F Ü N F Z E H N
Unsere Zellentür öffnet sich knarrend und Licht dringt aus dem Flur herein. Ich schütze meine Augen mit meiner Hand und sehe die Silhouette eines Sklaventreibers. Ich erwarte, dass er zu mir herüberkommt und mich mitnimmt, aber stattdessen beugt er sich herunter, lässt etwas Hartes aus Plastik auf den Boden fallen und stößt es mit dem Fuß zu mir. Das Etwas knirscht über den Boden, bis es von meinem Fuß gebremst wird.
„Deine letzte Mahlzeit“, kündigt er mit dunkler Stimme an.
Dann marschiert er hinaus, knallt die Tür zu und verschließt sie.
Ich kann das Essen schon riechen, und mein Magen reagiert prompt mit einem stechenden Hungergefühl. Ich beuge mich hinüber und hebe vorsichtig die Plastikverpackung hoch, obwohl ich sie in dem dämmrigen Licht kaum sehen kann: Sie ist lang und flach, oben mit einer Folie beklebt. Ich ziehe die Folie zurück und kann sofort das Essen riechen – richtiges, gekochtes Essen, was ich seit Jahren nicht hatte. Der Geruch schwemmt über mich hinweg. Es riecht nach Steak. Und Huhn. Und Kartoffeln. Ich sehe genauer hin: Da sind ein riesiges, saftiges Steak, zwei Hühnerbeine, Kartoffelbrei und Gemüse. Das ist das Beste, was ich je gerochen habe. Ich fühle mich schuldig, weil Bree nicht hier ist und das mit mir teilen kann.
Ich frage mich, warum sie mir so eine extravagante Mahlzeit haben zukommen lassen und dann wird mir klar, dass das kein Akt der Freundlichkeit ist, sondern reiner Eigennutz: Sie wollen, dass ich stark bin in der Arena. Vielleicht wollen sie mich auch ein letztes Mal in Versuchung führen, mir einen Vorgeschmack auf das Leben geben, wie es wäre, wenn ich ihr Angebot akzeptieren würde. Echte Mahlzeiten. Warmes Essen. Ein Luxusleben.
Während der Geruch in jede Pore meines Körpers eindringt, wird ihr Angebot verlockender. Ich habe seit Jahren kein echtes Essen gerochen. Plötzlich wird mir klar, wie hungrig ich bin, wie unterernährt, und ich frage mich ernsthaft, ob ich ohne diese Mahlzeit jemals die Kraft hätte, zu kämpfen.
Ben setzt sich auf und sieht zu mir. Natürlich. Plötzlich fühle ich mich egoistisch, weil ich nicht an ihn gedacht habe. Er muss genauso hungrig sein wie ich, und ich bin sicher, dass der Geruch, der den Raum erfüllt, ihn verrückt macht.“
„Teil es mit mir“, sage ich in die Dunkelheit hinein. Ich brauche all meine Willenskraft, um dieses Angebot machen zu können – aber ich tue das Richtige.
Er schüttelt seinen Kopf.
„Nein“, sagt er. „Sie haben gesagt, das ist für Dich. Iss es. Wenn sie kommen, um mich zu holen, werden sie mir auch eine Mahlzeit geben. Du brauchst das jetzt. Du bist diejenige, die jetzt kämpfen soll.“
Er hat Recht. Ich brauche das jetzt. Besonders, weil ich nicht nur vorhabe, zu kämpfen – sondern zu gewinnen.
Ich brauche keine weiteren Überredungskünste. Der Geruch des Essens überwältigt mich, und ich greife mir ein Hühnerbein und verschlinge es innerhalb von Sekunden. Ich nehme Bissen um Bissen, mache kaum eine Pause, um zu schlucken. Das ist das Köstlichste, was ich je gegessen habe. Aber ich zwinge mich, das andere Hühnerbein zur Seite zu legen, es für Ben aufzuheben. Vielleicht bekommt Ben seine eigene Mahlzeit – vielleicht auch nicht. So oder so, nach allem, was wir durchgemacht haben, habe ich das Gefühl, es ist nur recht und billig, mit ihm zu teilen.
Ich wende mich dem Kartoffelbrei zu, stopfe ihn mir mit den Fingern in den Mund. Mein Magen schmerzt, und mir wird klar, wie sehr ich diese Mahlzeit brauche, mehr als jede andere, die ich jemals hatte. Mein Körper schreit nach dem nächsten Bissen und nach dem nächsten. Ich esse viel zu schnell, schon nach wenigen Momenten habe ich mehr als die Hälfte gegessen. Ich zwinge mich, den Rest für Ben aufzuheben.
