5. Kapitel

 

»Sag mal«, sagte Viktoria. »Dieser Harry vom Gasthaus König, der ist in Ordnung, finde ich.«

Kai sah sie fragend an. »Ja?«

»Aber seine Frau, mal ehrlich, die ist ja furchtbar.«

»Du meinst Plaudertasche Rosa?«

Viktoria konnte es nicht glauben. »Die heißt jetzt nicht wirklich Rosa, oder? Mario, also der Fotograf und ich, wir haben sie immer so genannt, weil sie … Na, egal. Auf jeden Fall heißt sie jetzt wirklich Rosa?«

»Ich glaube nicht. Wir nennen sie aber alle so. Weil sie immer diesen furchtbaren rosa Kittel anhat.«

»Ach so«, sie merkte, wie sie langsam rot wurde.

»Oder dachtest du, wir finden hier rosa Blumenkittelschürzen aus den Fünfzigerjahren normal?«

Viktoria war ertappt und hustete. Zum Glück kam gerade die Bedienungsfrau, um zu fragen, ob sie noch etwas wollten. Viktoria bestellte eine Apfelschorle. Es war immer noch sehr warm, keine Wolke ließ sich am blauen Himmel blicken. Das Ehepaar samt Rädern war inzwischen verschwunden, die Mütter mit den Kindern zahlten gerade.

»Musst du nicht wieder zur Arbeit?«, fragte Viktoria.

Kai schüttelte den Kopf und steckte sich noch eine Zigarette an. Komischer Installateur, dachte sie. Still schaute Kai ihr zu, wie sie ihr Glas leerte. Er blinzelte in die Sonne und kramte dann in seiner Tasche. Er strich einen zerknüllten Zwanzigeuroschein glatt, legte ihn auf den Tisch und stand langsam auf. Er ging auf Viktoria zu, schaute sie wieder direkt an, reichte ihr die Hand und sagte die dämlichste aller Abschiedsfloskeln: »Man sieht sich.«

Dann ging er.

Viktoria schaute ihm nach. Er fuhr sich mit seiner Linken durch seine blonden Haare und drehte sich nicht mehr um. Viktoria dachte: Coole Turnschuhe.

Sie blieb noch zwei Minuten sitzen. Dann schlenderte sie zur Kneipe am Markt, in die Mario verschwunden war. Sie hieß sinnigerweise »Am Markt«, und als sie die Tür aufstieß, sah sie erst einmal gar nichts. Ihre Augen mussten sich an die Dunkelheit gewöhnen. Dann erkannte sie Mario. Er saß mit drei Männern an einem Tisch, vor jedem stand ein großes Weizenbierglas – halb gefüllt – und ein Knobelbecher aus Leder. Als Mario Viktoria erblickte, strahlte er übers ganze Gesicht. »Hey, Victory, wir schocken gerade. Geiles Spiel!«

»Geile Braut«, lallte der junge Kerl neben Mario und zeigte mit dem Glas in der Hand auf Viktoria. Die anderen lachten.

»Geile Begrüßung«, antwortete sie kalt und setzte ihren fiesesten Blick auf. Mario nahm keine Notiz davon. Er strahlte immer noch. »Victory, das hier ist Ludger«, er deutete auf den geilen Begrüßer, der höchstens fünfundzwanzig war und ziemlich scheel grinste. »Das ist Alfred.« Der graue Mann neben Mario lächelte freundlich und nickte zur Begrüßung. »Und hier würfelt gerade King Lui.«

»Geiler Spitzname«, sagte Viktoria ironisch.

»Mann, Victory«, Mario redete mit ihr, als sei sie betrunken und nicht er. »King Lui ist echt eine Majestät. Der war mal Schützenkönig.«

»Nicht ›war mal‹«, sagte King Lui. »Ich bin es noch, zumindest bis übermorgen. Im letzten Jahr hab ich den Vogel abgeschossen.«

»O ja, da haste Ferdinand ganz schön bloßgestellt«, schaltete sich Alfred ein.

Ferdinand, Ferdinand? Viktorias Hirn arbeitete. Woher kannte sie den Namen? Na klar. Der Mann von Elisabeth Amok-Upphoff hieß Ferdinand.

