8. Kapitel

 

Elisabeth Upphoff saß ganz gerade. Auf dem schweren Eichenstuhl, an dem schweren Eichentisch, vor der schweren Eichenschrankwand sah sie klein und verletzlich aus. Sie erinnerte Viktoria an einen Rehpinscher. Nervös blickte sie abwechselnd sie, Mario und die Wohnzimmertür hinter ihm an. Mario verdrehte genervt die Augen. Was für ein beschissenes Wohnzimmer, was für ein beschissener Auftrag. Hier in diesem dunklen Raum würde sein Blitz ganze Arbeit leisten müssen. Die schweren Möbel, die langen Gardinen an dem großen Fenster zum Garten, die schwache Glühbirne in dem dunkelgrünen Lampenschirm, der über dem Esstisch hing – alles, aber auch alles hier, sperrte die Sonne und das Tageslicht aus. Hell waren nur die blonden Strähnchen in Elisabeth Upphoffs Haar und die überall verteilten weißen Spitzendeckchen, auf denen abwechselnd mal ein Gesteck, ein Zierteller oder eine Blumenvase stand. Viktoria saß der schüchternen Hausfrau gegenüber und rührte in der Zwiebelmusterkaffeetasse. Das Porzellan klirrte leise. Mario fummelte am Tischende an seiner Kamera herum.

»Haben Sie die alle selbst gehäkelt?«, fragte sie mit Blick auf eines der Deckchen vor ihr. Sie wollte nett sein. Elisabeth Upphoff tat ihr fast schon leid, so nervös, wie sie war.

»Ja, ja. Das war ich.«

»Meine Güte, was für eine Arbeit. Und wie filigran.« Viktoria berührte die Handarbeit und tat so, als würde sie die Häkelei fachmännisch begutachten. Mario schüttelte den Kopf und atmete hörbar aus.

»Ist ’ne Menge Arbeit. Aber im Grunde genommen kann das jeder, der genug Zeit hat. Sie könnten das auch.«

»Nein, das glaube ich wirklich nicht. Ich habe viel zu wurstige Finger dafür.«

Mario lachte kurz auf. »Das stimmt.«

Danke, dachte Viktoria und hätte ihm am liebsten vors Schienenbein getreten. Sie blickte aber weiter – ganz Profi – in das Gesicht ihres Gegenübers, und tatsächlich: Elisabeth Upphoff entspannte sich etwas und lächelte beinahe. Wahrscheinlich weil sie ihre zarten schmalen Hände mit Viktorias Wurstfingern verglich.

»Also«, Viktoria konnte endlich anfangen, »jetzt erzählen Sie doch mal von Anfang an, Frau Upphoff. Wieso wollten Sie unbedingt Schützenkönigin werden? Wollten Sie beweisen, dass Sie genauso gut schießen wie häkeln?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Um Gottes willen, nein. Ich habe noch nie geschossen. Ich mag keine Gewehre.«

»Ja, aber um Königin werden zu können, hätten Sie doch den Vogel treffen müssen.« Viktoria war ratlos.

»Ja, hätte ich.« Elisabeth war jetzt ganz kurz angebunden.

»Und?« Viktoria blickte sie aufmunternd an.

»Und was?« Ein wenig Trotz klang in ihrer Stimme mit.

»Na, wie hätten Sie Königin werden können, wenn Sie gar nicht schießen wollten?«

»Gar nicht«, sagte sie. Und dann noch einmal ganz leise: »Gar nicht.« Sie senkte den Blick. Dann schaute sie Viktoria plötzlich direkt an, ohne jede Scheu. Die Worte sprudelten nur so aus ihrem Inneren: »Vielleicht verstehen Sie mich, Sie sind auch eine Frau …« Mario hob den Kopf neugierig, als sei das eine Neuigkeit für ihn. Elisabeth bemerkte nicht, dass er langsam die Kamera auf sie richtete. Gleich würde sie zusammenbrechen, das wusste er. Fotografeninstinkt.

»Was würde ich dafür geben, dass das alles ein Ende hat. Ich war doch nur so unendlich enttäuscht. Ferdi, also Ferdinand, mein Mann, er hat unseren Tag vergessen. UNSEREN TAG!«

»Den Hochzeitstag?«

»Ja, genau. Unseren Hochzeitstag. Den siebenundzwanzigsten. Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Haben Sie einen Freund?« Viktoria überlegte, Mario schaute sie neugierig an.

»Nun ja, sagen wir: Ich weiß nicht. Nein.« Mein Gott, ich stammele ja, dachte Viktoria und riss sich zusammen.

