Z W E I U N D Z W A N Z I G
Ich werfe das Messer meines Vaters mit all meiner Kraft, und in diesem Moment hält die Menge still ihren Atem an. Die Klinge funkelt im Licht, als sie in rasender Geschwindigkeit durch die Luft fliegt. Das ist der stärkste und genaueste Wurf, den ich jemals geschafft habe. Ich weiß schon, dass er sein Ziel treffen wird. Und dass es den sicheren Tod bedeuten wird.
In wenigen Momenten werde ich frei sein.
Schon eine Sekunde später, als die Metallklinge die Luft durchschneidet, bin ich endgültig sicher, dass es ein perfekter Treffer ist.
Die ganze Menge atmet hörbar ein, entsetzt.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich den Ratschlag meines Vaters missachtet. Ich habe Ben nicht getötet.
Ich habe ihren Anführer getötet.
Das Messer trifft mitten auf die Stirn des Anführers. Ich habe den perfekten Wurf geschafft, gerade hoch genug über dem Zaun, millimetergenau, und dennoch im perfekten Winkel, um ihn in dreißig Meter Entfernung zu treffen. Das Messer trifft ihn so hart, dass es ihn am Stuhl festnagelt. Er sitzt da, die Augen weit offen, erstarrt noch vor Entsetzen und schon tot.
In der Arena herrscht blankes Schweigen. Mehrere Sekunden lang ist die Menge zu schockiert, um auch nur reagieren zu können. Ich könnte eine Stecknadel fallen hören.
Und dann: Pandämonium. Tausende von Leuten springen aus ihren Sitzen hoch und laufen in alle Richtungen. Einige rennen verängstigt um ihr Leben. Andere sehen ihre Chance auf Freiheit und rennen zu den Ausgängen. Einige kämpfen gegeneinander, andere beginnen, gegen die Sklaventreiber zu kämpfen. Es ist, als würde eine gewaltige Energie freigesetzt, die zu lang unter Verschluss gehalten worden ist.
Die Sklaventreiber eilen in alle Richtungen und versuchen, die Ordnung aufrecht zu erhalten.
Ich schaue zur Käfigtür, frage mich, ob wir entkommen können, aber da sind schon Wachen, die versuchen, das Schloss zu öffnen, um uns holen zu kommen.
Ich renne zu Ben, der immer noch da steht, schockiert, und fasse ihn am Arm.
„KOMM MIT!“, brülle ich.
Ich nehme seine Hand, renne quer durch den Ring, springe auf die Käfigwand auf und klettere die Wand hoch. Ich klettere direkt nach oben und bin erleichtert darüber, Ben an meiner Seite zu sehen.
Gerade noch rechtzeitig. Die Sklaventreiber haben die Metalltür geöffnet und eilen direkt auf uns zu.
Aber wir sind schon oben auf dem Rand des Käfigs, fast fünf Meter hoch. Ich sehe über den Rand und zögere einen Moment: Das wird ein steiler Fall und eine harte Landung. Auch Ben zögert.
Aber wir haben keine andere Wahl. Jetzt oder nie.
Ich springe.
Ich lande hart auf meinen Füßen, fast fünf Meter tiefer, auf dem Beton. Meine Wade explodiert vor Schmerz, als ich auf dem Boden zusammensacke. Als ich mich zur Seite rolle, schmerzen meine gebrochenen Rippen ebenso sehr. Der Schmerz ist kaum noch auszuhalten, aber wenigstens habe ich nicht das Gefühl, mir noch etwas anderes gebrochen zu haben. Ich habe es geschafft.
Ich schaue hinüber, hoffe, Ben in dem Chaos neben mir zu sehen, die Menge kommt aus allen Richtungen auf mich zu. Aber meine Zuversicht schwindet, als ich sehe, dass er nicht da ist. Er ist immer noch hoch oben auf der Käfigwand, er zögert. Er hat Angst, zu springen.
