22. Kapitel

 

Die Flinte links, die Büchse rechts. Ferdinand starrte auf die Waffen. Seine Augen fixierten die Gewehre, als könne er sie damit umtauschen. Doch sosehr er auch starrte und fixierte – die Flinte stand links, die Büchse rechts, und damit war klar: Elisabeth hatte die Gewehre genommen und wieder weggestellt. Falsch herum. Und wieder bekam er diese Angst, die sich direkt in seinen Nacken setzte. Verdammte Kreuzschmerzen, dachte er und beschloss, dass es nun genug sei. Er räusperte sich und machte sich auf den Weg nach oben. Es half nun nichts mehr, sein Schweigen hatte ihn ja nicht weitergebracht. Er würde seine Klappe aufmachen, er würde seine Frau fragen müssen, was sie getan hatte.

Als er die Badezimmertür öffnete, kam ihm eine Wolke tropisches Klima entgegen. Elisabeth bemerkte ihn gar nicht, sie konzentrierte sich auf ihre Wimpern im Spiegelbild, das Radio lief. Ein Nachrichtensprecher sagte: »Vorsicht auf der A1, eine Kühlschranktür auf der Fahrbahn.«

»Heute Morgen lagen Spanngurte auf der A 43, dann liefen Schweine herum und jetzt noch eine Kühlschranktür – wie zum Teufel kommt das ganze Zeug auf die Autobahn?« Ferdinand fiel kein anderer Einstieg ein.

Elisabeth fuhr herum, ein schwarzer Strich Wimperntusche lief über ihre Wange. »Hast du mich erschreckt.« Sie schauten sich an. Eine Sekunde, zwei. »Vielleicht ist ja ein Müllwagen mit einem Viehtransporter zusammengestoßen.« Elisabeth lächelte vorsichtig.

»Also, ich … ich wollte … Mein Gott, der rote Rock passt dir immer noch?«

»Nein. Wieder.«

»Wie, wieder?« Ferdinand verstand nicht.

»Ich habe abgenommen. Keinen Hunger. Weißt schon, wegen dieser Sache.«

Ferdinand nickte und schaute auf seine Hände. »Siehst gut aus.«

Elisabeth ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß, was du für mich getan hast.«

»Ich?«

»Du hast die Munition genommen. Damals, ich meine, an diesem Abend, als ich durchgedreht bin. Du hast die Polizei getäuscht. Du hast dafür gesorgt, dass ich harmloser aussah, als ich es war.«

»Und?« Ferdinand schaute seine Frau direkt an. »Bist du harmlos?«

»Jetzt ja. Jetzt endlich wieder, ja.« Sie ging noch einen Schritt auf ihren Mann zu.

Er wich zurück. »Du warst wieder bei den Waffen.«

Sie nickte.

»Und?« Er wollte streng klingen, klang aber ängstlich.

»Nichts und.« Elisabeth gab Ferdinand einen fröhlichen Kuss auf den Mund und stupste ihn in den Bauch. »Es ist alles in Ordnung. Ich habe sie nur geputzt.« Ferdinand glaubte ihr nicht. Doch sie roch so gut und sein Kreuz tat auch gar nicht weh, als er sie auf seinen Armen nach nebenan ins Schlafzimmer trug.

»Tim, Tim, Tiiiiiiim …« Tim Möckes Mutter Britta war langsam sauer. Wo hatte der Junge sich nur versteckt? Sie und ihr Mann waren nur kurz beim Schützenball gewesen, ein oder zwei Stunden, ein paar Tänze lang. Tim wollte diese Castingshow gucken und dann alleine ins Bett gehen. Doch dort lag er nicht. Der Fernseher war aus und nirgends war Licht.

»Tim Möcke – du bist kein Osterei. Also komm raus!« Tims Vater klang noch fröhlich, er hatte vier Bier getrunken. Normalerweise klingelten sie immer dreimal und begrüßten sich dann gegenseitig. Doch dieses Mal blieb alles still. Sie schalteten das Licht im Flur, in der Küche, im Wohnzimmer und in seinem Schlafzimmer an.