Elisabeth Upphoffs Stimme klang brüchig. »Dann wissen Sie nicht, wie das ist. Wenn man jemanden so sehr liebt, dass man ständig Angst hat, ihn zu verlieren. Wenn man sich für ihn verändert, aber ganz unauffällig, damit er es nicht so direkt merkt. Wenn man Dinge tut, die man sonst gar nicht tun würde – nur um ihm zu gefallen.«

»Ja, häkeln Sie denn nicht gerne?« Viktoria fiel nichts Besseres ein, Marios rechte Augenbraue hob sich tadelnd.

»Ich hasse Häkeln!«

»Was?!« Damit hatte Viktoria nicht gerechnet. »Sie hassen Häkeln? Aber warum liegen dann hier überall …«

»Ja, ich hasse Häkeln. Ich hasse weiße Spitzendeckchen. Sie sind kitschig und überflüssig, nichts als lästige Staubfänger.« Elisabeths Stimme war nun ganz klar und fest. »Trotzdem habe ich Stunde um Stunde daran gesessen. Und ich habe es getan, weil er es gern hatte. Er hat immer gesagt: ›Die Deckchen erinnern mich an früher, nur dass du sie noch viel schöner machst als meine Mutter.‹ Wenn Besuch da war, hat er stolz erzählt, dass alle Deckchen ›Made by Elli‹ seien – und ich wollte doch, dass er stolz auf mich ist. Und wenn wir abends vorm Fernseher saßen, hat er immer so schön zu mir rübergelächelt, wenn ich mit meiner Häkelnadel hantiert habe. Ich glaube, er liebte diese Gemütlichkeit – und ich habe sie ihm gegeben. Weil ich ihn …« Jetzt wurde ihre Stimme wieder brüchig. »Weil ich ihn wirklich liebe.«

Viktoria schämte sich für Elisabeths Ausbruch, oder war sie gerührt? Sie räusperte sich. »Ähm. Und die Sache mit der Schützenkönigin?«

Elisabeths Antwort kam blitzschnell: »Würde ich am liebsten rückgängig machen. Damit ging der ganze Horror ja erst richtig los, und am Ende habe ich mich zum Affen gemacht, ich bin doch keine Amokläuferin. Aber irgendwie kam eins zum anderen …«

»Was ist eigentlich genau passiert?«

»Ich war so unendlich enttäuscht, dass er unseren Hochzeitstag vergessen hatte. Ich hatte alles vorbereitet, die Uhr seines Großvaters reparieren lassen. Dann ist er auch noch mit einer Schnapsfahne nach Hause gekommen, weil die Schützenbrüder mal wieder wichtiger waren als ich, und dann hat er sich nicht mal entschuldigt.« Viktorias Blick fiel auf das Hochzeitsfoto, das in der Eichenschrankwand in einem silbernen Rahmen stand. Ein hübsches Paar, dachte sie. Erinnert mich an irgendwen.

»Sieht er nicht aus wie James Dean?«

Viktoria nickte, obwohl sie das nicht fand. Der Mann auf dem Foto sah aus wie ein hübscher Halbstarker, der sich Pomade ins Haar geklatscht hatte, um auszusehen wie James Dean. »Er hat also den Hochzeitstag vergessen, und Sie waren wütend …«

»Mehr als wütend. Es war irgendwie, als hätte sich etwas ganz Großes angestaut und der Staudamm brach. Auf einmal kam alles hoch, wie bei einer Flut, die einfach nicht aufhören will zu steigen. Jedes Spitzendeckchen, das ich ihm zuliebe gehäkelt hatte, jede Waschmaschine, die ich mit seiner Unterwäsche gefüllt habe, jede Windel unserer Kinder, die ich irgendwann einmal gewechselt hatte, meine Arbeit als Rechtsanwaltsgehilfin, die ich für die Kinder aufgegeben hatte – das war auf einmal alles in meinem Kopf. Fast dreißig Jahre lang habe ich alles getan, damit er mich liebt – und er vergaß UNSEREN Tag. Ein Tag im Jahr, an dem er mir zeigt, dass auch er mich liebt.«

»Und da hatten Sie die Idee …«

»Da hatte ich die Schnapsidee. Ich kaufte mir eine Schützenfestuniform und hängte sie in den Schrank. Ich wollte ihn provozieren.«

»Und das ist Ihnen gelungen.«

»Leider viel zu gut. Ich dachte, er würde sich aufregen, mit mir streiten oder schimpfen. Dann hätte ich Grund gehabt, ihm den vergessenen Hochzeitstag vorzuhalten. Stattdessen schwieg er. Er sagte nichts mehr, kein Sterbenswörtchen. So als existiere ich gar nicht. Das hat mir richtig Angst gemacht. Das Einzige, was ich noch hatte, war diese blöde Idee mit der Schützenkönigin. Ich hielt also daran fest. Irgendwann muss er sich doch mal aufregen, dachte ich. Irgendwann schreit er mich an. Immer noch besser als dieses Gefühl, unsichtbar zu sein.«

Elisabeth Upphoff begann zu weinen.

