6. Kapitel

 

»Einfach der Straße vor unserem Eingang nach rechts folgen, ungefähr fünfhundert Meter. Dann sehen Sie eine große Wiese, meistens sind da Pferde. Hinter der Wiese rechts auf den Feldweg, nach etwa zweihundert Metern wieder links und bei dem Jesus-Kreuz ist dann schon die Einfahrt«, beschrieb Harry ihr den Weg.

Sie war froh, dass er nicht fragte, warum sie zu Martha Lütkehaus wollte. Sie wusste es ja selbst nicht genau.

Okay, sie hatte einen Albtraum im Zug gehabt und abends ein Déjà-vu im Treppenhaus. Die Ähnlichkeit zwischen dem Erhängten aus ihrem Traum und dem Foto vom Schützenkönig 1976 war sicher nur Einbildung. Dass Bernhard Lütkehaus vor etwa dreißig Jahren unter rätselhaften Umständen verschwand – war reiner Zufall.

Doch eines ließ ihr keine Ruhe: Warum hatten die Kollegen von den Telgter Nachrichten von Auswandern nach Australien gesprochen, Alfred aber hatte gesagt, Bernhard sei mit einer schönen Frau durchgebrannt? Dass er sich bei der Meldebehörde abgemeldet hatte, passte auf beide Theorien. Beruhigend, dass sie mit ihrem Traum also komplett danebenlag. Nix mit Lynchmord durch Aufknüpfen oder einem Selbstmord durch Erhängen.

So wie es aussah, hatte der charmante, allseits beliebte Bernhard auch gar keinen Grund gehabt, sich umzubringen. Und wie es aussah, hatten hier in diesem Kaff entweder alle keine Ahnung oder sie wollten sie einfach nur mal ordentlich hochnehmen.

Sie wählte die Nummer von Charly Berendsen. Das dunkelgrüne Telefon in der Kneipe sah aus wie aus einem alten Sketch mit Harald Juhnke und Grit Böttcher. Ein Freizeichen, dann hörte sie seine knochentrockene Stimme.

»Berendsen, Berliner Express

»Ich bin’s.«

»Hey, Victory. Na, wie sind die Ferien auf dem Land?«

»Beschissene Kuhscheiße.«

»Ha, war ja klar.«

»Und?«

»Du willst wissen, ob ich was über diesen Schützenkönig herausgefunden hab?«

»Yes!«

»Was krieg ich denn dafür?«

»’nen Tritt in den Arsch?« Victoria liebte es, mit Charly zu telefonieren.

»Aber bitte nur mit den spitzen Stiefeln, Baby.«

»Nun sag schon, du Spinner.«

»Also …« Er ließ sie warten. Viktoria hörte, wie er inhalierte, und hatte das Gefühl, den Rauch seiner Zigarette durch den Hörer zu riechen.

»Also, ich habe ihn gefunden, deinen Herrn Lütkehaus.«

»Mach schon, du Folterknecht.«

»War gar nicht so leicht, ist ja ’ne olle Geschichte.«

»Ich weiß, deshalb habe ich dich ja auch gefragt.«

»Okay – und ich sage dir: Der Typ hat sich aufgelöst.«

»Hä?«

»Dein Bernhard Lütkehaus hat sich in seinem Wohnort abgemeldet.«

Weiß ich doch, dachte Viktoria, sagte es aber nicht.

»Und dann isser weg.« Charly genoss es, ihr die Neuigkeiten zu präsentieren.

»Er ist tot?«

»Keine Ahnung, Süße. Aber er hat sich am 14. Juli 1980 ordnungsgemäß in Westbevern abgemeldet.«

»Wo hat er danach gewohnt?«

»Nirgends.«

»Wie, nirgends?«

»Der ordentliche Herr hat sich zwar ab-, aber nirgends wieder angemeldet.«

»Aha.«

»Alles klar, Victory?«

»Klar.«

»Na, dann polier mal deine spitzen Stiefelchen.«

»Mach ich. Danke, Charly. Kannste dem Chef gegenüber nix davon erzählen?«

»Yes.«

Viktoria legte auf. Ratlos, sprachlos.