Die Sklaventreiber klettern schon hoch, sind fast bei ihm. Er ist erstarrt vor Panik.
Ich kämpfe mich auf meine Füße und schreie zu ihm hoch.
„BEN!” brülle ich. „SPRING! TU ES!“
Ich höre die Panik in meiner Stimme. Es ist keine Zeit mehr. Wenn er jetzt nicht springt, muss ich ohne ihn gehen.
Aber plötzlich, Gott sei Dank, taucht Ben in die Menge ein. Auch er trifft hart auf dem Boden auf, er bricht zusammen. Und dann, nach einem Moment, steht er auf. Er wirkt benommen, aber soweit ich sehen kann, unverletzt. Ich greife seinen Arm und wir rennen.
Es ist ein solches Pandämonium, dass niemand wirklich Notiz von uns nimmt. Die Leute kämpfen gegeneinander, darum, herauszukommen. Ich schaffe es, uns durch die Menge zu schleusen, in ihrer Anonymität zu verstecken. Dennoch kann ich erkennen, dass die Gruppe von Sklaventreibern uns immer noch auf der Spur ist.
Ich steuere auf einen der Tunnel zu, wohin Hunderte fliehen, und wir schließen uns der panischen Flucht an, mischen uns unter diese Leute. Ich kann fühlen, wie die Sklaventreiber sich hinter uns einen Weg durch die Menschenmenge bahnen, uns folgen. Ich weiß nicht, wie weit wir es schaffen können. Die dichte Menge bewegt sich kaum weiter.
Ich betrete die Dunkelheit einer der Tunnel, und währenddessen presst sich eine Hand hart auf meinen Mund und jemand zieht mich zurück. Eine andere Hand packt Ben, hält ihm ebenfalls den Mund zu und zieht auch ihn zurück.
Wir sind gefangen worden, werden in die Schwärze zurückgezogen. Ich werde dicht an eine Wand gepresst, und der, der mich erwischt hat, hält mich in einem eisernen, tödlichen Griff. Ich kann keinen Widerstand leisten. Ich frage mich, ob ich jetzt wirklich sterben muss.
Die Gruppe der Sklaventreiber rennt an uns vorbei, durch den Tunnel, sie denken immer noch, sie würden uns folgen. Ich kann es kaum glauben: Die sind wir los.
Jetzt bin ich dankbar dafür, dass jemand uns zur Seite gezogen hat. Und als sich der Griff um meinen Mund lockert, frage ich mich, warum mir jemand gerade diesen Gefallen getan hat. Er löst seinen Griff komplett, und als ich mich über meine Schulter schaue, sehe ich einen großen Soldaten, in Schwarz gekleidet, der aber keine Gesichtsmaske trägt. Er sieht anders aus als die anderen. Er scheint etwa 22 zu sein, und sein Gesicht ist perfekt, er hat ein markantes Kinn und kurzes, braunes Haar. Er blickt mit grünen Augen auf uns herunter, die einen erstaunlichen Kontrast zu seinem Verhalten darstellen: Sie strahlen Sanftheit aus, was hier völlig fehl am Platz wirkt.
„Kommt mir mit“, sagt er eindringlich.
Er dreht sich um und verschwindet in einer Seitentür, die in einer Wand versteckt ist. Ben und ich tauschen einen Blick aus, dann folgen wir ihm sofort, bücken uns unter der Tür und betreten die Kammer auf der Seite.
Dieser Mann hat uns gerade das Leben gerettet. Und ich habe keine Ahnung, wer er ist.
*
Der Soldat schließt die Tür hinter uns und dreht den Schlüssel im Schloss um. Es ist ein kleiner Raum, wie eine Zelle, mit einem winzigen Fenster am oberen Rand. Es kommt kein Sonnenlicht durch, also nehme ich an, dass noch Nacht ist. Das Zimmer wird nur durch eine kleine rote Notlampe beleuchtet. Er wendet sich uns zu und wir stehen alle da und sehen uns an.
