10. Kapitel

 

Viktoria tastete nach ihrem Handy, das mal wieder Netzsuche anzeigte. Doch das leuchtende Display verriet ihr die Uhrzeit. 0.34 Uhr. Sie lag im Bett, gähnte und war extrem schlecht gelaunt. Die Beine kribbelten, ihre Füße waren abwechselnd zu kalt oder zu heiß; und schloss sie die Augen, starrten sie bleiche Gesichter an. Bernhard Lütkehaus’ totes Antlitz, Martha Lütkehaus, den Mund zum stummen Schrei aufgerissen. Ab und zu erschien sogar ihre Mutter mit weißem Gesicht und roten Lippen auf Viktorias Netzhaut-Fata-Morgana. Als sie doch einmal kurz einnickte, träumte sie von Konstantin. Er hatte sich eine Atemmaske aufgesetzt und wollte sie damit küssen; sie lief weg, er hielt sie fest, und seine Hände fühlten sich seltsam an. Er trug Gummihandschuhe und lag in seiner eigenen Blutlache. Was sollte das alles? Viktoria konnte eine durchwachte Nacht ganz und gar nicht gebrauchen. Sie musste früh raus am großen Tag. Das Königsschießen stand bevor und begann um halb acht mit einer Messe und dem Antreten der Schützen. Sie wollte endlich ganz konzentriert arbeiten. Sich um ihren ursprünglichen Auftrag kümmern und keine Hirngespinste jagen. Sogar drei Kugelschreiber hatte sie in ihre Tasche gesteckt. Wo war das Problem? Es war ein leichter Job. Einer, bei dem es hauptsächlich um Beobachtung und die anschließende Schilderung ging. Easy going. Sie versuchte hundert Mal »easy« zu sagen, doch es klappte nicht, beim zehnten Mal dachte sie plötzlich an Kai Westmark. Auch das noch! War ja auch ein schönes Bild, das er ihr eingebrannt hatte. Er am Strand des Flusses, den Blick nach irgendwo zum anderen Ufer gerichtet und dann plötzlich auf sie. Durchdringend? Neugierig? Liebevoll? Sie wusste es nicht oder wollte es nicht wissen. Zapfanlageninstallateur ist nicht gerade der Beruf, den man sich für seinen Traummann wünscht. Okay, die Jeans war cool, aber wahrscheinlich reichte sein Horizont gerade mal bis zum anderen Ufer des Flusses. Hätte sie ihn in Berlin im Zosch an der Theke getroffen, sie hätte gewusst, was sie mit ihm hätte machen wollen. Und sie hätte es geschafft. Mit ihrem Victory-Augenaufschlag. Sie hätte ihn dazu gebracht, mit ihr nach Hause zu gehen. Und er hätte gewusst, dass es kein Frühstück bei ihr gab. Doch hier waren die Spielregeln irgendwie anders. Nicht durchschaubar, nicht rauszufinden, einfach ungooglebar.

Vielleicht war das auch der Grund, weshalb sie die Geschichte mit Bernhard Lütkehaus nicht begriff. Kapierte sie nur nicht die Geheimsprache der Westbeverner? Gab es ein ungeschriebenes Gesetz, nach dem hübsche Ehemänner verschwanden, ohne dass jemand nachfragte? War es ein böser Fluch, der sie dazu verdammt hatte, Bernhard Lütkehaus tot an einem Baum hängen zu sehen? Würde nur der Gegenzauber einer guten Fee sie befreien können?

»Fuck, fuck, fuck!« Viktoria war plötzlich hellwach. So konnte es nicht weitergehen. Ich bin verdammt noch mal clever, dachte sie. Ich bin Victory, die abgebrühte Recherche-Sau! Und so grunzte sie kurz, knipste das Licht an und nahm die Sache wieder in die Hand. Sie hatte eine Idee.

