S E C H S Z E H N
Ich werde von den Sklaventreibern den Flur heruntergeführt, und während ich die endlosen, schmalen Gänge hinuntergehe, höre ich ein schwaches Grollen. Zuerst ist es kaum zu hören. Aber als ich näherkomme, beginnt es, sich wie der Lärm einer Menschenmenge anzuhören. Eine jubelnde Menge, die schreit und johlt.
Wir biegen in einen weiteren Gang ab und das Geräusch wird immer deutlicher. Da ist ein riesiges Getöse, gefolgt von einem weiteren Grollen, wie bei einem Erdbeben. Der Korridor wackelt. Es fühlt sich an wie die Vibration von hunderttausend trampelnden Menschen.
Ich werde nach rechts geschoben, einen weiteren Gang hinunter. Ich verabscheue es, von diesen Sklaventreibern hin- und hergeschubst zu werden, besonders, wo sie mich ohnehin in den Tod bringen wollen, und ich würde nichts lieber machen, als mich umzudrehen und einen von ihnen anzugreifen. Aber ich bin unbewaffnet, und sie sind größer und stärker, da könnte ich nur verlieren. Außerdem muss ich meine Kräfte schonen.
Ein letztes Mal werde ich geschubst, dann wird der Gang breiter. In der Ferne scheint ein helles Licht, wie ein Flutlicht, und der Lärm der Menge wird unglaublich laut, wie etwas Lebendiges. Der Gang wird zu einem breiten und hohen Tunnel. Das Licht wird heller und heller, und einen Moment lang frage ich mich, ob ich ans Tageslicht komme.
Aber die Temperatur hat sich nicht verändert. Ich bin immer noch unter der Erde, es wirkt wie ein Eingangstunnel. In die Arena. Ich denke an das eine Mal, als Papa mich zu einem Baseballspiel mitgenommen hat, als wir zu unseren Sitzen wollten und ins Stadion hineingingen – als wir auch so einen Tunnel entlanggingen und sich das Stadion plötzlich vor uns eröffnete. Als ich dieses Mal diese Rampe hinuntergehe, fühlt es sich genauso an. Nur mit dem Unterschied, dass ich der Star der Show bin. Ich bleibe ehrfürchtig stehen.
Vor mir liegt ein gigantisches Stadion, voll mit tausenden und abertausenden von Menschen. In der Mitte steht ein Ring, in einer achteckigen Form. Er ähnelt einem Boxring, nur, dass er nicht von Seilen umschlossen wird, sondern von einem Metallkäfig. Der Käfig erhebt sich hoch in die Luft, etwa fünfzehn Fuß, er umschließt komplett den Ring, außer, dass das Dach offen ist. Er erinnert mich an einen Ring, den ich mal bei der Ultimate Fighting Championship gesehen habe, nur größer. Und dieser Ring, über und über voller Blutspuren, mit Eisenspitzen innen, die alle etwa zehn Fuß herausragen, ist ganz eindeutig nicht für Sport gedacht – sondern für den Tod.
Metall kracht. Zwei Leute kämpfen im Ring. Einer von ihnen wurde gerade gegen eine Käfigwand geworfen. Sein Körper schlägt gegen das Metall, knapp an einer Eisenspitze vorbei, und die Menge jubelt.
Er ist kleiner, schon vollkommen mit Blut bedeckt, sein Körper prallt von der Käfigwand zurück, er ist desorientiert. Der größere sieht aus wie ein Sumoringer. Er ist Asiate und muss mindestens fünfhundert Pfund wiegen. Nachdem er den kleinen, drahtigen Mann geworfen hat, setzt er erneut an, hebt ihn mit beiden Händen hoch, über seinen Kopf, als wäre er eine Puppe. Er geht langsam mit ihm im Kreis und die Menge jubelt wild.
Er wirft den Mann wieder komplett gegen den Ring, der Mann prallt wieder gegen die Wand, wieder knapp an einer Eisenspitze vorbei. Er landet auf dem harten Boden und bewegt sich nicht mehr.
Die ganze Menge grölt und trampelt, sie brüllt.
„MACH IHN FERTIG“, schreit jemand noch lauter als die anderen.
„TÖTE IHN!“, brüllt ein anderer.
„ZERQUETSCH IHN“
Tausende von Leuten schreiben, trampeln mit ihren Stiefeln auf den Metallboden, und der Lärm wird ohrenbetäubend. Der Sumoringer streckt seine Arme hoch, nimmt das alles auf, geht langsam im Kreis herum und genießt den Moment. Das Jubeln wird noch lauter.