„Warum hast Du uns gerettet?“, frage ich.
„Ihr seit noch nicht gerettet“, antwortet er kalt. „Da draußen sind noch Tausende von diesen Monstern, die nach Euch suchen. Ihr werdet das hier aussitzen müssen, warten, bis zum Tageslicht. Dann können wir versuchen, herauszukommen. Unsere Chancen sind gering. Aber wir haben keine andere Wahl.“
„Aber warum?“, dringe ich in ihn. „Warum tust Du das?“
Er geht noch einmal hinüber, prüft das Türschloss. Dann murmelt er uns zu: „Weil ich hier auch raus will.“
Ich stehe still, zwischen Ben und dem Soldaten. Ich höre das Trampeln der Füße jenseits der Tür, wie sie durch den Gang rennen. Das Schreien und Grölen nimmt kein Ende, es klingt, als würde der wütende Mob abwechselnd nach uns suchen und gegeneinander kämpfen. Ich habe die Büchse der Pandora geöffnet: Da draußen herrscht das totale Chaos. Ich bete, dass niemand anderes auf die Idee kommt, sich die Aussparung in der Mauer anzusehen – oder, falls doch, dass die Tür hält.
Meine Angst wird real, als ich höre, wie jemand an dem Türgriff rüttelt. Der Soldat legt sein Gewehr an, zielt auf die Tür und lehnt sich zurück. Er hält es stabil, ziel immer auf die Tür.
Ich zittere, Schweiß rinnt meinen Rücken herunter, obwohl es kalt ist hierdrin. Wer auch immer da draußen ist, fummelt weiter an dem Türgriff herum. Wenn sie sich öffnet, ist es aus mit uns. Vielleicht können wir den ersten töten, aber der Schuss würde die anderen auf uns aufmerksam machen, und der ganze Mob würde kommen. Ich halte meinen Atem an, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, und endlich hört es auf. Ich höre, wie er sich umdreht und wegrennt.
Ich atme erleichtert aus. Wahrscheinlich war es nur jemand, der Zuflucht gesucht hat.
Langsam entspannt sich auch der Soldat wieder. Er senkt sein Gewehr.
„Wer bist Du“, frage ich, leise, aus Angst, dass jemand uns hören könnte.
„Ich heiße Logan“, sagt er, die Hand gibt er mir nicht.
„Ich bin Brooke und das hier ist –“, beginne ich, aber er fällt mir ins Wort.
„Ich weiß“, sagt er kurz angebunden. „Alle Kandidaten werden angekündigt.“
Natürlich.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, dringe ich weiter in ihn. „Ich habe Dich nicht nach Deinem Namen gefragt. Ich habe gefragt, wer Du bist.“
Kalt sieht er mich an, abweisend.
„Ich bin einer von ihnen“, sagt er zögernd. „Oder zumindest war ich das.“
„Ein Sklaventreiber?“, fragt Ben, überrascht und empört.
Logan schüttelt den Kopf.
„Nein. Ein Aufseher bei den Spielen. Ich habe in der Arena Wache gestanden. Bei den Missionen der Sklaventreiber war ich nie dabei.“
„Aber damit stehst Du immer noch auf ihrer Seite“, schnappe ich und kann die Verurteilung in meiner Stimme hören. Ich weiß, dass ich nicht so mit ihm sprechen sollte – immerhin hat er gerade unser Leben gerettet. Aber dennoch muss ich an die Leute denken, die Bree entführt haben, und es fällt mir schwer, Sympathie zu empfinden.
Er zuckt mit den Schultern. „Wie ich schon sagte, nicht mehr.“
Ich sehe ihn an.
„Du verstehst das nicht“, sagt er, erklärend. „Man hat hier keine Optionen. Entweder macht man mit, oder man stirbt. So einfach ist das. Ich hatte keine Wahl.“
„Ich hätte mich entschieden zu sterben“, sage ich, abweisend.