Nicos Mutter wollte nicht schnüffeln. Sie wollte es wirklich nicht. Ihre Angst, etwas zu finden, war viel zu groß. Also nahm sie den Swiffer mit dem Stab und wuselte ganz oberflächlich durch Nicos Regal, um wenigstens den gröbsten Staub elektrostatisch aufzuladen und damit an das Wegwerftuch zu binden. In ein paar Sekunden hatten sich unzählige Staubwolken zu einer Riesenwollmaus vereint, ein neues Tuch musste her. Damit machte sie sich an die Anlage, den Nachttisch, den Schreibtisch. Sie hätte schon blind sein müssen, um es zu übersehen. Unter einem Stapel Motorradmagazine, alter Mediamarktprospekte und dem Matheheft lag ein Pornomagazin. Nicos Mutter lächelte. Vielleicht, dachte sie, vielleicht wird doch alles wieder gut. Auch wenn es sie ekelte, die mit Makrofunktion aufgenommenen Genitalien auf der Titelseite anzuschauen. Es ist normaler Jungskram, dachte sie. Ganz vorsichtig legte sie das Heft zurück unter den Stapel. Es deckte den Zettel zu, der über und über vollgekritzelt war. Nico hatte immer wieder Worte aus dem seltsamen Brief aufgeschrieben, der damals bei Sarahs Leiche gefunden worden war. Das E von Engel hatte es ihm besonders angetan. Immer wieder schlang sich der Bogen vom E über das Papier. Nicos Mutter schaute nicht hin. Sie wollte nicht hinschauen. Die Polizei hatte damals ein grafologisches Gutachten erstellen lassen. Nico musste ein paar Worte niederschreiben. Als sie ihm dabei zusah, wusste sie, dass er den Kugelschreiber auf eine seltsame Art hielt. So hatte er nie geschrieben. Und seine E’s waren immer ohne Schnörkel gewesen, jetzt schwang er dramatische Schlaufen. Sie sagte damals nichts. Und die Polizei suchte immer noch nach der Ratte, die diese seltsame Nachricht neben Sarahs Leiche gelegt hatte. Nach der Jacke und den Handschuhen, die Nico in der Silvesternacht von jugendlichen Türken geklaut worden waren, suchten sie nicht. Sie hatte ihnen ja auch nicht gesagt, dass ihr Sohn am Neujahrsmorgen völlig durchgefroren, ohne Jacke und Handschuhe, kreidebleich und ohne ein Wort zu sagen in der Haustür stand. Am nächsten Tag hatte sie ihm Geld gegeben. Für neue Wintersachen. Und auch wenn sie für jegliche Formen der Kriminalität gar nichts übrig hatte: An diesem Abend betete sie, dass es die Gang, die ihn beklaut hatte, wirklich gab. Nachts träumte sie, dass ihre Waschmaschine zusätzlich zum Anti-Gras-Programm ein neues Programm hätte: ein Anti-Blut-Programm. Fertig in nur fünfzehn Minuten.

Der Deckenfluter tauchte das Zimmer in grelles Licht. Viktoria kniff die Augen zusammen. Noch halb blind tastete sie in ihrer Umhängetasche nach der kleinen Digi-Kamera. Das Metall des Gehäuses fühlte sich kühl an und beruhigend. Der Plan war simpel. Sie würde das Bild von Bernhard Lütkehaus abfotografieren und per E-Mail an Thomas Lüschke schicken. Er arbeitete beim LKA und vergötterte sie. Was lästig, aber großartig war. Denn so gelangte sie schon seit Jahren an Informationen, die kein anderer Kollege des Express bekommen konnte. Als Gegenleistung lud sie Thomas dreimal im Jahr zum Essen ein – auf Kosten des Express, versteht sich –, doch er lehnte immer ab. Am Anfang war sie darüber nur erleichtert, inzwischen aber fast schon verärgert. Der hässliche Vogel hätte sich gut in ihrem Licht sonnen können. Dass er es nicht tat, konnte sie nicht begreifen. Wenn sie ihn gefragt hätte, hätte er nur eine Antwort gehabt: »Ich bin ein verwachsener, pickeliger, aber sehr stolzer Mann!«

Pickel-Thomas, da war sich Viktoria sicher, würde etwas finden. Vielleicht war Lütkehaus ihr in Berlin begegnet. Vielleicht war er Zeuge eines Verbrechens gewesen, vielleicht verdächtig, vermisst. Vielleicht hatte sie sein Bild in der Zeitung gesehen, vielleicht war sie ihm bei ihren Recherchen über den Weg gelaufen. Nur so war es zu erklären, dass sie von ihm geträumt hatte. Ihr Unterbewusstsein hatte ihn abgespeichert, und ihr Bewusstsein spuckte die Daten nicht aus. Mit seinem Namen und dem Foto könnte Thomas ihr vielleicht helfen. Das Bild war viel deutlicher als das, was sie Charly gefaxt hatte. Und so gut Charly auch war, Zugriff zu internationalen Suchcomputern hatte selbst er noch nicht. Also: Thomas musste mit Infos gefüttert werden!