Vier Zahlen. So eine kurze Telefonnummer hatte Viktoria noch nie gewählt. Doch so stand es im Telefonbuch neben dem Grit-Böttcher-Telefon, das gerade mal so dick war wie die Speisekarte vom Schwarzen Raben. Upphoff, Ferdinand und Elisabeth, Weidenweg 12, dann die vier Nummern. Die Leitung war frei, es tutete und tutete, niemand nahm ab. Dann würde sie wohl später einen Überraschungsbesuch machen müssen. Meist war das sowieso die bessere Reportertaktik. Klingeln, mit Freundlichkeiten überrumpeln, weichklopfen. Viktoria wusste nicht mehr, wie oft sie auf diese Weise von Verwandten und Freunden ermordeter Berliner herzergreifende Geschichten geliefert bekommen hatte.

Sie und ihre Kollegen vom Express mussten nie den Fuß in die Tür stellen. Sie waren einfach lieb und mitfühlend und wenn sie das Wort »Polizeiredaktion« etwas vernuschelt aussprachen, dachten die trauernden Witwen, sie hätten es mit Kommissaren zu tun. Warum das Missverständnis aufklären, wenn es doch allen damit gut ging?

Die traurigen Opfer wurden ihre traurige Geschichte los, und die anderen schrieben sie einfach nur auf. That’s it, oder?

Viktoria wusste, dass es nicht so einfach war. Charly Berendsen hatte immer gesagt: »Moral ist doch scheiße, nimm das M weg, da steh ick drauf.«

Als das Freizeichen zum zwanzigsten Mal ertönte, legte sie auf.

Elisabeth Upphoff war ganz offensichtlich nicht zu Hause, also konnte sie sich reinen Gewissens der verbitterten Martha und ihrem verschwundenen Mann widmen. Die Emanze, die den Schützenverein niederschießen wollte, würde eben warten müssen.

Mario lag immer noch in seinem Bett, stank nach schalem Weizenbier und bekam nicht mit, dass Viktoria sich auf den Weg machte. Sie folgte Harrys Beschreibung: fünfhundert Meter Richtung Pferdewiese, zweihundert Meter Richtung Jesus-Kreuz und ein kleines Stückchen Richtung Wahrheit. Nach den ersten paar Schritten klingelte ihr Handy. Ihr Chef war dran und meckerte sofort los. »Mann, Viktoria, erreicht man Sie auch mal?! Sie können doch nicht Ihr Handy einfach …«

»Ich habe hier kaum Empfang, Chef. Es ist reiner Zufall, dass Sie mich jetzt überhaupt erreichen.«

»Na, egal. Wie sieht’s aus? Kriegen Sie alles hin? Die Geschichte ist in der nächsten Sonntagsausgabe!«

»Kein Problem.«

»Was?! Ich höre nichts …«

»Jetzt besser?«

»Nein!«

Sie schrie ins Telefon: »Ich sagte, kein Problem!«

»Okay.« Der Chef legte auf.

Nette Verabschiedung, dachte sie und sah dann das Briefsymbol auf dem Display. Ihre Mutter hatte ihr auf die Mailbox gesprochen. Ihr Ton war vorwurfsvoll, wie immer: »Viktoria, ich mache mir Sorgen. Habe so lange nichts von dir gehört.«

Sie rechnete nach. Es war weniger als achtundvierzig Stunden her, dass sie mit ihr Nichtigkeiten am Telefon ausgetauscht hatte. Obwohl sie genervt war, rief sie an.

»Mama?«

»Na endlich, Viktoria! Wo steckst du? Auf deinem Festnetz konnte ich dich mal wieder nicht erreichen.«

Sie merkte, dass die Funkwellen schon wieder schwächer wurden.

»Ich bin hier in irgendeinem Kaff und mache ’ne Schützenfestreportage.«

»Was machst du? Ich verstehe dich so schlecht.«

»Ich bin in einem Kaff, in Westbevern.«

»Wo?« Ihre Mutter wurde lauter.

»In Westbevern!« Sie sprach ganz langsam, laut und deutlich.

»Wo?«

Jetzt reichte es ihr. So konnte man nun wirklich nicht telefonieren. »Mama, ich ruf dich später wieder an. Ich hab hier total schlechten Empfang.«

»Tori, leg nicht auf!« Fast hysterisch klang das, doch Viktoria blieb hart. »Ich höre nichts mehr. Bis später.«

So ein Empfangsloch ist unberechenbar, dachte sie und steckte das Handy in ihre Tasche.

Ausschalten, wegdrücken. Das war die beste Methode, um mit ihrer Mutter klarzukommen. Jahrelanges Training hatten sie zu einer Virtuosin in Sachen »Ich hör einfach nicht hin« gemacht. Hätte sie immer hingehört, wäre sie wahnsinnig geworden – oder so wie sie. Viktoria wollte beides nicht.