Viktoria reichte ihr ein Papiertaschentuch und kramte in ihrer Tasche nach einem Block. Mist, wieder nichts zu schreiben. Sie blickte sich um. »Frau Upphoff, hätten Sie vielleicht ein Blatt Papier für mich?«

Das Schluchzen stoppte für einen Moment. Elisabeth stand auf, ging zur Eichenanrichte. Dort stand ein Würfelbecher auf einem Blatt Papier. Kniffeltabellen waren darauf gemalt. Sie drehte es, zeigte auf die leere Seite. »Reicht das? Seitdem die Kinder aus dem Haus sind, habe ich gar kein Malpapier mehr.« Ihr Versuch zu lächeln scheiterte. Doch Viktoria lächelte und griff nach dem Blatt. Sie ließ den Kugelschreiber klicken. Sie schrieb: Elisabeth und machte einen großen Doppelpunkt dahinter. Dann hörte sie zu.

An jenem Abend war Ferdinand zur Schützenversammlung gegangen. Mal wieder hatten sie den Tag über kein Wort gewechselt, nicht mal verabschiedet hatte er sich. Elisabeth wusste, dass sie auf dem Treffen auch über sie sprechen würden und darüber, dass sie mitschießen wollte. Sie hatten es ihr verboten. Klaus, der Vereinsvorsitzende, war extra am Vormittag vorbeigekommen, um ihr mitzuteilen, dass sie am Schießstand nicht erwünscht sei. Er hatte dabei dümmlich gegrinst und ihr die Schultern getätschelt. Sie war wütend geworden und hatte ihm gesagt, dass der Verein es gar nicht verbieten dürfte, dass die Satzung nichts davon sagte, dass Frauen nicht schießen dürften. Sie war zwar keine Juristin, aber der Anwalt, bei dem sie als junge Frau gelernt hatte, hatte ihr immer wieder gesagt, dass sie mit ihrem Verstand locker das Jurastudium geschafft hätte. »Elisabeth, Sie haben Paragrafentalent«, hatte er gesagt und ihr auf die Schulter geklopft. Das hatte sich gut angefühlt. Nicht so widerlich wie das Schultertätscheln von Klaus. Klaus, der Wichtigtuer, der sich was darauf einbildete, dass sein Brückenbauunternehmen Beverbrücke in ganz Deutschland Aufträge bekam. »Mit Bühlbecker Brücken bauen«, war sein Werbeslogan. Und seitdem er Vereinsvorsitzender der Schützen war – und das war er schon seit Jahrzehnten –, wurde dieser Slogan abgewandelt oder eins zu eins in jede seiner Reden eingebaut. Selbst bei seinem Besuch bei Elisabeth konnte er es sich nicht verkneifen. »Elli«, sagte er. »Ich kann dir hier keine Brücke bauen.« Elisabeth hatte die Augen verdreht. Doch er ließ sich nicht beirren. »Auch wenn du dich hier als Frau Rechtsanwältin aufspielst, du hast etwas Wesentliches vergessen. Frauen im Allgemeinen dürfen vielleicht schießen, weil es nicht ausdrücklich in der Satzung verboten worden ist – blöderweise. Aber du im Speziellen darfst nicht, Elli!« Dann hatte Klaus breit gegrinst. »Du bist nämlich nur passives Vereinsmitglied. Du musst aber aktives Vereinsmitglied sein, um schießen zu dürfen. Und als Vereinsmitglied nehmen wir dich nur auf, wenn zwei Mitglieder für dich bürgen. Und für dich bürgt hier niemand.« Sie konnte es nicht fassen. Sie hatte, seit sie denken konnte, für den Seniorenkaffee Kuchen gebacken, sie hatte bei der Tombola mitgeholfen und sogar freiwillige Thekendienste beim Schützenfest übernommen. Jetzt wurde sie behandelt wie Abschaum. Ausgerechnet von Klaus, dem Großmaul. Deshalb und nur deshalb hatte sie gedroht, die Sache vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen. Der Vorsitzende hatte laut gelacht und dann die Tür zugeknallt. Und als Ferdinand abends zur Versammlung ging, hatte Elisabeth schlimme Magenschmerzen.