Er sieht mich an und sogar in dem halbdunklen Licht kann ich die Intensität in seinen grünen Augen erkennen. Wider Willen muss ich bemerken, wie schön sie sind. Er hat etwas Adliges an sich, etwas Ritterliches, das ich so noch nie gesehen habe.
„Hättest Du?“, fragt er. Er schaut zu mir herüber. „Vielleicht“, sagt er schließlich. „Vielleicht bist Du ein besserer Mensch als ich. Aber was ich getan habe, habe ich getan, um zu überleben.“
Er fängt an, im Raum hin- und herzugehen.
„Aber wie ich schon sagte, nichts davon spielt jetzt noch eine Rolle“, fährt er fort. „Die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Ich will hier aus.“
Ich merke, wie voreingenommen ich bin, und habe ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hat er Recht. Vielleicht, wenn ich noch hier gelebt hätte, in der Stadt, hätte ich auch mitgemacht. Ich weiß nicht, unter welchem Druck er stand.
„Und nun?“, frage ich. „Jetzt verlässt Du sie? Du wirst abtrünnig?“
„Ich fliehe“, sagt er. „Ich habe genug. Dich kämpfen zu sehen – das hat etwas mit mir gemacht. Du hattest einen solchen Kampfgeist. Ich wusste, dass das mein Moment war, dass ich gehen musste, auch, wenn ich beim Versuch sterben sollte.“
Ich höre die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme und weiß, dass er die Wahrheit spricht. Ich bin überrascht zu hören, dass ich ihn inspiriert habe. Ich habe nicht versucht, irgendjemanden zu inspirieren – nur, am Leben zu bleiben. Und ich bin dankbar für seine Hilfe.
Aber nach der Anzahl an Füßen zu urteilen, die ich draußen vor der Tür höre, ist die Sache sowieso verloren. Ich sehe nicht, wie wir jemals hier herauskommen könnten.
„Ich weiß, wo es ein Boot gibt“, spricht er weiter, als könnte er meine Gedanken lesen. „Es liegt an der West Side, an der 42nd. Es ist ein kleines Motorboot. Es wird verwendet, um auf dem Hudson Streife zu fahren. Aber die erste Patrouille fährt erst nach Sonnenaufgang. Wenn ich es schaffe, in der Dämmerung dort zu sein, kann ich es stehlen. Und damit flussaufwärts fahren.“
„Wohin?“ frage ich.
Mit leeren Augen sieht er mich an.
„Wo willst Du hin?“ dringe ich in ihn.
Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Es ist mir egal. Irgendwo anders hin. Soweit weg, die der Fluss mich bringt, nehme ich an.“
„Denkst Du, Du kannst in den Bergen überleben?“, fragt Ben plötzlich. Ich kann etwas Scharfes in seiner Stimme hören, etwas Unbekanntes, etwas, das ich noch nicht kenne. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es hört sich wie Besitzdenken an. Wie Eifersucht.
Plötzlich erröte ich, als mir klar wird: Ben hat Gefühle für mich. Er ist eifersüchtig auf Logan.
Logan dreht sich um und sieht Ben kalt an. „Du hast es geschafft“, sagt er. „Warum sollte ich das dann nicht auch schaffen?“
„Überleben würde ich das kaum nennen“, sagt Ben. „Es war eher ein langsamer Tod.“
„Besser als hier“, sagt Logan. „Außerdem bin ich kein Defätist. Ich werde einen Weg finden, um zu überleben. Ich habe Waffen und Munition, und Essen für ein paar Tage. Das ist alles, was ich brauche. Ich werde alles tun, was ich tun muss.“
„Ich bin auch kein Defätist“, gibt Ben verärgert zurück.
Logan zuckt nur mit den Schultern.