»Tim, komm raus!« Britta Möckes Stimme hallte die Kellertreppe herunter. Keine Antwort. Sie spürte ihren Puls am Hals. »Ich suche draußen!« Sie riss die Terrassentür auf und stolperte durch den Garten. Im Mondlicht erkannte sie die Umrisse des Spielhäuschens, in dem Tim nur noch selten spielte. Sie öffnete die Tür, sah den Holzfußboden, ein paar Poster an der Wand. Es raschelte. »Tim, verdammt. Wieso hast du dich hier …« Eine Katze strich um ihre Beine. Der Puls ihrer Halsschlagader klopfte einen Lambada-Rhythmus. Tim! Tim! Tim! Sie konnte nur noch den Namen denken. Sie rannte zurück ins Haus. O Gott, wo ist mein Junge? »Tim!«

Marie Latell zuckte. Sie hatte gerade geträumt, dass sie an einer Steilküste stand und einen Schritt zu weit gegangen war, da sendete ihr Unterbewusstsein einen elektrischen Schlag an ihr rechtes Bein, dessen Muskeln sich reflexartig zusammenzogen. Zack, war sie wach. Doris Day sang nicht mehr, und es wurde langsam etwas kühl auf dem Fußboden. Mir ist schlecht, dachte sie. Ich bin aus Blei, dachte sie. Die Schuld hat mich wieder in ihren Krallen, dachte sie und schleppte sich ins Badezimmer. Sie ließ heißes Wasser in die Wanne laufen und tauchte ein. Die Sachen sind sortiert, Viktoria wird alles erfahren, und ich muss nie wieder lügen. Ein großer Zeh ragte aus dem Schaum hervor, und es schien, als zeigte er auf die Ablage am Wannenende. Dort stand ihr pinkfarbener Rasierer. Rosa und blutrot – welche Farbe ergibt das, dachte Marie Latell, als sie nach ihm griff.

Tims Mutter hätte ihrem Mann am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt. Er saß im Wohnzimmer und grinste sie an, als sie atemlos aus dem Garten gerannt kam. »Tim ist weg«, keuchte sie. »Kapierst du das nicht?!« Sie zitterte vor Wut.

Ihr Mann sah sie unschuldig an. »Er ist doch hier.« Tims Vater saß auf dem Sofa und zeigte hinter die Lehne. Dort hockte sein Sohn auf dem Teppich und hatte Kopfhörer auf den Ohren. Er war im Sitzen eingeschlafen, der Volumenregler war fast bis zum Anschlag aufgedreht, und als seine Mutter ganz vorsichtig die Kopfhörer abnahm, hörte sie eine Männerstimme singen: »Guten Morgen, Berlin, du kannst so schön hässlich sein.«

Sie trug ihren großen Jungen nach oben, ihr Puls klopfte jetzt im gemütlichen Wiener-Walzer-Takt. Tims Vater stellte den CD-Player aus, den Fernseher an und hob eine kleine Plastikhülle vom Fußboden auf. Peter Fox stand darauf.

Auf den Dielen bildete sich eine hässliche Pfütze. Nicht rosa, nicht rot – sie war einfach nur nass. Marie Latell stand splitternackt in ihrem Wohnzimmer und zitterte. Sie griff mit feuchten Händen nach dem Handy und tippte Michaels Nummer ein. »Hey, Psychologe, kannst du mich therapieren kommen?« Marie wollte verrucht klingen, doch sie klang verzweifelt.

»Sofort?«

Sie nickte, ohne etwas zu sagen.

Michael verstand auch so. »Bin gleich da.«

»Bin nackt.«

»Na, umso besser.«

Beide legten auf. Marie sah das Briefsymbol auf dem Display und öffnete die letzte Kurzmitteilung: »B. nicht erhängt. Er war schon tot. Mehr bald, Viktoria.« Marie hinterließ ihre nassen Fußstapfen hüpfend wie ein Frosch auf dem Weg in die Küche. Dort lagen die Pflaster und Verbände in dem neuen Erste-Hilfe-Kasten, den sie immer noch nicht gegen den längst abgelaufenen in ihrem Auto ausgetauscht hatte. Sie ließ das Handtuch, das sie sich um ihr linkes Handgelenk geschlungen hatte, zu Boden gleiten. Dann wickelte sie einen Verband um den blutigen Schnitt.

Nicos Mutter legte ihre kühle Hand auf seine glühende Stirn.