Der Sumoringer durchschreitet langsam den Ring, auf den bewusstlosen Mann zu, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegt. Dann lässt er sich plötzlich mit seinem ganzen Gewicht auf ein Knie fallen – direkt auf den Rücken des kleinen Mannes. Es gibt ein entsetzliches, knackendes Geräusch, als seine 500 Pfund auf das Rückgrat des kleinen Mannes auftreffen und es zermalmen. Die Menge stöhnt, als klar ist, dass er dem kleinen Mann die Wirbelsäule gebrochen hat.
Ich wende mich ab, ich will nicht hinsehen, der kleine und hilflose Mann tut mir entsetzlich leid. Ich frage mich, warum sie nicht aufhören. Ganz offensichtlich hat der Wrestler gewonnen.
Aber sie haben anscheinend nicht vor, aufzuhören – der Sumoringer ist noch nicht fertig. Er greift den schlaffen Körper des Mannes mit beiden Händen, hebt ihn wieder hoch, und wirft ihn, mit dem Gesicht voran, wieder durch den Ring. Der Mann knallt wieder in den Metallkäfig und landet wieder hilflos auf dem Boden. Die Menge grölt. Sein Körper landet in einer unnatürlichen Position und ich kann nicht sagen, ob er tot oder lebendig ist.
Der Wrestler ist immer noch nicht zufrieden. Er hebt seinen Arm, geht wieder langsam im Kreis, während die Menge ihm zujubelt.
„SU-MO! SU-MO! SU-MO!“
Das Grölen erreicht eine ohrenbetäubende Lautstärke, dann durchquert der Sumoringer ein letztes Mal den Ring, hebt einen Fuß und stellt ihn auf die Kehle des hilflosen Mannes. Dann steht er mit beiden Füßen auf der Kehle des Mannes und zerquetscht sie. Die Augen des Mannes öffnen sich weit, er hebt beide Hände, versucht, die Füße von seinem Hals wegzuschieben. Aber es ist sinnlos, und schon nach wenigen Sekunden des Kampfes ist es vorbei. Seine Hände fallen schlaff neben seinen Körper. Er ist tot.
Die Menge trampelt und grölt noch lauter.
Der Sumoringer hebt die Leiche auf, hebt sie hoch über seinen Kopf und wirbelt sie durch den Ring. Dieses Mal zielt er auf eine der Eisenspitzen und spießt die Leiche daran auf. Der tote Körper bleibt an der Seite des Käfigs hängen, eine Eisenspitze ragt durch seinen Bauch hervor, Blut tropft herunter.
Die Menge grölt noch lauter.
Ich werde von hinten geschoben, und ich stolpere in das helle Licht hinein, die Rampe hinunter, in das offene Stadion. Als ich es betrete, wird mir endlich klar, wo ich bin: Das war einmal der Madison Square Garden. Nur, dass das Stadion jetzt verfallen ist, das Dach eingedrückt, Sonnenlicht und Wasser dringen ein, die Tribünen sind verrostet.
Offensichtlich hat die Menge mich schon entdeckt, denn sie wenden sich mir zu und jubeln vor Vorfreude. Ich sehe mir ihre brüllenden und jubelnden Gesichter genau an und sehe, dass sie alle Bioopfer sind. Ihre Gesichter sind deformiert, weggeschmolzen. Die meisten sind dünn wie Skelette, ausgemergelt. Das sind die sadistischsten Typen, die ich je gesehen habe, und es sind unendlich viele.
Ich werde die Rampe heruntergeführt, auf den Ring zu, und als ich ihn erreiche, kann ich fühlen, dass ich aus tausenden von Augenpaaren angestarrt werde. Es gibt Häme und Buh-Rufe. Offenbar mögen sie keine neuen. Oder vielleicht mögen sie mich einfach nicht.
Ich werde zur Seite des Rings geschoben und auf eine kleine Metallleiter geschubst. Ich sehe zu dem Sumoringer hinauf, der von innerhalb des Rings auf mich herabschaut. Ich schaue zu dem toten Körper hinüber, der immer noch im Käfig aufgespießt ist. Ich zögere: Ich will diesen Ring nicht betreten.
Aber ich werde mit einem Gewehrlauf in meinen Rücken geschubst und habe keine andere Wahl, als die erste Stufe der Leiter zu nehmen. Dann noch eine, und noch eine. Die Menge jubelt, meine Knie werden weich.