„Das Boot ist für zwei gedacht“, sagt er und schaut weg von Ben, zu mir. Sein Blick ist eindeutig: Er will nur, dass ich mitkomme. Ich frage mich, ob er mich mag, oder ob das nur dieselbe alte Männersache ist, die Konkurrenz und Eifersucht um ihrer selbst willen. Logan muss aber die Bestimmtheit in meinem Blick erkennen, denn er fügt hinzu: „Aber ich denke, es wird drei aushalten.“
Wieder geht er hin und her.
„Ich werde Euch helfen, hier herauszukommen. Ihr werdet mir bei Sonnenaufgang folgen. Wir fahren mit dem Boot auf dem Hudson hinauf. Ich lasse Euch dort raus, wo Euer Zuhause ist, wo auch immer das ist, und dann fahre ich weiter.“
„Ohne Bree gehe ich nirgendwo hin“, sage ich entschlossen.
Logan dreht sich zu mir um.
„Wer ist Bree?“, fragt er.
„Meine Schwester.“
„Und ich gehe nicht ohne meinen Bruder“, fügt Ben hinzu.
„Wir sind aus einem Grund hierhergekommen“, erkläre ich. „Um unsere Geschwister zu retten. Um sie zurückzubringen. Ich gehe nicht ohne sie.“
Logan schüttelt den Kopf, als wäre er verärgert.
„Ihr wisst nicht, was Ihr da redet“, sagt er. „Ich verschaffe Euch einen Weg nach draußen. Ein Freiticket. Kapiert Ihr nicht, dass es keinen anderen Weg hier raus gibt? Sie haben Euch, bevor Ihr auch nur zehn Meter weit gekommen seid. Und selbst, wenn Du Deine Schwester findest – was dann?“
Ich stehe da und verschränke meine Arme, ich bin wütend. Auf keinen Fall werde ich mir das ausreden lassen.
„Außerdem, ich hasse es, das sagen zu müssen, aber …“ Er bricht ab, versucht, sich zusammen.
„Aber was?“, dringe ich in ihn.
Er zögert, als würde er mit sich kämpfen, etwas zu sagen. Er atmet tief ein.
„Es gibt keine Möglichkeit, wie Du sie jemals finden könntest.“
Bei seinen Worten schwindet meine Zuversicht. Ich starre ihn an, frage mich, was er nicht aussprechen will.
„Was verschweigst Du uns?“, frage ich.
Er blickt mich an, dann Ben, dann den Boden. Er weicht meinem Blick aus.
„Was weißt Du?“, dringe ich in ihn. Mein Herz klopft – ich habe Angst, dass er mir sagen wird, dass Bree tot ist.
Er zögert, klopft mit einem Fuß auf den Boden, blickt nach unten. Schließlich beginnt er zu sprechen.
„Sie wurden getrennt“, beginnt er. „Sie waren zu jung. Sie trennen immer die Älteren von den Jüngeren. Die Stärkeren von den Schwächeren. Die Jungs von den Mädchen. Die stärkeren, älteren werden für die Arena aufgehoben. Aber die jüngeren, schwächeren …“ Er bricht ab.
Mein Herz klopft, als ich mich frage, was er sagen wird.
„Nun?“, bohrt Ben nach.
„Die kleinen Jungs schicken sie in die Minen.“
„Die Minen?“, fragt Ben und tritt vor Zorn einen Schritt nach vorn.
„Die Kohlebergwerke. Auf der anderen Seite der Stadt. Unter Grand Central. Sie haben sie in einen Zug ans andere Ende der Stadt gesetzt. In die Gruben, tief unter der Erde. Sie brauchen die Kohle für Feuer. Da ist Dein Bruder. Dorthin ist der Zug gefahren. Es tut mir leid“, sagt er, und es klingt ehrlich.
Plötzlich geht Ben zur Tür, mir rotem Kopf.
„Wo willst Du hin?“, frage ich alarmiert.