Er öffnete die Augen und schaute sie an. Ängstlich wie ein kleiner Junge, aber nicht fiebrig, sondern klar. »Mama.«

Sie nickte nur, und in ihrem Blick lag so viel Liebe, wie sie nur Mütter in sich tragen können.

»Mama …«

Sie nahm seine Hand.

»Ich war es.«

Sie drückte seine Hand. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber schlaf jetzt, ich kümmere mich um alles.« Nicos Augen fielen zu. Seine Mutter blieb noch ein paar Minuten sitzen, ihre Tränen fielen auf seine Bettdecke. Dann ging sie zum Telefon im Flur. Sie wählte die Nummer der Kriminalpolizei.

Es dauerte nicht lange und Helmut Fischer, der Leiter der Soko Sarah, stand mit einem jungen Kollegen, den Nicos Mutter nicht kannte, vor ihrer Wohnungstür. Sie öffnete schweigend, nickte den Beamten nur zu und deutete ins Wohnzimmer. Sie zeigte aufs Sofa und ging in die Küche. Auf einem Tablett standen Kaffeetassen, Zuckerschälchen und Milch in einer kleinen Kanne. Sie stellte die Kaffeekanne dazu und trug alles zum Couchtisch.

Helmut Fischer räusperte sich. »Frau Füller, Sie haben gesagt, Nico hat …«

Nicos Mutter goss den Kaffee in die Tassen. »Nico schläft. Er hat Fieber, kein richtiges, aber die Stirn ist heiß. Es wäre nett, wenn er erst noch ein bisschen ausruhen könnte. Danach wird er Ihnen sicher erzählen, wie er Sarah … ich meine, wie Sarah ums Leben kam.« Sie setzte sich auf die vordere Kante des Sessels. »Bis dahin möchte ich Ihnen etwas gestehen.«

Fischer sah sie an. Er wartete einfach.

»Ich habe Ihnen damals nicht gesagt, dass mein Sohn ohne Jacke und Handschuhe nach Hause gekommen ist – in jener Nacht. Er war völlig durchgefroren; ich habe ihn in die heiße Badewanne gesetzt, ich dachte, er sei einfach unterkühlt. Die Jacke sei ihm geklaut worden, hatte er mir gesagt. Aber als am nächsten Tag die Polizei mit dieser schrecklichen Nachricht vor der Tür stand, war ich mir nicht mehr so sicher, ob Nico da die Wahrheit gesagt hatte.« Sie machte eine kleine Pause. Atmete tief ein und aus. »Doch dann hat die Zeitung ja von diesem seltsamen Brief geschrieben, in dem ein anderer die Tat gestanden hat. Die Reporter vom Express waren sich ganz sicher, dass der Brief nur vom Mörder sein konnte. Und ich weiß, dass Nico eine andere Schrift hat. Ehrlich gesagt, war ich glücklich, dass es diese Ratte gab. Mein Nico konnte es ja auch nicht gewesen sein, dachte ich.« Sie stand noch einmal auf und holte einen fehlenden Löffel. Die Polizisten schauten ihr nach.

»Doch irgendwas in mir hat wohl geahnt, dass es anders war. Ich habe seit Sarahs Tod keine Nacht mehr ohne Albtraum schlafen können. Und mein Sohn auch nicht. Ich höre ihn weinen, wenn ich wach liege, doch ich kann ihn nicht trösten. Seit einem halben Jahr kann ich ihn nicht trösten.« Sie atmete tief durch, unterdrückte ihre Tränen. »Er hat auch schon vorher manchmal geweint – als Sarah noch lebte. Ich mochte sie nicht. Sie war seltsam und machte ihn nicht glücklich. Wegen ihr hat er geweint, da bin ich sicher. Sie guckte ja auch immer nach anderen Jungs.«

Sie nahm einen Schluck Kaffee. Dann schaute sie die beiden Männer ihr gegenüber an. »Möchten Sie vielleicht ein paar Plätzchen dazu?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Ein paar Minuten lassen Sie ihn noch schlafen, oder?«