So langsam wurde die Sache wirklich geil. Sie setzte ein freundlicheres Gesicht auf und schob sich auf den Bankplatz neben Mario. Sie lächelte King Lui an. »Wieso haben Sie Ferdinand bloßgestellt? Wollte der auch König werden?«

»Und wie. Eigentlich will der das schon immer. Aber letztes Jahr hatte er es wohl richtig vor. Hatte extra Geld gespart, neue Uniform gekauft, ’n Kleidchen für die Frau und so weiter. Aber der Dummkopf hatte es niemandem gesagt. Wir wussten nix davon. Und so dachte ich – wie alle anderen im Verein auch –, ich wäre der einzige Kandidat.«

»Ist das denn normal mit nur einem Kandidaten? Wollen denn nicht immer alle gewinnen?«, fragte Viktoria.

»Nö, das ist normal, junge Frau. Das ist viel zu teuer für viele. Und man geht ja auch ein paar Verpflichtungen ein, so als König. Meistens ist das vorher schon abgeklärt, und die Kameraden schießen dann ein bisschen daneben.«

»Und wie war das jetzt mit Ferdinand?«

»Na ja, der hat nicht daneben geschossen im letzten Jahr. Da dachte ich mir ja schon, oh, der will auch. Aber dass er sich die Sache so zu Herzen nimmt. Er hat fast geheult, als ich schließlich gewonnen hatte. Und jetzt noch das mit seiner Frau.«

»Elisabeth …«, ergänzte Viktoria, um ihn weiter zum Reden zu bringen.

»Ja, die Elli. War sonst immer ’ne ganz nette …«

»… und adrette …«, alberte Ludger.

Doch King Lui blieb ernst. »Wir sind natürlich alle davon ausgegangen, dass Ferdinand es in diesem Jahr wird. Er selbst wahrscheinlich auch. Und da wollte auf einmal seine Frau mitschießen und erzählt auch noch überall rum, dass sie Königin werden will.«

»Das ist hart.« Viktoria heuchelte Mitleid. »Warum hat sie das denn gemacht?«

»Wenn Sie mich fragen, sind das einfach ihre Wechseljahre. Sie wissen schon, die Hormone haben ihr Hirn ein bisschen aufgeweicht.«

Viktoria atmete tief durch. Bloß ruhig bleiben, dachte sie. »Und da ist nix anderes vorgefallen? Vielleicht war sie ja sauer auf Ferdinand. Oder sie wollte einfach die Gleichberechtigung nach Westbevern bringen.«

»Gleichberechtigung? Doch nicht Elli. Die ist ein richtiges Hausweib, glauben Sie mir. Die Wechseljahre sind’s, ganz bestimmt. Sonst wäre die auch nie so ausgerastet. Hormonschub! Schlimmer Hormonschub!«

Schöne Zitate für meinen Text, dachte Viktoria. Sie kritzelte King Luis richtigen Namen und sein Alter – Ludwig Bössing, vierundfünfzig – auf einen Bierdeckel und ließ ihn in ihre Tasche fallen.

Mario schaute auf die Uhr und erschrak richtiggehend. »Oh, Victory. Tut mir leid, wir müssen ja los. Ich geh nur noch mal kurz um die Ecke.« Er erhob sich und fiel beinahe um. Er konnte sich gerade noch am Tisch auffangen, wackelig ging er Richtung Toiletten.

Viktoria rutschte auf seinen Platz und saß so neben Alfred, dem ältesten der drei. Er war auch angetrunken, doch offensichtlich noch der vernünftigste von allen. »Sie kennen sich auch aus mit dem Schützenfest?«, fragte sie.

»Das tun in Westbevern irgendwie alle ein bisschen«, sagte er.

»Ich hab im Gasthaus König die Fotos von den Schützenkönigen gesehen, und da ist mir einer aufgefallen, den Sie vielleicht kennen könnten.« Ludger und King Lui diskutierten gerade über ihre Würfel-Würfe. Gut so, dachte Viktoria, muss ja nicht jeder mitkriegen, dass sie einem Phantom hinterherjagte.

Deshalb sprach sie leise und hoffte, dass Alfred nicht schwerhörig war.