Ich hebe das Steak mit meinen Fingern hoch und nehme große Bissen, kaue aber langsam, versuche, jeden zu schmecken. Das ist das Beste, was ich je gegessen habe. Wenn das wirklich meine letzte Mahlzeit sein sollte, bin ich zufrieden. Ich hebe die Hälfte vom Steak auf und mache mit dem Gemüse weiter, esse aber auch davon nur die Hälfte. Innerhalb von wenigen Momenten bin ich fertig – und doch habe ich nicht das Gefühl, satt zu sein. Ich sehe mir an, was ich für Ben aufgehoben habe, und will es bis zum letzten Bissen verschlingen. Aber ich nehme meine Willenskraft zusammen, erhebe mich langsam, gehe durch den Raum und halte ihm das Tablett hin.
Er sitzt da, den Kopf auf den Knien, und sieht nicht einmal hoch. Ich habe noch niemanden gesehen, der so verzweifelt wirkt. Wenn ich dort gesessen hätte, hätte ich mir bei jedem Bissen zugesehen und mir vorgestellt, wie es wohl schmeckte. Aber es scheint, dass er einfach keinen Lebenswillen mehr übrig hat.
Er muss riechen, wie nah das Essen ist, denn schließlich hebt er seinen Kopf. Er sieht zu mir hoch, die Augen weit geöffnet vor Überraschung. Ich lächle.
„Du hast nicht wirklich gedacht, dass ich das alleine esse, oder?“, frage ich.
Er lächelt, aber er schüttelt trotzdem den Kopf und lässt ihn wieder auf seine Knie fallen. „Ich kann nicht“, sagt er. „Es ist Deins.“
„Jetzt ist es Deins“, sage ich, und schiebe ihm das Tablett in die Hände. Er hat keine andere Wahl, als es zu nehmen.
„Aber das ist nicht fair –“, beginnt er.
„Ich hatte genug“, lüge ich. „Außerdem muss ich leicht bleiben, für den Kampf. Mit vollem Bauch kann ich mich schlecht bewegen, oder?“
Meine Lüge ist nicht sehr überzeugend, und ich merke, dass er mir das nicht wirklich abnimmt. Aber ich kann auch sehen, welche Wirkung der Geruch des Essens auf ihn ausübt, wie sein Überlebensinstinkt einsetzt. Es ist derselbe Impuls, den ich vor nur wenigen Minuten empfunden habe.
Er beugt sich hinunter und verschlingt es. Er schließt die Augen, lehnt sich zurück und atmet schwer, während er isst, er scheint jeden Bissen zu genießen. Ich sehe ihm zu, wie er aufisst, und ich kann sehen, wie dringend er das gebraucht hat.
Anstatt zurück in meine Seite des Raums zu gehen, setze ich mich an die Wand neben ihn. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe, bis sie mich holen kommen, und aus irgendeinem Grund möchte ich ihm in unseren letzten paar Minuten näher sein.
Wir sitzen da, schweigend, nebeneinander, ich weiß nicht, wie lange. Ich bin angespannt, lausche auf irgendein Geräusch, frage mich die ganze Zeit, ob sie kommen. Ich denke darüber nach, was vor mir liegt, mein Herz beginnt, schneller zu schlagen, und ich versuche, meine Gedanken auf etwas anderes zu richten.
Ich hatte angenommen, dass sie uns zusammen in die Arena bringen würden, und bin überrascht, dass sie uns trennen. Das bringt mich dazu, mich zu fragen, was für Überraschungen sie noch auf Lager haben. Ich versuche, nicht über sie nachzudenken.
Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob das das letzte Mal ist, dass ich Ben sehe. Ich kannte ihn nicht lang, und es sollte mir wirklich egal sein. Ich weiß, dass ich jetzt einen klaren Kopf behalten sollte, mich nicht um Gefühle kümmern sollte, sondern mich einfach auf den vor mir liegenden Kampf konzentrieren.
Aber aus irgendeinem Grund kann ich nicht aufhören, an ihn zu denken. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie fühle ich mich ihm verbunden. Ich werde ihn vermissen. Es macht überhaupt keinen Sinn, und ich ärgere mich selbst, dass ich so denke. Ich kenne ihn kaum. Es ärgert mich, dass es mich mitnehmen wird – mehr, als es sollte –, dass ich mich von ihm werde verabschieden müssen.
Wir sitzen dort in einem entspannten Schweigen, einem Schweigen zwischen Freunden. Es ist nicht mehr unangenehm. Wir sprechen nicht, aber ich spüre, dass er mich auch in diesem Schweigen hört, dass er hört, wie ich mich von ihm verabschiede. Und ich spüre, dass auch er sich verabschiedet.
Ich warte darauf, dass er etwas zu mir sagt – irgendetwas. Nach einigen Minuten beginnt ein Teil von mir, sich zu fragen, ob es einen Grund hat, dass er nichts sagt, ob es ihm vielleicht nicht so geht wie mir. Vielleicht bin ich ihm ganz egal; vielleicht nimmt er mir sogar übel, dass ich ihn in diese Sache mit reinzogen habe. Plötzlich zweifle ich an mir selbst. Ich muss es wissen.