Die Beamten schauten sich an. Sie hatten so lange nach der Wahrheit gesucht, jetzt kam es auch nicht mehr darauf an. »Ich nehme ein paar Plätzchen«, sagte Helmut Fischer. Und dann warteten die drei darauf, dass der Junge aufwachte, der Sarah mit einem Stein erschlagen hatte, weil er so unendlich wütend und gekränkt und unglücklich darüber war, dass sie sich in einen anderen verliebt hatte. Sie warteten darauf, dass er ihnen erzählte, wie er Sarah in der Silvesternacht überreden wollte, bei ihm zu bleiben. Er hatte sie angefleht, gebettelt – und sie hatte ihn einfach angelacht. Ihm wie einem dummen Jungen über die Haare gestreichelt und gesagt: »Ach, Nico. Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist.«

»Aber du, du weißt es.« Er packte sie am Arm. Doch seine dicken Handschuhe rutschten an ihrer Winterjacke ab.

»Ja. Jetzt weiß ich es.«

»Ah, dein Neuer zeigt es dir jetzt. Die großen Gefühle und den ganzen Schwachsinn. Er findet wahrscheinlich auch deine Musik toll.«

Er spürte, dass er sie damit traf. Sie stapfte davon. Er stand am Ufer des Müggelsees und trat wütend gegen die Steine, die dort lagen. Und plötzlich stand sie wieder vor ihm. Aufreizend blickte sie ihn an, lächelte sogar. Er spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Sarah würde doch bei ihm bleiben. Sie würde den anderen vergessen. Würde zurückkommen. Sie kam näher. Schmiegte sich an ihn. Er schlang seine Arme um sie, atmete tief ein, roch ihr Parfum.

Sie schaute ihm direkt in seine Augen, küsste ihn und ging dann einen Schritt zurück. »Ach ja«, sagte sie und grinste. »Ich hatte fast schon vergessen, wie mies deine Küsse schmecken. Fuck you, Nico.« Dann hatte sie ihren Handschuh ausgezogen und ihm den Mittelfinger gezeigt. Sie drehte sich um und stolzierte davon.

Nico starrte auf die Steine, gegen die er vorhin noch getreten hatte, er nahm den mit den meisten Kanten in die Hand. Und er rannte los. Während er auf sie einschlug, brüllte er: »Halt die Klappe! Halt die Klappe!«

Doch Sarah wurde nicht ruhig. Sie hielt nicht die Klappe. Sie schrie, sie gab diese schrecklichen Laute von sich.

Er wollte das nicht hören, er schlug fester, er sah das Blut, er sah ihren zarten Nacken, die Haare, das Blut, das in ihren Haaren war, auf ihrem Nacken. Sie fiel. Sie schwieg.

»Hey, Majestät. Wie regiert es sich so?« Viktoria setzte sich neben Mario.

»Mann, Victory. Ich dachte schon, alle haben mich verlassen. Siehst ein bisschen blass aus. Geht’s dir nicht gut?«

»Doch, doch. Sehr gut.« Viktoria griff nach Marios Bier. Er schlug ihr freundschaftlich auf die Finger. »Nix da, das ist schon schal. Der König wird sich deiner annehmen und dir höchstpersönlich ein frisches besorgen.« Mario verschwand Richtung Tresen, Viktoria lehnte sich zurück. Sie fühlte sich wie nach einem Saunatag. Der ganze Dreck war ausgeschwitzt. Was blieb, war eine träge, aber reine Mattigkeit. Sie gähnte.

»Na, bist du jetzt die Ersatzkönigin?« Kai stand neben ihr. Sein Lächeln war immer noch bezaubernd.

»Wieso Ersatzkönigin? Wer ist denn die richtige?« Sie deutete auf den Stuhl neben sich.

Kai setzte sich. »Ich dachte, das hättest du eingefädelt, damit du auch was zu schreiben kriegst für deinen Artikel.«

»Nee, hab nix eingefädelt. Wir berichten doch nur über die Wahrheit.« Sie grinste schief. »Also wer ist die Queen?«

»Elisabeth!«

»Ich meinte nicht die englische.«

»Schon klar. Ich meinte Elisabeth Upphoff.«

Viktoria haute sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Das ist ’n Ding! Wo ist sie denn jetzt?«

»Da!« Kai zeigte zum Eingang des Zelts. Dort stand eine Frau mit rotem Rock und schwarzer Bluse, daneben ein stämmiger Mann in schwarzer Hose und rotem Kopf. Ehepaar Upphoff, Hand in Hand.