»Ich habe das Bild von Bernhard Lütkehaus gesehen. Der ist 1976 König gewesen, und irgendwie erinnert er mich an jemanden.«

Alfred betrachtete Viktoria und nickte. »Ach, der schöne Bernie«, stieß er vielsagend aus. »Ich kann mir vorstellen, dass er Ihnen aufgefallen ist. Frauen in Ihrem Alter mochten ihn schon immer.«

»Er war ein Frauenheld?«

»Ein Frauentyp würde ich eher sagen«, erwiderte Alfred. »Er hatte etwas an sich, was einige Damen nervös machte. Selbst meine Luise, Gott hab sie selig, die war immer ganz hibbelig, wenn Bernie in der Nähe war. Sie dachte, ich merke das nicht.«

»Und, waren Sie eifersüchtig?«

»Klar, aber ich hätte nie was gesagt. Ich wusste ja, dass er diese Wirkung hatte.«

»Ja und jetzt?«

»Wie, und jetzt? Er ist weg, abgehauen mit einer schönen Ausländerin.«

»Ist er nicht nach Australien ausgewandert?«

»Ach, das erzählt Martha, seine Frau, überall. Die Schmach, wegen einer anderen verlassen worden zu sein, war ihr wohl zu groß.«

»Und was macht Martha jetzt?«

»Sie hockt verbittert in ihrem Haus und redet mit niemandem mehr. Kümmert sich nur noch um ihren Kräutergarten und sonst nix. Vielleicht haben Sie ihn gesehen, Sie sind doch mit dem Zug gekommen?«

»Wen gesehen?« Viktoria war geschockt. Meinte er etwa den Toten am Baum?

»Den Garten. Liegt direkt an den Gleisen.«

Sie räusperte sich: »Ach, sie wohnt direkt an den Bahngleisen?« Sie notierte: »Adresse rausfinden«, und der Kugelschreiber zitterte ein wenig. Es konnte ja auch Zufall sein, dass seine Frau am Bahndamm wohnte.

»Sind Sie eigentlich sicher, dass Bernhard noch lebt?«

»Sicher? Was ist schon sicher? Er hat sich ja nie wieder gemeldet. Dreißig Jahre lang kein Wort. Aber das passt zu ihm.«

»Sie mochten ihn wohl nicht besonders?«

Alfred schüttelte heftig den Kopf. »Doch, natürlich mochte ich ihn. Jeder mochte ihn.«

»Aber warum?« Viktoria ließ nicht locker. »Er flirtete mit den Frauen anderer Männer, er verschwand einfach, ohne sich zu verabschieden …«

Alfred schaute sie voll Nachsicht an. »Ja, aber Kleines. Sie haben nur sein Foto gesehen und verwickeln betrunkene alte Männer in Gespräche, um mehr von ihm zu erfahren. Muss ich Ihnen das wirklich noch erklären? Er hatte diese Wirkung – auf alle. Sogar auf Sie.«

Darauf hatte Viktoria nichts mehr zu erwidern.

Mario wankte heran und zerrte an seiner Jacke, die am Kleiderständer hing. Als er sie endlich hatte, hielt er sie fest vor seinem Bauch und lallte: »Fährst du, Victory?«

Viktoria hatte gerade in den dritten Gang geschaltet, als sie auf die Bremse trat. Mario stöhnte auf, sank aber sofort wieder in seinen Sitz zurück. »Ich muss noch was erledigen«, sagte sie. Mario nickte mit halb geschlossenen Augen.

Die Türen des grauen Betonklotzes öffneten sich automatisch und so schnell, dass Viktoria beinahe mit ihrer Stirn gegen den Rathaus-Schriftzug geknallt wäre. »Mann!« – Viktoria sprang zur Seite und schüttelte genervt den Kopf. Drinnen war alles in einem typischen Siebzigerjahreton gehalten: braun, beige und grün. Vielleicht kann ich mir ja Marios Nachtsichtgerät leihen, dachte sie und versuchte, im Halbdunkel des düsteren Innenraums Hinweisschilder zu finden. Das Meldeamt lag gleich neben der Kamikaze-Eingangstür. Ich bin im Paradies, dachte Viktoria, als sie eintrat. Hier arbeiteten drei Mitarbeiter an geräumigen Schreibtischen, und vor ihnen saß jeweils ein Bürger. Das entsprach einer glatten Eins-zu-eins-Betreuung. In Berlin lag das Verhältnis eher bei eins zu hundertfünfzig. Als Viktoria in ihre Kreuzberger Wohnung zog, brauchte sie drei Tage und Anläufe, um sich ordnungsgemäß anzumelden. Beim ersten Versuch hatte sie bereits anderthalb Stunden mit ihrer Wartemarke im Flur gesessen, dann musste sie zur Arbeit. Beim zweiten Mal zog sie die Nummer sechshunderteinundfünfzig. Als sie auf der Aufruftafel sah, dass die Dreihundertzwei blinkte, verschwand sie. Beim nächsten Mal opferte sie ihren freien Tag und versetzte sich in eine Art Trancezustand. Nur so überstand sie die Wartezeit und die anschließende Ruppigkeit der Behördenmitarbeiterin.