Ihre Mutter war einmal eine Schönheit gewesen – und ist es eigentlich noch. Klein, zierlich, schlank. Als junge Frau hatte sie lange schwarze Haare, die in wunderbaren Wellen auf ihre zarten Schultern fielen. Viktoria hatte alte Fotos von ihr gesehen und fand, dass sie ein bisschen aussah wie Uschi Obermaier aus der legendären Kommune 1. Inzwischen durchzogen graue Strähnen Maries Lockenpracht, doch das machte sie nur noch interessanter. Sie hatte einen kleinen roten Mund, den sie nicht einmal zu schminken brauchte, so rot strahlte er. Wenn sie einen Schmollmund aufsetzte, und das tat sie sehr oft, sah sie aus wie eine trotzige Lolita. Eigentlich ein Witz: eine fünfzigjährige Lolita. Doch die Männer standen schon immer drauf. Auch heute noch.

Zurzeit küsste Joachim den schönen Schmollmund. Aber nicht mehr lange, das wusste Viktoria. Die ersten Anzeichen waren schon wieder erkennbar. Nicht für Joachim, aber für sie. Sie hatte es zu oft miterlebt.

Erst schien ihre Mutter den Männern unerreichbar. So perfekt war sie. Sie war schön und schien klug. Sie wetterte über den deutschen Afghanistaneinsatz, sprach über Steuersenkungen und Solidaritätspakte, als habe sie Politologie studiert. Sie mimte die Selbstständige, die Powerfrau, die Intelligente.

Sie, die großartige Marie Latell, hatte ihre Ziele steht’s nur durch Können, durch sich selbst erreicht, dachten die Männer. Dass das alles nur Fassade war, dass sie ihre Ziele immer nur durch die Hilfe von anderen – vor allem Männern – erreicht hatte, die sie vorher mit den viel zu knappen Röcken und zu großen Ausschnitten um den Finger gewickelt hatte, das sah keiner. Wie auch? Sie starrten alle auf ihre zarten Beine und ihre festen Brüste, während sie fasziniert ihren flachen Frauen-Power-Floskeln lauschten, die aus diesem unglaublichen Kirschmund irgendwie sexy klangen.

Wenn sie sie dann hatten, diese süße und kluge Frau, war es auch schnell wieder vorbei. Denn irgendwann merkte auch der Blödeste, dass ihre politischen Sprüche und ihr Emanzen-Getue nur Schall und Rauch waren. Sie war ein Frauchen. Ihr Äußeres war ihr am wichtigsten.

Sie brauchte Stunden im Bad, um am Ende so auszusehen, als sei sie eine dieser Naturschönheiten, die gar keine Kosmetik nötig haben. Sie gab Unmengen an Geld für den richtigen Rock, den richtigen Ausschnitt, die richtige Nagellackfarbe aus. Am Ende sah sie zwar nicht aus wie eine dieser Hochglanz-Tussis – dafür war sie zu geschickt –, aber wie ein bildhübsches Hippiemädchen. Doch ihre Sprüche über die Umverteilung des Kapitals und die Übermacht der Amerikaner wirkten schon nicht mehr so überzeugend, wenn die Männer gerade ihr halbes Monatsgehalt für eine Anti-Falten-Creme von Elizabeth Arden ausgegeben hatten, ohne die sie »unmöglich das Wochenende überstehen« konnte. Wo war da die intelligente, unabhängige Marie?

Wenn die Männer begannen, sie kritischer zu sehen, wurde sie unsicher und begann das zu tun, was jeden Mann vertreibt. Sie klammerte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hing an den Typen, als wären sie Gasballons, die in den unendlichen Himmel aufstiegen, wenn sie sie nur für einen Moment loslassen würde. Alles an ihr, ihr Mund, ihre Körperhaltung, ihr Augenaufschlag schrie in dieser Klammerphase geradezu: »Bitte hab mich lieb!« Ihrer Tochter war es peinlich – und den Männern wohl auch. Sie riefen seltener an, hatten häufiger schon was vor, hörten ihren Phrasen nicht mehr zu.

An diesem Punkt folgte die hysterische Phase. Viktorias Mutter machte ihnen Vorwürfe und wurde ungerecht. Die Männer waren zuerst verwirrt, dann ratlos und am Ende weg. Dann ging der Kreislauf wieder von vorn los: Denn ganz plötzlich – das Aftershave des verschwundenen Mannes hing noch in der Luft – wurde Power-Marie wiedergeboren. »Scheißmänner! Chauvinisten, Machos, Arschlöcher«, fluchte sie und sah dabei wieder wunderschön aus.