Ein Sklaventreiber öffnet die Käfigtür, und ich trete hinein. Er knallt sie hinter mir zu und ich kann nicht anders, als zu zusammenzuzucken. Die Menge jubelt wieder.
Ich drehe mich um und überblicke das Stadion, suche nach einem Zeichen von Bree, von Ben, von seinem Bruder – irgendeinem freundlichen Gesicht. Aber da ist keins. Ich zwinge mich, mich auf den Ring zu konzentrieren, meinen Gegner. Der Sumoringer steht doch und sieht auf mich herab. Er lächelt und bricht bei meinem Anblick in Lachen aus. Ich bin mir sicher, dass er denkt, es wird leicht, mich zu töten. Das kann ich ihm nicht verübeln.
Der Sumoringer wendet mir seinen Rücken zu und hebt seine Arme hoch, dreht sich der Menge zu, ist begierig nach ihrer Bewunderung. Um mich macht er sich ganz offensichtlich keine Gedanken, er denkt, der Kampf wäre schon vorüber. Er feiert schon seinen anstehenden Sieg.
Da habe ich Papas Stimme plötzlich wieder im Kopf:
Sei immer diejenige, die den Kampf beginnt. Zögere nie. Die Überraschung ist Deine beste Waffe. Ein Kampf beginnt dann, wenn DU ihn anfängst. Wenn Du wartest, dass Dein Gegner anfängt, hast Du schon verloren. Die ersten drei Sekunden eines Kampfes entscheiden schon über seinen Ausgang. Los. LOS!
Papas Stimme brüllt in seinem Kopf, und ich lasse sie brüllen. Ich denke nicht darüber nach, wie verrückt das ist, wie viel schlechtere Chancen ich habe. Alles, was ich weiß, ist: Wenn ich nichts tue, werde ich sterben.
Ich lasse mich von Papas Stimme tragen, und es ist, als würde mein Körper von jemand anderem gesteuert. Ich setze an, konzentriere mich auf den Sumoringer. Er steht immer noch mit dem Rücken zu mir, noch immer streckt er seine Arme aus, er genießt das Spektakel. Und jetzt, zumindest in diesem Moment, hat er keine Deckung.
Ich renne durch den Ring, jede Sekunde fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Ich konzentriere mich auf die Tatsache, dass ich immer noch diese Springerstiefel trage, mit den Stahlkappen an den Zehen. Ich mache drei riesige Schritte, und bevor der Sumoringer reagieren kann, springe ich in die Luft. Ich fliege durch die Luft, lasse mich von meinem Schwung tragen, und ziele sorgfältig, direkt auf die Rückseite seines linken Knies.
Je größer sie sind, desto härter fallen sie, höre ich Papa sagen.
Ich bete, dass er Recht hat.
Ich habe nur einen Versuch.
Ich trete ihm mit aller Kraft in die Kniekehle. Ich spüre, wie die Stahlkappe auf meinem Zeh in sein weiches Fleisch eindringt, und ich bete, dass es funktioniert.
Zu meinem Erstaunen gibt sein Knie tatsächlich unter ihm nach, und er landet auf einem Knie auf dem Boden des Rings, sein Gewicht erschüttert ihn.
Die Menge grölt vor Begeisterung und Überraschung, das hat sie offenbar nicht erwartet.
Der größte Fehler, den Du in einem Kampf machen kannst, ist es, jemanden zu treffen und dann wegzugehen. Du gewinnst einen Kampf nicht mit einem einzigen Schlag oder einem einzigen Tritt. Du gewinnst ihn mit Kombinationen. Wenn Du ihn getreten hast, tritt ihn wieder. Und wieder. Und wieder. Mach so lange weiter, bis er nicht mehr aufstehen kann.
Der Sumoringer wendet sich mir zu, sein Gesicht zeigt Schock. Ich warte nicht.
Ich schwinge herum und trete ihm, perfekt gezielt, in den Nacken. Er fällt, mit dem Gesicht zuerst, hart auf den Boden und erschüttert ihn mit seinem Gewicht. Die Menge grölt.
Wieder warte ich nicht. Ich springe hoch für einen Dropkick und grabe den Absatz meines Stiefels in sein Steißbein. Dann, ohne Pause, hole ich wieder Schwung und trete ihm mit der Stahlkappe auf seine Schläfe. Die schwache Stelle. Ich trete wieder und wieder und wieder. Bald ist er ganz mit Blut bedeckt und versucht, seinen Kopf mit den Händen zu schützen.