„Meinen Bruder holen“, schnappt Ben zurück, er wird nicht einmal langsamer.
Logan springt auf und schneidet ihm den Weg ab. Jetzt sehe ich sie Seite an Seite, Logan einen halben Fuß größer und doppelt so breit, mit seinen riesigen, muskulösen Schultern. Neben ihm wirkt Ben winzig. Sie sind wirken so komplett verschieden, wie totale Gegensätze: Logan ist der typische Durchschnittsamerikaner, während Ben, dünn und unrasiert, mit seinem langen Haar und seinen gefühlvollen Augen wie der sensible Künstlertyp wirkt. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Aber beide haben einen starken Willen, einen Hang zum Trotz.
„Du gehst nirgendwohin“, sagt Logan mit seiner tiefen, Ehrfurcht gebietenden Stimme.
Ben sieht finster zu ihm hoch.
„Wenn Du durch diese Tür hinausgeht“, fährt Logan fort, „dann gibst Du uns Preis. Dann sind wir alle tot.
Bens Schultern entspannen sich und er gibt nach.
„Wenn Du Deinen Bruder suchen willst“, spricht Logan weiter“, bitte. Aber Du wirst bis zum Morgen warten müssen, bis wir alle zusammen versuchen, hier rauszukommen. Nur noch ein paar Stunden. Dann kannst Du in den Tod gehen, wenn Du das willst.“
Ben dreht sich langsam um und kehrt missgelaunt in unseren Teil des Raumes zurück.
„Was ist mit Bree?“, frage ich, meine Stimme ist eiskalt. Ich habe Angst, zu fragen. Aber ich muss es wissen. „Wo haben sie sie hingebracht?“,
Logan schüttelt den Kopf, weicht meinem Blick aus.
„WOHIN?“, frage ich wieder, trete einen Schritt nach vorn, meine Stimme wird lauter. Mein Herz klopft vor Panik.
Er räuspert sich.
„Die jungen Mädchen“, beginnt er, „die, die zu jung für die Arena sind … die verschiffen sie in die Sklaverei“, sagt er. Er sieht mich an. „Für Sex.“
Mein Herz zerreißt. Ich will zur Tür hinausrennen, schreien, überall nach ihr suchen. Aber ich weiß, dass das nichts nützen würde. Ich muss mehr wissen. Ich fühle, wie mein Gesicht rot wird, mein ganzer Körper wird heiß, wütend balle ich die Fäuste.
„Wo haben sie sie hingebracht?“, frage ich wieder, meine Stimme ist eiskalt.
„Sie verschiffen die Sexsklaven zur Governors Island. Sie laden sie auf Busse und schicken sie in die Innenstadt. Dann laden sie sie auf einen Bus. Der nächste Bus fährt bei Sonnenuntergang ab. Deine Schwester wird dabei sein.“
„Wo sind diese Busse?“, frage ich.
„Auf der anderen Straßenseite“, sagt er. „An der Ecke 34th und 8th. Sie fahren am alten Postamt ab.“
Ohne nachzudenken, gehe ich zur Tür, spüre dabei den schrecklichen Schmerz in meinem Bein, Wieder streckt Logan seinen Arm aus, dieses Mal hält er mich auf. Er ist kräftig und muskulös, wie eine Mauer.
„Auch Du wirst warten müssen“, sagt er. „Bis Tagesanbruch. Es würde auch nichts nutzen, jetzt nach ihr zu suchen. Sie ist noch nicht im Bus. Bis zur Verladung halten sie sie irgendwo in einer Zelle unter der Erde fest. Ich weiß nicht einmal, wo. Wirklich nicht, ich schwöre es. Beim Morgengrauen bringen sie sie hoch und verladen sie. Wenn Du finden willst, ist das Deine einzige Chance.“
Ich blicke in seine Augen, untersuche sie und sehe seine Aufrichtigkeit. Langsam gebe ich nach, atme tief ein, um mich zu kontrollieren.