Barfuß, in T-Shirt und Schlaf-Shorts schlich sie auf den Flur des Gasthauses. Die Dielen knarrten ein bisschen und fühlten sich angenehm an unter ihren Sohlen. Leise, ganz leise tapste sie an Marios Zimmer vorbei Richtung Treppe. Es war dunkler, als sie dachte. Draußen schrie eine Katze, es klang, als würde ein Kind gequält. Dann war es still. Die Treppe, die ersten Stufen nach unten, die Dielen muckten nicht mehr auf. An der Wand warfen die Rahmen mit den Fotos der Schützenkönige schwarze Schatten. Alle Bilder waren jetzt schwarz-weiß, die Nacht hatte die Farben verschluckt. Viktoria las die Jahreszahlen, die Namen, sie suchte. 1980, 1979, 1978, 1977 …

Ein kühler Windzug strich um Viktorias Fesseln, nur kurz. Sie achtete nicht darauf, denn das, was sie sah, oder eher, was sie nicht sah, ließ sie den Atem anhalten. Bernhard Lütkehaus fehlte! Das Bild, der Mann mit den blonden Haaren, der Schützenkönig von 1976, er war verschwunden. Kein Déjà-vu, keine Einbildung, kein Traum. Ihre Hand berührte die leere Stelle an der Wand. Irgendjemand hatte das Foto von Bernhard Lütkehaus von dieser Wand genommen und einen etwa zehn mal zwanzig Zentimeter großen weißen Fleck hinterlassen. Dann hörte sie es. Leise, aber deutlich: »Klapp.« Eine Tür fiel ins Schloss.

Viktoria rannte, rannte, rannte. Die Treppe hoch, den Flur entlang, an Marios Tür vorbei, in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür hinter sich zu und schloss ab. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, sie hatte Angst.

Viktoria knipste das Licht in ihrem Zimmer nicht an, das Bett, ihr Koffer, die Joggingschuhe – sie konzentrierte sich auf die Schatten, um ruhiger zu werden. Die vier Schritte bis zum Fenster waren meilenweit. Sie ging so leise und vorsichtig, als sei der Teppich mit hochexplosivem Glyzerin getränkt. Von hier oben konnte sie den kleinen Parkplatz vor dem Gasthaus überblicken. Links stand Marios Barchetta. Sein gelber Lack schimmerte im fahlen Licht des abnehmenden Mondes. Harrys Bulli stand direkt vor der Tür, ein bisschen schräg. Den dunkelblauen Golf ganz rechts, direkt neben der Grenzhecke konnte Viktoria kaum erkennen. Er war fast vollkommen im Schatten verborgen. Doch ihn, ihn erkannte sie. Er hatte die Fahrertür schon geöffnet, als er sich noch einmal umdrehte. Er blickte nach oben, in die Richtung ihres Fensters. Viktoria stolperte rückwärts und schnappte nach Luft. Dann sprang der Motor an, der Wagen fuhr vom Hof. Sie dachte: Coole Turnschuhe.

Katzen schreien wie Kinder, sagen sie. Aber du schreist gar nicht wie eine Katze. Bist ganz ruhig, ganz lieb. Wenn du eine Katze wärst, würdest du wieder aufwachen, dann hättest du sieben Leben. Doch du schläfst. Für immer. Du hast nur ein Leben. Und das eine Leben ist zu Ende. Ich habe gemacht, dass es zu Ende ist. Es tut mir leid, mein kleines Kätzchen. Ich werde dich in Papas Bett legen, dort ist es kuschelig. Der Frauenmantel wird sich über dir ausbreiten, er wird dich schützen. Er hat sich versündigt, doch du, du bist brav gewesen. Ganz brav und so still.