„Ben?“, flüstere ich in die Stille hinein.
Ich warte, aber alles, was ich höre, ist sein Armen, durch die gebrochene Nase. Ich schaue hinüber und sehe, dass er tief schläft. Das erklärt sein Schweigen.
Ich sehe mir sein Gesicht genau an, und sogar, so verletzt, wie es ist, ist es wunderschön. Ich hasse die Vorstellung, dass sie uns trennen werden. Und dass er sterben wird. Er ist zu jung, um zu sterben. Ich bin es auch.
Aber auch mich macht die Mahlzeit müde, und ich merke, wie mir in der Dunkelheit die Augen zufallen. Ich bekomme gerade noch mit, wie ich an der Wand ein Stück tiefer hinunterrutsche und mein Kopf zur Seite fällt, auf Bens Schultern. Ich weiß, dass ich wach bleiben sollte, und wachsam, mich auf die Arena vorbereiten.
Aber obwohl ich mir Mühe gebe, bin ich schon nach wenigen Momenten fest eingeschlafen.
*
Ich werde vom Widerhall von Stiefeln geweckt, die den Gang heruntermarschieren. Zuerst denke ich, es ist nur ein Alptraum – aber dann wird mir klar, dass es das nicht ist. Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen sind. Mein Körper fühlt sich allerdings erholt an, und das verrät mir, dass ich eine ganze Weile geschlafen haben muss.
Die Stiefel werden lauter und halten bald an meiner Tür an. Schlüssel rasseln, und ich setze mich gerade auf, mein Herz pocht in meiner Brust. Sie sind gekommen, mich zu holen.
Ich weiß nicht, wie ich mich von Ben verabschieden soll, und ich weiß noch nicht einmal, ob er das will. Stattdessen stehe ich also einfach nur da und bereite mich darauf vor, zu gehen. Noch immer tut mir jeder Muskel weh.
Plötzlich spüre ich eine Hand auf meinem Handgelenk. Sie ist überraschend stark, und die Intensität des Griffs geht mir durch und durch.
Ich habe Angst davor, zu ihm hinunterzuschauen, ihm in die Augen zu sehen – aber ich habe keine Wahl. Er sieht mich direkt an. Sein Blick strahlt Sorge aus, und in dem Moment kann ich sehen, wie wichtig ich ihm bin. Die Intensität seines Blicks macht mir Angst.
„Du hast das gut hinbekommen“, sagt er, „dass wir überhaupt so weit gekommen sind. Wir hätten nicht so lange am Leben bleiben sollen.“
Ich starre zurück, weil ich nicht weiß, was ich antworten soll. Ich will ihm sagen, dass mir all das hier Leid tut. Ich will ihm auch sagen, dass er mir wichtig ist. Dass ich hoffe, dass er überlebt. Dass ich überlebe. Dass ich ihn wiedersehe. Das wir unsere Geschwister finden. Dass wir es nach Hause schaffen.
Aber ich spüre, dass er das schon weiß. Also sage ich im Ende überhaupt nichts.
Die Tür schwingt auf, und die Sklaventreiber marschieren hinein. Ich drehe mich um, aber Ben greift noch einmal nach meinem Handgelenk, zwingt mich, mich ihm wieder zuzuwenden.
„Überlebe“, sagt er, mit der Intensität eines sterbenden Mannes.
Ich schaue ihn an.
„Überlebe. Für mich. Für Deine Schwester. Für meinen Bruder. Überlebe.“
Seine Worte hängen in der Luft wie ein Auftrag, es fühlt sich an, als kämen sie von Papa, wären nur durch Ben kanalisiert. Mir läuft ein Schauer den Rücken hinunter. Vorher war ich entschlossen, zu überleben. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich gar keine andere Wahl habe.
Die Sklaventreiber marschieren herüber und stehen hinter mir.
Ben lässt los und ich drehe mich um, stehe dort stolz vor ihnen. Ich fühle mich durch die Mahlzeit und den Schlaf gestärkt und blicke sie herausfordernd an.
Einer von ihnen hält einen Schlüssel in der Hand. Zuerst verstehe ich nicht, warum – aber dann erinnere ich mich: meine Handschellen. Ich habe sie schon so lange an, dass ich sie vergessen habe.
Ich halte ihm meine Hände hin, und er schließt sie auf. Eine riesige Anspannung fällt von mir ab, als das Metall sich öffnet. Ich reibe meine Handgelenke, dort, wo die Handschellen ihre Spuren hinterlassen haben.
Ich marschiere aus dem Zimmer, bevor sie mich schieben können, will den Vorteil. Ich weiß, dass Ben mich beobachtet, aber ich könnte es nicht ertragen, mich noch einmal umzudrehen. Ich muss stark sein.
Ich muss überleben.