„Aber Du musst wissen, dass es hoffnungslos ist“, sagt er. „Du wirst sie da nie rausbekommen. Sie an eine Gruppe Sklaven angekettet sein, die Gruppe ist wiederum an einen bewaffneten Bus angekettet. Der Bus wird von Dutzenden Soldaten und Fahrzeugen flankiert. Du wirst es nicht einmal schaffen, in die Nähe zu kommen. Du wirst Dich nur selbst töten. Ganz zu schweigen davon“, fügt er hinzu, „dass die meisten Busse es nicht durch das Ödland schaffen.“
„Das Ödland?“, dringe ich in ihn.
Er räuspert sich, widerwillig.
„Um den Seehafen zu erreichen, den Pier, von dem aus man Governors Island erreicht, müssen die Busse durch die Innenstadt, müssen den ummauerten Bereich verlassen. Die Mauer beginnt an der 23rd Street. Südlich davon ist Ödland. Dort leben die Psychos. Tausende von ihnen. Sie greifen jeden Bus an, der vorbeikommt. Die meisten Busse schaffen es erst gar nicht. Deswegen schicken sie so viele Busse auf einmal.“
Bei seinen Worten schwindet meine Zuversicht.
„Deswegen sage ich Euch: Kommt am Morgen mit mir. Dann seid Ihr wenigstens sicher. Eure Geschwister sind bereits verloren. Aber Ihr könnt wenigstens überleben.“
„Es ist mir egal, wie die Chancen sind“, gebe ich zurück, meine Stimme ist kühl und entschlossen. „Es ist mir egal, ob ich bei dem Versuch sterbe. Ich werde meine Schwester finden.“
„Und ich meinen Bruder“, fügt Ben hinzu. Ich bin auch von seiner Entschlossenheit überrascht.
Logan schüttelt den Kopf.
„Wie Ihr meint. Eure Entscheidung. Ich nehme im Morgengrauen das Boot und werde dann schon lange weg sein.“
„Tu, was Du tun musst“, sage ich voller Abscheu. „Wie Du es immer getan hast.“
Er sieht mich so an, dass ich sehen kann, dass ihn das wirklich getroffen hat. Abrupt dreht er sich weg, durchquert den Raum, lehnt sich an die Wand an und setzt sich, als würde er schmollen. Er prüft und reinigt seine Pistole, sieht mich nicht mehr an, als würde ich nicht existieren.
Wie er dort sitzt, erinnert mich daran, wie meine Wade schmerzt, wie erschöpft ich bin. Ich gehe zur anderen Wand, soweit weg von ihm, wie ich kann, und setze mich ebenfalls. Ben kommt herüber und setzt sich neben mich, seine Knie berühren fast meine. Es fühlt sich gut an, dass er da ist. Er versteht mich.
Ich kann kaum glauben, dass wir beide hier jetzt sitzen, am Leben. Das hätte ich nie gedacht. Ich war sicher gewesen, dass wir sterben fühlen, und das hier fühlt sich wie eine zweite Chance im Leben an.
Ich denke an meine Schwester und an Bens Bruder – und plötzlich wird mir klar, dass sich unsere Wege trennen werden, dass wir in verschiedene Teile der Stadt müssen. Der Gedanke verstört mich. Ich schaue herüber und betrachte ihn, wie er da mit gesenktem Kopf sitzt. Er ist einfach nicht zum Kämpfer geboren. Er wird alleine nicht überleben können. Und irgendwie fühle ich mich verantwortlich.
„Komm mit mir“, sage ich plötzlich. „So wird es sicherer sein. Wir gehen zusammen in die Innenstadt, finden meine Schwester, und dann nichts wie raus hier.“
Er schüttelt den Kopf.
„Ich kann meinen Bruder nicht im Stich lassen“, sagt er.
