann links. Wir folgen ihm, vertrauen darauf, dass er den Weg hier raus kennt. Er ist jetzt unsere Lebenslinie, und ich muss ihm einfach vertrauen. Ich habe keine andere Wahl.
Nach mehreren weiteren Abbiegungen hält Logan schließlich vor einer Tür an. Außer Atem halte ich neben ihm an. Er stößt sie auf, sieht hinaus, öffnet sie dann ganz. Er packt Ben an der Schulter und zieht ihn nach vorn.
„Dort“, sagt er und zeigt auf etwas. „Siehst Du das?“
Ich beuge mich selbst vor. In der Ferne, an einem weiten, offenen Terminal, sind Züge.
„Der Zug dort, der sich gerade in Bewegung setzt. Der fährt zu den Minen. Er fährt einmal am Tag. Wenn Du dorthin willst, ist jetzt Deine Chance. Los!“
Ben dreht sich um und sieht mich ein letztes Mal an, seine Augen sind weit offen vom Adrenalin. Er überrascht mich, indem er meine Hand nimmt und ihre Rückseite küsst. Er hält sie noch eine Sekunde, dann sieht er mich bedeutungsvoll an, als könnte es das letzte Mal sein, dass er mich sieht.
Dann dreht er sich um und rennt zu dem Terminal, auf den Zug zu.
Logan sieht mich hämisch an, ich kann seine Eifersucht spüren.
Ich weiß selbst nicht, was ich von dem Kuss denken soll. Als ich ihm nachsehe, wie er auf den Zug zurennt, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, ob das das letzte Mal ist, dass ich ihn sehe.
„Hier lang!“, schnappt Logan und rennt einen anderen Korridor hinunter.
Aber ich stehe da, erstarrt, und sehe Ben nach.
Logan dreht sich noch einmal zu mir, verärgert und ungeduldig. „BEWEGUNG!“, flüstert er.
Ben rennt über die ganze offene Fläche zur Penn Station, an den Gleisen entlang, dann springt er hinten auf den Zug auf, der sich langsam in Bewegung setzt. Er hält sich an den Metallstangen fest, als der Zug in einem schwarzen Tunnel verschwindet. Er hat es geschafft.
„Ich gehe!“, sagt Logan, dann dreht er sich um und rennt los.
Ich kann mich lösen und renne hinter ihm her. Ich renne so schnell, wie meine Beine mich tragen, aber Logan ist bereits weit vor mir und er biegt wieder ab, außer Sichtweite. Mein Herz klopft, als ich mich frage, ob ich ihn verloren habe.
Ich biege in einen weiteren Gang ein, renne eine Rampe hinauf und entdecke ihn schließlich wieder. Er steht an einer Wand, neben einer Glastür, und wartet auf mich. Durch die Tür kann ich nach draußen sehen. Die Eighth Avenue. Es ist eine weiße Welt. Da draußen tobt ein wilder Schneesturm.
Ich renne zu Logan und stehe neben ihm, mit dem Rücken an der Wand, versuche, Luft zu bekommen.
„Siehst Du das dort?“, fragt er und zeigt auf etwas.
Ich folge seinem Blick, versuche, zwischen dem Schnee etwas zu erkennen.
„Auf der anderen Straßenseite“, sagt er, „vor dem alten Postamt. Die Busse, die davor parken.“
Ich kann drei große Busse erkennen, mit Schnee bedeckt. Sie sehen wie Schulbusse aus, aber umgearbeitet, mit schweren Gittern auf jeder Seite, wie gepanzerte Fahrzeuge. Zwei von ihnen sind gelb lackiert, eins schwarz. Dutzende von jungen Mädchen, die aneinander gekettet sind, werden in die Busse verladen. Mein Herz macht einen Sprung, als ich Bree unter ihnen entdecke, in der Gruppe an der Kette, nur wenige hundert Meter weiter. Sie wird in einen der gelben Busse verladen.
„Da ist sie!“, brülle ich. „Das ist Bree!“
„Gib es auf“, sagt er. „Komm mit mir. Dann überlebst Du wenigstens.“
Aber ich bin von neuer Entschlossenheit erfüllt und sehe ihn mit absoluter Ernsthaftigkeit an.