Jetzt stand sie also inmitten der Service-Oase und wartete genau fünfeinhalb Sekunden, bevor sie mit einem netten »Wie kann ich Ihnen helfen?« an die Reihe kam. Viktoria verfluchte zum x-ten Mal ihre Chaostasche und kramte nach dem Portemonnaie. Dabei lächelte sie die junge Frau vor sich an und zählte deren Piercings im Gesicht. Sie musste zugeben, dass sie hier nicht mit einer durchlöcherten Zunge gerechnet hatte. »Guten Tag, ich bin Viktoria Latell«, sagte Viktoria. Endlich fand sie das Portemonnaie, öffnete es und zog ihren Presseausweis aus einem der Lederschlitze. Mindestens fünf Kundenkarten mit Stempelfeldern oder Punktesammelfunktionen fielen gleich mit heraus.

Piercing-Lady lächelte geduldig und blickte kurz auf den Ausweis. »Ja?«

»Ich brauche eine Auskunft über einen Bürger von Westbevern«, sagte Viktoria und klang dabei sehr geschäftsmäßig. »Er heißt Bernhard Lütkehaus.«

»Ja?«

Sie hatte Ja gesagt, also dürfte es nicht schwer sein, herauszufinden, was sie herausfinden wollte.

»Ist Bernhard Lütkehaus vor dreißig Jahren nach Australien ausgewandert?«

»Ja.«

»Ja?« Viktoria konnte es kaum glauben.

»Nein.«

»Na, was denn nun?«

»Ja, also. Ich weiß nicht. Ich kann Ihnen das nicht einfach so sagen. Haben Sie denn das Geburtsdatum und den Geburtsort?«

Viktoria schüttelte den Kopf.

»Ja, dann also nein.«

»Wie, nein?«

»Dann kann ich Ihnen leider nicht helfen. Tut mir leid.«

»Ich bin Journalistin – ich habe ein Recht auf Information.«

»Ja.«

»Hören Sie doch mal auf, jeden Satz mit Ja anzufangen.«

Das Piercing-Mädel schwieg und blickte hilfesuchend zu einer älteren Kollegin am Schreibtisch neben ihr. Doch die wollte sich offensichtlich nicht mit dem Problem beschäftigen und sortierte ihre Schubladen. Viktoria ließ nicht locker.

»Ich weiß ja, dass es Vorschriften gibt. Ich will auch wirklich nicht viel wissen. Nur, ob der Mann ausgewandert ist. Hat er sich hier abgemeldet?«

Das junge Mädchen schaute in ihren Computer, dann über ihren Schreibtisch, und sie schwieg immer noch. Leise sagte sie: »Ich darf das nicht sagen.«

Viktoria wiederholte – auch leise – die Frage: »Hat er sich hier vor dreißig Jahren abgemeldet?« Das Mädchen tippte fast lautlos auf der Tastatur. Ein Nicken war die Antwort.

»Du bist echt total besoffen«, schimpfte Viktoria und bugsierte Mario ins Bett, nachdem er seinen Mund auf ihren Hals gepresst hatte.

Ihn aus dem Auto zu hieven und dann die Treppen im Gasthaus hochzuschieben, war eine echte Tortur gewesen. Sie schwitzte in ihrem pinkfarbenen Pulli und verfluchte das Deo, das gerade den Kampf gegen Schweißgeruch und Pfützenbildung aufgab. Salzige Perlen hatten sich auf ihrer Oberlippe gebildet, als sie mit Mario Arm in Arm vor seinem Zimmer gestanden hatte. Aber dass er jetzt an ihr rumzerrte und versuchte, sie zu küssen, war wirklich das Allerletzte.