Viktoria kannte die Sprüche zur Genüge. Auch wenn sie sie nicht glauben wollte, so hatten sie sich doch in ihr Mädchenhirn gebrannt. Und als ob ihr Hirn es nicht ertragen hätte, eine Lüge eingebrannt bekommen zu haben, machte sie sie zur Wahrheit. Und suchte sie ganz gezielt aus: die Chauvinisten, Machos, Arschlöcher.

All die Scheißmänner, die so waren wie Konstantin.

Viktorias Schuhe klapperten auf dem asphaltierten Feldweg. Sie sah die Wiese mit den Pferden. Sie grasten, ihr schwarzes Fell glänzte in der Nachmittagssonne. Ab und zu zuckten die Muskeln unter der Haut. So vertrieben die Tiere die Schmeißfliegen, die ihr Blut trinken wollten.

Viktoria ließ ihre Hand auf den Unterarm knallen. »Mistviecher!«, fluchte sie, und die Fliege surrte davon. Viktoria bog rechts ab. Der Feldweg verlief direkt neben der Koppel, eine dicke Hummel brummte am Straßenrand, die sattgelben Blumen dort hatten sie angelockt. Hübsche Farbe, dachte sie. Ob das Hahnenfuß war?

Sie entdeckte die Abzweigung links und überquerte die Straße. An beiden Seiten des Weges warfen Bäume ihren Schatten auf den Asphalt. Kastanien.

Ihre Blätter raschelten, irgendwo bellte ein Hund.

Viktoria ging weiter, durch den kühlen Schattentunnel der mächtigen Bäume.

Sie musste ihre Designerbrille absetzen, um noch etwas zu erkennen. Da stand das Kreuz, das Harry beschrieben hatte. Es war aus dunkelbraunem Holz, darüber ein kleines Dach, darunter die Inschrift I.N.R.I. Die Jesusfigur war aus hellem Sandstein gemeißelt. Jesus war groß, mindestens so groß wie sie selbst. Er blickte mit halb geöffneten Augen auf sie herab, unendlich müde und traurig sah er aus.

Viktoria ging auf ihn zu.

Die Margeriten, die vor dem Sockel in einem Einmachglas mit Wasser standen, dufteten, einige waren schon braun.

Viktoria hob langsam eine Hand und berührte ganz vorsichtig den großen Zeh seines linken Fußes. Sie wusste, dass sie ein kleines Loch darunter fühlen würde.

Das Hundegebell war plötzlich ganz nah.

Es hallte aus dem Zwinger vor dem Haus von Martha Lütkehaus. Ein schwarzer Rottweiler rannte wie von Sinnen im Kreis, kläffte, knurrte und zeigte große, gelbe Zähne.

Schöner Empfang, dachte Viktoria und stellte sich aufrecht hin, nahm die Schultern nach hinten, streckte die Brust raus und war auf einmal mindestens zehn Zentimeter größer.

»Hey, bei uns laufen Viecher wie du auf Spielplätzen rum, du Töle!« Bloß keine Angst zeigen, dachte sie. So hatte sie es schon als Kind im Kampfhunde-Berlin lernen müssen. Und sie hatte es gehasst. Denn aus Angst, Angst zu zeigen, hatte sie mehr Angst vor der Angst als vor den Hunden selbst. So wie jetzt.

Mit feuchter Stirn ging sie zügig und dominant auf den Hund von Baskerville zu und fürchtete, dass er den feinen Schweißfilm wittern würde. Bloß cool bleiben, Viktoria! Immerhin war er gefangen und die Gitterstäbe sahen zwar rostig, aber kräftig genug aus. Ohne den wilden Wachhund anzuschauen, ging sie an ihm vorbei.

Das Bellen wurde lauter, die kreisenden Umdrehungen rasend schnell. Aber sie schaffte es und stand schließlich vor der Eingangstür des Hauses.

Links verliefen die Bahngleise auf einem aufgeschütteten Wall, am Ende des Grundstücks stand ein Baum. Knorrig und verwachsen. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf.

Hatte der Baum in ihrem Traum so ausgesehen? Eine Eiche? Schwer zu sagen, es hing kein Blatt mehr an den Zweigen. Und das im Hochsommer! Gruselig. Fehlte nur noch, dass gleich ein paar Krähen angeflogen kommen, dachte sie. Da hörte sie das Gurren von Tauben und zuckte zusammen.