„Es geht nicht ums Überleben“, antworte ich. „Verstehst Du das nicht?“
Logan sieht mir in die Augen und ich kann sehen, dass er mich zum ersten Mal versteht. Er versteht es wirklich. Er kann sehen, dass ich entschlossen bin, dass nichts auf der Erde meine Meinung ändern kann.
„Okay“, sagt er. „Dann war's das jetzt. Sobald wir durch diese Türen durch sind, breche ich nach Uptown auf, zu dem Boot. Dann bist Du jetzt wieder auf Dich selbst gestellt.“
Er greift nach unten und legt etwas Schweres in meine Handfläche. Eine Pistole. Ich bin überrascht und sehr dankbar dafür.
Ich will mich gerade verabschieden, aber plötzlich höre ich einen Motor, sehe hinaus und sehe schwarze Rauchwolken, die aus den Auspuffs der Busse kommen. Und schon setzen sich alle drei Busse durch den dicken Schnee in Bewegung.
„NEIN!”, brülle ich. Bevor ich nachdenken kann, trete ich die Tür auf und platze nach draußen. Ein Schwung eisigen Schnees und Wind schlagen mir ins Gesicht, so kalt und nass, dass ich wieder keine Luft mehr bekomme.
Ich renne in den gleißenden Blizzard hinein, der Schnee reicht mir bis zu den Knien. Ich renne und renne, durch die offene weiße Ebene auf die Busse zu. Auf Bree zu.
Ich bin zu spät. Sie sind mir gute hundert Meter voraus, und sie beschleunigen im Schnee. Ich renne ihnen nach, mein Bein bringt mich um, ich bekomme kaum Luft, als mir klar wird, dass Logan Recht hatte. Es ist sinnlos. Ich sehe, wie die Busse um eine Ecke biegen, und bald sind sie außer Sichtweite. Ich kann es noch gar nicht glauben. Ich habe sie gerade verpasst.
Ich sehe über meine Schulter, aber Logan ist weg. Meine Zuversicht schwindet. Er muss schon fort sein. Jetzt bin ich ganz alleine.
Verzweifelt versuche ich, nachzudenken, auf eine Idee zu kommen. Ich suche die Umgebung mit meinen Augen ab und sehe vor der Penn Station eine Reihe von Humvees. Sklaventreiber sitzen auf ihren Dächern und Hauben. Sie haben sich gegen den Schnee in ihre Mäntel eingewickelt, sitzen mit dem Rücken zu mir. Keiner von ihnen schaut in meine Richtung. Sie beobachten alle die abfahrenden Busse.
Ich brauche ein Fahrzeug. Das ist meine einzige Chance, diese Busse einzuholen.
Humpelnd renne ich zu dem Humvee ganz hinten, dem einzigen, auf dessen Dach kein Sklaventreiber sitzt. Der Humvee läuft, der Auspuff dampft, ein Sklaventreiber sitzt im Fahrersitz und wärmt seine Hände auf.
Ich krieche zur Tür auf der Beifahrerseite und stoße sie auf, richte meine Waffe auf ihn.
Dieser Sklaventreiber trägt keine Gesichtsmaske, und ich kann die Angst in seinem Gesicht sehen. Er hält seine Hände hoch, er will nicht erschossen werden. Ich gebe ihm keine Zeit zu reagieren, die anderen zu alarmieren. Ich halte meine Pistole in sein Gesicht, greife ihn am Hemd und ziehe ihn heraus. Er fällt in den Schnee.
Ich will gerade in den Fahrersitz springen, als ich plötzlich einen harten Schlag auf die Seite meines Kopfes spüre, die Einwirkung von Metall. Der Schlag überwältigt mich, ich stürze in den Schnee.
Ein weiterer Sklaventreiber hat sich hinter mir angeschlichen und mich mit seiner Pistole an der Seite meines Kopfes getroffen. Ich fasse nach oben, an meinen Kopf, und fühle, wie Blut an meiner Hand entlang rinnt. Es tut weh wie die Hölle.
Der Sklaventreiber steht über mir und senkt seine Pistole in Richtung meines Gesichts. Er grinst bösartig, entsichert die Waffe, und ich weiß, dass er gleich schießt. Plötzlich wird mir klar, dass ich sterben muss.
Ein Schuss ertönt, und ich bin mir sicher, dass es vorbei ist.