Viktoria blinzelte. »Kai, kneif mich mal!«

»Gerne.« Er zwickte ihr in die Wange. »Du hast keine Fata Morgana, ich sehe die beiden auch in trauter Zweisamkeit.«

»Tja, ein Happy End also. Schön.«

»Für deinen Text …«

»Nein, für Elisabeth.«

»Und für dich?«

»Mal sehen.« Viktoria lächelte. »Stehe ja nicht so auf Kitsch.«

»Auf was dann?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Kai wollte es trotzdem wissen: »Gab es bei euch früher auch Poesiealben?«

»Klar. Aber ich fand die Dinger immer schon doof.«

»Schade, da konnte man schnell sehr viel über andere Menschen erfahren.«

»Ach ja, was denn zum Beispiel?«

»Na, zum Beispiel sehr wichtige persönliche Vorlieben. Welche Farbe ist deine Lieblingsfarbe?«

»Schwarz!«

»Lieblingszahl?«

»Null!«

»Hobbys?«

»Leichenfledderei.« Das Spiel machte ihr langsam Spaß. Jetzt war sie an der Reihe: »Lieblingsessen?«

»Schnitzel mit Pommes.« Kai grinste.

»Deine Lieblingskrankheit, Herr Doktor?«

»Nymphomanie!«

»Lieblingsmedizin?«

»Du?«

Ups, hatte er das tatsächlich gesagt? Viktoria wollte schnell wieder zurück aufs unschuldige Poesiealbumsniveau. Eine harmlose Frage musste also her.

»Ähm. Was liest du gerade?«

»Gefährliche Geliebte

Sie zuckte zusammen. Wie lange hatte sie nicht mehr an Konstantin gedacht – und an ihr vorgetäuschtes Leseinteresse. Sie ließ sich nichts anmerken und fragte: »Und? Wie findest du es?«

»Super. Und du?«

»Ich finde es furchtbar.« Viktoria lachte. Es war ganz leicht gewesen, es zuzugeben.

»Jetzt wieder ich.« Kai dachte nach.

»Lieblingstier?«

»Ich liebe Mäuse«, sagte sie. »Fast schon immer.«

Mario kam zurück zum Tisch. Er stellte das Glas vor Viktoria ab und gab seines achselzuckend Kai. Dann machte er sich erneut zum Tresen auf, um für sich selbst zu sorgen.

Viktoria lehnte sich über den Tisch und nahm sich Marios Kamera. Sie öffnete das Fach, in dem der Speicherchip lag, zog ihn ganz vorsichtig heraus und bat Kai um sein Feuerzeug. »Kai, wusstest du, dass unsere Zeitung zu achtzig Prozent nur aus Fotos besteht? Ohne Bild, keine Story.«

Kai schaute neugierig. »Ist das so?«

»Ja.« Viktoria grinste. Mit spitzen Fingern hielt sie den Chip in die kleine Flamme. Das Plastik begann zu schmelzen, sie spürte die Hitze. Lächelnd ließ sie die Speicherkarte in ihr Bier fallen. »Gelöscht«, sagte sie, als die geschmolzenen vier Gigabyte auf den Grund des Glases sanken.

Kai starrte sie an. »Wie, ist das hier nicht alles Stoff genug für dich gewesen?«

»O doch. Mehr als genug.«

»Und?«

»Die ganze Geschichte ist …« Sie schaute Richtung Tombola-Stand, an dem sich Lokalreporter Gregor gerade Notizen machte. »… Privatsache.« Dann nahm sie Kais Bier und ließ es Schluck für Schluck ihre trockene Kehle hinunterlaufen. »Ah«, sagte sie und rülpste.

Kai erhob sich und hielt ihr den rechten Arm hin: »Tanzen?«

Sie nickte, ließ sich zur Tanzfläche führen und tanzte. Einfach so. Es war ihr egal, welche Schuhe sie trug, dass der Sound mies war und dass sie das, was sie da tat, ganz und gar nicht konnte. Sie trat auf Kais Füße, sie legte ihren Kopf an seine Schulter und summte dabei »Que sera sera, what ever will be will be«. Es klang krumm und schief – und absolut richtig.