Marie Latell rückte ein Stückchen zur Seite. Der Mann, der sich neben ihr auf der Bank niederließ, schaute sie lange an. Doch sie merkte es nicht. Sie blickte starr auf das trübe Wasser des Landwehrkanals. Dann schenkte sie sich nach. Sie hatte die Flasche Rotwein schon fast leer getrunken, die letzte Pfütze landete in ihrem Glas, das sie extra mitgenommen hatte. War ja nicht weit bis zu ihrem Lieblingsplatz, hier am Paul-Lincke-Ufer. Sie hatte es zu Hause nicht ausgehalten. Sie brauchte jetzt die Geräusche, den Großstadtlärm. Obwohl es schon mitten in der Nacht war, war es hier nie still. Es sei denn, es regnete oder schneite. Aber jetzt, im Sommer, da waren die Wiesen von Kreuzberg bevölkert mit Menschen, die tranken, rauchten, sich küssten oder in den Mond schauen wollten. Der Mann neben ihr wollte reden oder helfen oder er war neugierig. Er räusperte sich. »Entschuldigung, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Marie sah im Mondlicht den Umriss eines Schwans, der unbeholfen über den Rasen humpelte. Sie sagte nichts. Sie hatte die Frage nicht gehört.

»Sie sehen traurig aus«, sagte der Mann. »Vielleicht wollen Sie ja darüber reden?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht reden. Sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte mehr Rotwein. »Kommst du mit?« Sie fragte nicht, sie stellte es fest. Er stand auf. Und dann gingen sie am Ufer entlang.

»Wohnst du in der Nähe?«

Er nickte.

»Hast du Rotwein zu Hause?«

Er nickte.

»Dann nimm mich mit.«

Er schüttelte den Kopf. »Lass mal«, sagte er. »Ich wollte dir wirklich nur helfen.« Erst jetzt sah sie, dass er wahrscheinlich dreißig Jahre jünger war als sie. Sie schaute ihn traurig an. »Mir ist nicht zu helfen.« Der Unbekannte, der sich gerade zum Gehen umgedreht hatte, blieb stehen.

»Bist du krank?«

»Hast du ’n Helfersyndrom?« Marie zündete sich eine Zigarette an.

»Ne, aber zwei Ohren zum Zuhören.«

Marie zog an der Gauloise, atmete tief ein und blies den Rauch ganz langsam in sein Gesicht. Sie flüsterte: »Dann sperr deine beiden Ohren mal ganz weit auf, Jüngelchen. Ich bin nicht krank. Ich bin am Arsch.«

Kai kniff die Augen zusammen. Dieses verdammte Neonlicht. Gut, dass es bald durch moderne Strahler ersetzt werden würde. Auf dem frisch abgeschliffenen Holzparkett lagen Stoffbahnen, sie schluckten jedes Geräusch. Der schwere, große Schreibtisch war unter einer Folie versteckt. Das einzige Möbelstück, das er behalten wollte. Als kleiner Junge hatte er oft auf dem Drehstuhl gesessen und in der Schublade gewühlt. Es roch darin so gut. Nach Geheimnis, nach Pfefferminzbonbons, nach frisch angespitzten Bleistiften – nach seinem Vater. Die Wände sahen rau und grau aus ohne die Tapeten. Es roch nach Holz und altem Kleister. In der Ecke neben dem Fenster stand, was er suchte. Ein Stapel Umzugskartons. Vollgepackt mit Aktenordnern, Papieren, medizinischen Fachbüchern und Röntgenbildern. Sein Vater hatte immer alles sortiert, katalogisiert, notiert. Er musste lächeln. Als er vor einem halben Jahr umgefallen war, weil sein Herz nicht mehr schlagen wollte, traf es ihn und seine Mutter zwar hart, aber nicht unvorbereitet. Kais Vater, Doktor Johannes Westmark, hatte ihnen frühzeitig mitgeteilt, dass sein Herz angegriffen sei, und er hatte einen Ordner angelegt. Als er also an diesem ersten Februartag tot auf dem Perserteppich im heimischen Wohnzimmer lag, brauchte seine Frau Christel nur nachzuschlagen, was zu tun war. Arzt anrufen, Tod feststellen lassen, seinen grauen Anzug herauslegen, das Bestattungsunternehmen Schleicher kontaktieren, die Zeitung wegen der Anzeige instruieren. Vereinsmitgliedschaft beim Sportverein, Schützenverein und beim Club der Preußen-Münster-Fußballfans kündigen. Den Sarg hatte er schon ausgesucht, bezahlt und reservieren lassen. Der Text für die Todesanzeige war formuliert. Er wünschte sich keine Blumen und wollte auch sonst auf jegliches Tamtam verzichten. »Ach, Papa.« Kai seufzte, als er die Aktenordner aus den Kisten nahm. Er suchte bei L. Da war der Ordner. Lau, Laukötter, Lehmann, Lindenkamp, Lilienbecker, Lohmann, Lütke Ahlert, Lütkehaus. Bernhard Lütkehaus! Kai schob den Metallhebel hoch und öffnete die Aktenklammer. Die Folie raschelte, als er sie vom Schreibtisch riss, er packte die Krankenakte auf die Lederunterlage und blätterte. Es war alles da. Jeder Husten, jeder Schnupfen, ein gebrochener Finger, eine Bindehautentzündung. Kais Vater war also tatsächlich der behandelnde Arzt von Bernhard Lütkehaus gewesen. Kai blätterte weiter. Da lag er vor ihm. Der Totenschein. Unterschrieben von seinem Vater, sorgsam kopiert von seinem Vater. Akkurat abgeheftet von seinem Vater. Als Todesursache stand dort: Pneumonie, also Lungenentzündung. Kai rechnete nach. Bernhard Lütkehaus war erst vierunddreißig Jahre alt, als er starb. Aber es konnte durchaus sein, dass er seine Krankheit nicht ernst genommen und verschleppt hatte – und dann war es zu spät gewesen. Tragisch, ja. Aber mysteriös? Nichts, was in einer Berliner Boulevardzeitung stehen sollte, dachte er. Nichts, was diese seltsame Viktoria etwas anging.