„Denk darüber nach“, sage ich. „Wie willst Du ihn jemals finden? Er ist irgendwo am anderen Ende der Stadt, hunderte Meter unter der Erde, in einem Bergwerk. Und selbst, wenn Du ihn findest, wie willst Du ihn da herausbekommen? Bei meiner Schwester wissen wir zumindest, wo sie ist. Zumindest haben wir eine Chance.“
„Wie willst Du hier rauskommen, wenn Du sie gefunden hast?“, fragt er.
Das ist eine gute Frage, und ich habe keine Antwort darauf.
Ich schüttele nur den Kopf. „Ich werde einen Weg finden“, sage ich.
„Ich auch“, antwortet er. Aber ich kann die Unsicherheit in dieser Stimme hören, als wüsste er schon, dass das nicht stimmt.
„Bitte, Ben“, flehe ich ihn an. „Komm mit mir. Wir holen Bree und kommen hier raus. Zusammen können wir überleben.“
„Ich kann dasselbe sagen“, sagt er. „Ich kann Dich bitten, mit mir zu kommen. Warum ist Deine Schwester wichtiger als mein Bruder?“
Das ist ein guter Punkt. Er liebt seinen Bruder genauso, wie ich meine Schwester liebe. Und ich verstehe. Es gibt nichts, was ich darauf sagen könnte. Die Realität ist, dass sich unsere Wege in der Morgendämmerung trennen werden. Und ich werde ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen.
„Okay“, sage ich. „Aber versprich mir etwas, ja?“
Er sieht mich an.
„Wenn Du fertig bist, kommt zum East River, schaff den Weg bis zum Pier am South Street Seaport. Sei zum Sonnenaufgang da. Ich werde dort sein. Ich werde einen Weg finden. Triff mich dort, und wir werden einen Weg finden, zusammen wegzukommen.“ Ich sehe ihn an. „Versprich es mir“, befehle ich ihm.
Er sieht mich genau an, und ich erkenne, wie er nachdenkt.
„Was macht Dich so sicher, dass Du es durch die Innenstadt schaffst, bis zum Seehafen?“, fragt er. „An all den Psychos vorbei?“
„Wenn nicht“, sage ich, „dann bin ich tot. Und ich habe nicht vor zu sterben. Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe. Nicht, so lange Bree noch lebt.“
Ich kann die Entschlossenheit in meiner eigenen Stimme hören und erkenne sie kaum wieder – es klingt, als würde ein Fremder durch mich sprechen.
„Das ist unser Treffpunkt“, ich bestehe darauf. „Sei dort. Versprich es mir.“
Schließlich nickt er.
„Okay“, sagt er. „Gut. Wenn ich noch am Leben bin, werde ich da sein. Bei Sonnenaufgang. Wenn nicht, dann bedeutet das, dass ich tot bin. Dann warte nicht auf mich. Versprichst Du mir das? Ich will nicht, dass Du dort auf mich wartest“, insistiert er. „Versprich es mir.“
Schließlich sage ich: „Ich verspreche es.“
Er streckt seine schwache Hand in meine Richtung aus. Langsam nehme ich sie in meine.
Wir sitzen dort, halten uns an den Händen, unsere Finger ineinander verschlungen, und mir wird klar, dass das erste Mal ist, dass ich seine Hand halte – wirklich halte. Die Haut fühlt sich so weich an, und es tut so gut sie zu halten. Wider Willen spüre ich wieder die kleinen Schmetterlinge.
Wir sitzen dort, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, nebeneinander in dem schwach erleuchteten Raum, und halten uns an den Händen, ich weiß nicht, wie lange. Wir schauen beide weg, keiner von uns sagt ein Wort, wir sind beide in unserer eigenen Welt verloren. Aber unsere Hände trennen sich nicht, und wie ich dort sitze und einschlafe, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, ob es das letzte Mal ist, dass ich ihn lebendig sehe.