Was war denn auf einmal los mit ihr? Nur weil sie einen Traum gehabt hatte, musste sie doch nicht gleich durchdrehen!

Doch es half nichts, sie musste sich eingestehen, dass ihr der kahle Baum dort drüben sehr, sehr bekannt vorkam. Und wenn sie sich selbst und ihrer Erinnerung trauen konnte – und das konnte sie bisher immer –, hatte sie gesehen, dass genau an diesem Baum ein leichenblasser Mann gehangen hatte, der aussah wie der Mann, der einmal hier gewohnt hatte.

Psycho, dachte sie. Hat das Jenseits mit mir Kontakt aufgenommen? Hat ein Untoter mich gerufen? Bei der Vorstellung von ihr als Geisterseherin musste sie schon fast wieder lächeln. Viktoria und Übersinnliches – das passte noch mieser zusammen als Rosinen und Müsli. Viktoria stand einfach nicht auf Fantasy. Harry Potter war was für Kinder, Akte X interessierte sie nicht, und Der Herr der Ringe fand sie total überbewertet. Andere mochten es ja fantasievoll finden, wenn irgendwelche Geister, Monster, Ringe, Elfen oder Zauberer in ewige Gut-gegen-böse-Kämpfe verstrickt wurden – sie fand das immer nur unlogisch, unrealistisch und extrem uncool.

Doch im Moment war das Uncoolste weit und breit sie selbst. Der Schweißfilm klebte immer noch an ihrer Stirn und lockte blutgierige Stechmücken an.

Vielleicht bin ich ja einfach bescheuert geworden, Lady Gaga, bekloppt. Burn-out-Syndrom, dachte sie und empfand diese Erklärung fast als Trost. Sie atmete ruhiger. So, jetzt mal wieder sachlich, Victory, dachte sie, setzte ihren Profi-Reporter-Scanner-Blick auf und notierte in ein imaginäres Notizbuch, was sie sah.

Die Holztür, vor der sie stand, war alt. An einigen Stellen splitterte die Farbe ab, Wurmlöcher durchsiebten den Rahmen. Wo war eigentlich die Klingel? Das Gebäude war in einem ähnlichen Zustand wie die Tür. Die Ziegel waren mit Moos überzogen, die Fenster alles andere als frisch gestrichen und winddicht, die Dachpfannen krallten sich verzweifelt aneinander.

Vorwärts, dachte sie. Es gibt keine Zombies!

Sie klopfte. Einmal. Doch nichts rührte sich. Das Gekläffe des Hundes setzte aus. Sie klopfte lauter. Dreimal. Sie rief: »Hallo! Frau Lütkehaus, sind Sie da?« Ihre Stimme klang dünn wie Seidenpapier.

Instinktiv wusste sie, dass sie da war. Vielleicht hatte sie ihren Schatten wahrgenommen, vielleicht hatte sie etwas gehört. Als sie gerade ihre Faust hob, um noch einmal gegen die Tür zu wummern, blickte sie durch das Fenster rechts ein bleiches Gesicht an. Das Gesicht öffnete seinen Mund – entsetzt –, als wolle es schreien. Doch Viktoria hörte keinen Ton. Dann bekreuzigte sich die bleiche Frau, ging einen Schritt rückwärts und verschwand im Dunkel des Zimmers.

Viktoria klopfte noch einmal. Es blieb still. Auch als sie sich umdrehte und am Zwinger vorbeiging. Der Rottweiler stand einfach da und rührte sich nicht. Speichel tropfte von seinen Lefzen. In ihren Augen brannte salziger Schweiß.

Ich wusste, dass du kommen würdest. Irgendwann. Aber du bist spät dran. Viel zu spät. Du bist verdammt noch mal zu spät gekommen. Du, mit deinem kleinen Mund, mit deinen zarten Fingerchen. Durch deine süße Stupsnase wirst du nicht mehr lange atmen. Und fang bloß nicht an zu schreien. Du bist selbst schuld. Mit deinen langen Wimpern wirst du nicht klimpern. Ha, das reimt sich! Fang jetzt bloß nicht an zu lachen. Jetzt ist Schluss mit den Scherzen. Ich will meine Ruhe haben. Fang bloß nicht an zu strampeln. Still, still jetzt! Halt still, du Bastard!