Klaus Bühlbecker war sehr zufrieden mit sich und der Welt und dem Schützenfest. Er knipste das Nachttischlämpchen aus und schloss die Augen. Seine Frau schlief schon lange am anderen Ende des Flurs, im ehemaligen Kinderzimmer ihres Sohnes. Es war für beide besser. Er bettelte nicht mehr, sie hatte ihre Ruhe, und er konnte ganz in Ruhe ein bisschen Telefonsex in Anspruch nehmen, wenn er es wollte. Wollte er jetzt? Er war sich nicht sicher. Nein, er wollte lieber noch ein bisschen von den Haaren dieser Reporterin träumen. Er stellte sich vor, wie sie ihn mit ihrer Mähne streichelte, und genoss seine Erektion. Die jungen schwarzhaarigen Dinger, er konnte ihnen einfach nicht widerstehen. Er wusste nicht, woher es kam. Vielleicht war ja Sophia Loren schuld, deren Filme er früher immer mit seinen Eltern schauen durfte. Es gab schlimmere Vorlieben, beschloss er. Kam die Reporterin nicht aus Berlin? So wie diese andere Schlampe. Diese Totgeweihte, die ihn mit dem Arsch nicht angeschaut hatte. Arrogante Zicke. Es war kalt gewesen an dem Tag, als er sie traf, das wusste er noch. Und er hatte ihr zum Abschied noch das Biberpapier geschenkt. Aber sie? Hat nicht mal Danke gesagt, sondern einfach nur geflennt. Aber klasse Beine hatte sie und schöne schwarze Haare. Rassig.

Kai Westmark wollte die Krankenakte von Bernhard Lütkehaus gerade wieder einheften, da fiel ihm die Büroklammer am Totenschein auf. Hatte er ein Papier übersehen? Er schaute sich um, blätterte im Ordner, schob den Stuhl beiseite – und dann sah er das hauchdünne Blättchen auf dem Fußboden unter dem Schreibtisch. Er hob es auf und hielt es dicht an seine Augen. Er konnte die dünne, krakelige Schrift kaum lesen. Doch dann erkannte er ein Q und ein U und den Rest. Das aus der Akte gerutschte Papier war eine Quittung über die Barzahlung eines anonymen Urnenbegräbnisses des verstorbenen Bernhard Lütkehaus auf dem Münsteraner Zentralfriedhof. Er betrachtete die Unterschrift. Das geschwungene W hatte Kai immer nachzuahmen versucht. Er fand es schön, und es erinnerte ihn an die Luftschlangen, die er an seinen Kindergeburtstagen über den Küchentisch pusten durfte. Es bestand kein Zweifel: Westmark stand unter der Quittung. Kais Vater hatte das Begräbnis seines Patienten bezahlt.