Die Menge wird verrückt. Sie springen wieder auf ihre Füße und brüllen.
„TÖTE IHN!“, brüllen sie. „MACH IHN FERTIG!“
Aber ich zögere. Wie er da liegt, schlapp, führt dazu, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Ich weiß, das sollte ich nicht – er ist ein gnadenloser Killer – aber dennoch kann ich mich nicht überwinden, den letzten Schritt zu gehen.
Und das ist mein großer Fehler.
Der Sumoringer nutzt mein Zögern aus. Bevor ich reagieren kann, greift er nach meinem Knöchel. Seine Hand ist riesig, unvorstellbar groß, er wickelt sie um mein Bein, als wäre er ein Zweig. Mit einer einfachen Bewegung zieht er an meinem Bein, dreht mich und schleudert mich durch den Ring.
Ich schlage gegen den Metallkäfig, nur einen Zoll an einer der scharfen Eisenspitzen vorbei, und gehe zu Boden.
Die Menge jubelt. Ich sehe auf, wie betäubt, mir ist schwindlig. Der Sumoringer steht schon auf und setzt an. Blut tropft von seinem Gesicht herunter. Ich kann nicht glauben, dass ich das geschafft habe. Ich kann nicht glauben, dass er auch nur verwundbar ist. Und jetzt muss er wirklich wütend sein.
Ich bin schockiert, wie schnell er ist. In einem Augenblick ist er fast über mir, spring in die Luft, will auf mir landen. Wenn ich nicht schnell aus dem Weg komme, werde ich zerquetscht.
In letzter Sekunde rolle ich mich zur Seite und entkomme ihm gerade noch, er schlägt neben mir auf und erschüttert den Boden so heftig, dass er sich bewegt und ich wieder vom Boden abpralle.
Ich rolle mich weg, immer weiter, bis ich auf der anderen Seite des Rings bin. Schnell stehe ich auf, auch der Sumoringer steht auf. Wir stehen an den einander entgegengesetzten Seiten des Rings, sehen einander an und atmen beide schwer. Die Menge wird verrückt. Ich kann nicht glauben, dass ich es geschafft habe, so lange am Leben zu bleiben.
Aber jetzt setzt er an, und mir wird klar, dass ich keine Optionen mehr habe. In diesem Ring kann man nicht gerade an viele Orte ausweichen, vor allem nicht vor einem Mann dieser Größe. Eine falsche Bewegung, und es ist vorbei mit mir. Ich hatte Glück, dass ich ihn überraschen konnte. Aber jetzt muss ich kämpfen.
Plötzlich fällt etwas aus der Luft. Etwas wurde durch das offene Dach in den Käfig fallen gelassen. Knallend landet es auf dem Boden zwischen uns. Es ist eine Waffe. Eine riesige Kampfangst. Das habe ich nicht erwartet. Ich nehme an, das ist ihre Methode, die Spiele spannend zu halten, die Unterhaltung zu auszudehnen. Die Axt landet in der Mitte zwischen uns, jeweils etwa zehn Fuß von uns entfernt.
Ich zögere nicht. Ich renne darauf zu und bin erleichtert zu sehen, dass ich schneller bin als er. Ich bin zuerst dort.
Aber dennoch ist er schneller, als ich vermutet habe, und in dem Moment, als ich die Axt aufhebe, fühle ich, wie er mit seinen riesigen Händen meinen Rippenkäfig umschließt, als würde mich ein riesiger Bär von hinten umarmen. Er hebt mich hoch, mühelos, als wäre ich ein Insekt. Die Menge grölt.
Er drückt fester und fester zu, und ich fühle, wie die Luft aus mir herausgepresst wird, fühle mich, als würde jede einzelne meiner Rippen brechen. Ich schaffe es, die Axt festzuhalten – aber das hilft wenig. Ich kann nicht einmal meine Schultern bewegen.
Er wirbelt mich herum, er spielt mit mir. Die Menge brüllt vor Spaß. Wenn ich nur meine Arme frei bekäme, könnte ich die Axt benutzen.
Aber es geht nicht. Ich spüre, wie alle Luft meinen Körper verlässt. In ein oder zwei Augenblicken werde ich erstickt sein.
Mein Glück hat mich schlussendlich verlassen.