Sie schaltete den Fernseher ein, es lief eine Dokumentation zum Thema Amokläufe, die sie nicht interessierte. Sie konnte nicht richtig zuhören, und auch die Bilder kamen gar nicht in ihrem Kopf an. Der Magen grummelte. Sie öffnete das Vitrinenschränkchen und nahm sich einen Fernet heraus. Vielleicht würde der helfen. Sie trank ein Glas und fühlte sich gleich etwas besser. In der Glasvitrine standen noch viele volle Flaschen aus ihren Spanien- und Griechenlandurlauben. Wer soll die eigentlich jemals trinken?, dachte sie. Dann wusste sie die Antwort: Ich! Zuerst probierte sie den Ouzo, dann den Rioja, dann einen Schluck süffigen Weißwein, danach wieder einen Ouzo. Was in den anderen Flaschen war, wusste sie gar nicht, aber sie trank von allem etwas. Sie prostete dem Fernseher zu und fühlte sich großartig. »Hey, du Amoktyp da. Ich bin Sue Ellen!«, lallte sie und torkelte zum Gerät. Gerade wurden Fotos gezeigt von jungen Männern, die sich schwer bewaffnet selbst fotografiert hatten. »Hey, ihr Bürschchen«, grölte Elisabeth. Nach dem zehnten Glas musste sie pinkeln. Der Weg zum Gästeklo kam ihr auf einmal ganz unbekannt vor, früher hatten hier doch die Wände nicht gewackelt. Sie fiel hin. »Verflucht, was ist das denn?« Sie war über den Karton gestolpert. Sie hatte ihn mittags aus dem Keller geholt, weil sie ihn in den Müll hatte schmeißen wollen. Die Kinder verkleideten sich ja schon lange nicht mehr. Weg mit dem Karnevalszeug! Der Deckel des Kartons stand offen. Elisabeth sah etwa blitzen. »Was haben wir denn da?« Sie zupfte an dem Glitzerding und zog einen Patronengurt heraus. Ach ja, die alte Rambo-Verkleidung ihres Sohnes. Wankend und lachend wickelte sie sich den Gürtel um den Körper, schaffte es sogar, damit auf die Toilette zu gehen, und stellte sich danach vor den Garderobenspiegel. Im Hintergrund lief der Fernseher, sie hörte Schüsse und ernste Moderatorenstimmen. Ihr fielen die Jagdwaffen von Ferdinand ein. Sie waren im Waffenschrank im Keller – und dann schwankte sie die Treppe herunter.

Sie bückte sich unter den Handtüchern, die auf der Wäscheleine hingen, die quer durch den großen Raum gespannt war. Früher hatten sie hier so manche Party gefeiert, doch mit den Jahren feierten sie weniger, und auf der selbst gebauten Theke stapelten sich zusammengelegte Handtücher und Bettbezüge. Der ausgestopfte Fuchs an der Wand gegenüber erinnerte sie an die fröhlichen Nächte mit ihren Freunden und Nachbarn. Damals waren die Kinder und die Hecken zu den anderen Gärten noch klein. Das verband. Der tote Fuchs war der Partygag! Ferdinand hatte seine Augen mit kleinen Glühbirnen ausgestattet, ein Kabel gelegt und den Schalter unter der Theke installiert. Drückte er ihn, leuchteten die Augen des Raubtieres rot auf. Was für ein Spaß.

Elisabeth drückte den Schalter – es passierte nichts. Die Glühbirnen waren längst kaputt. Dann wankte sie zum Tier und streichelte sein Fell. Staub stieg ihr in die Nase, sie musste niesen. Dann griff sie vorsichtig in sein Maul – ja, er war da. Der Schlüssel zum Waffenschrank. Ferdinand hatte ihn hier versteckt und es sich nicht verkneifen können, es seiner Frau zu erzählen. Er fand es lustig, dass ausgerechnet ein von ihm erlegtes Tier den Schlüssel zu den tödlichen Waffen verwahrte.

Der Waffenschrank stand im Heizungskeller nebenan. Das Neonlicht spiegelte sich in der schmalen hohen Metalltür, der Schlüssel glitt ins Schloss.

Sie besaß zwar keinen Jagdschein, doch sie wusste, was sie vor sich hatte. Eine Doppelflinte der Marke Merkel 202 und eine Büchse Sauer 80. Mit der Flinte jagte Ferdinand Hasen, Kaninchen, Fasane, Enten und Rehe. Mit der Büchse ging er auf Wildschwein, Fuchs, Hirsch. Elisabeth stellte sich vor, wie der Vereinsvorsitzende aussehen würde, wenn er ein Wildschweingesicht hätte, oder wie Ferdinand mit Entenfüßen gehen würde – sie lachte und rief: »Waidmannsheil!« Im Kellerflur hallte das Echo ihrer schrillen Stimme nach.

»Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe«, Elisabeths Gesicht war nass von Tränen. »Ich fühlte mich so stark und war so wütend, da bin ich einfach los.«

Die Nacht, in der Elisabeth Upphoff mit den Jagdgewehren auf ihrem Rücken in den Gasthof König marschierte, war die großartigste Nacht im Leben von Tim Möcke. Der Zehnjährige wohnte mit seinem Hamster Manni, Mama und Papa in dem Haus direkt gegenüber der Gaststätte. Er hatte den besten Beobachtungsposten, den man sich denken konnte. Und obwohl er selbst nicht in der Schützenversammlung saß, gehörte er später zu den wichtigsten Zeugen in Sachen »Beinahe-Amoklauf«, davon war er überzeugt. Seine Aussage hatte er auf einen Zettel geschrieben, ihn fünfmal gefaltet und in die Kiste gelegt, in der er alles aufhob, was wichtig war. Seinen ersten ausgefallenen Milchzahn, einen Kompass, einen Stein, mit dem er zaubern konnte, und seinen selbst gebastelten Detektivausweis. Jeden Abend faltete er den Zettel auseinander und las.

Meine Zeugenaussage
Ich wollte ja wirklich schlafen, aber es ging nicht. Und dann schaue ich immer raus. Mein Fenster ist direkt neben meinem Bett, und ich muss mich nur hinknien, dann sehe ich alles. Ich finde es schön, wenn im Gasthof König Leute sitzen, dann leuchten die Fenster, und ich kann sehen, wie die da drinnen sich unterhalten und lachen. Aber hören kann ich nichts. An diesem komischen Abend kam die Frau, die ich schon öfter beim Einkaufen getroffen habe und die mir da immer so doof über meine Haare gestreichelt hat, die kam da lang. Sie ging ganz komisch, wackelte, wie wenn einem schwindelig ist nach dem Karussellfahren. Sie hatte auf dem Rücken zwei Gewehre, das konnte ich genau erkennen, und einen Patronengürtel um die Hüften. Sah irgendwie cool aus. Dann hat sie die Tür von Königs aufgemacht, und ich konnte sie einen Moment lang nicht sehen. Das war alles so spannend, und ich wusste ja, dass Mama und Papa fernsehen. Also bin ich einfach barfuß und im Schlafanzug nach unten geschlichen und rüber zum Gasthaus. Da kann man super durch die Fenster schauen, und da habe ich gesehen, wie sie rein ist in den großen Raum, wo die vielen Männer drin saßen. Und die haben alle plötzlich aufgehört, sich zu bewegen – die haben alle zu der Frau geschaut. Ganz komisch sahen die aus, weil die so weiß im Gesicht wurden. Und die Frau hat dann ein Gewehr runtergenommen von dem Rücken und so angelegt, wie wenn man schießen will. Sie hat gezielt. Dann wäre ich beinahe vor Lachen umgefallen, denn der eine von den Männern, der hat Pipi in seine Hose gemacht. Da war so ein Fleck und eine Pfütze unter dem Tisch. Und dann passierte schon das Nächste. Die Frau kippte um. Das sah so aus, wie wenn ich mit meinem Freund Jan Stuntman spiele. Dann lassen wir uns auch immer so fallen. Sie lag dann da, und alle bewegten sich plötzlich wieder. Die meisten rannten erst einmal raus aus dem großen Raum. Ein Mann blieb aber bei der Frau stehen und kniete sich hin. Die Frau schlief, aber der Mann, der schaute sich die Waffen ganz genau an. Und er machte sie auf und wieder zu. Dann hörte ich auch schon die Polizei, und ich musste ganz schön schnell laufen. Aber die haben mich nicht erwischt und konnten Mama und Papa nicht erzählen, dass ich mich draußen rumgetrieben habe.

»Nie werde ich vergessen, wie mich alle angesehen haben. Da hat keiner geschrien. Sie hatten solche Angst, dass ihnen jeder Schrei im Halse stecken blieb. Vor mir, ausgerechnet vor mir hatten die Angst. Der Vorsitzende, die anderen Männer, alle hatten sie mich ausgelacht, sie hatten mich verhöhnt. Jetzt saßen sie da und glaubten, ich würde sie totschießen.« Elisabeth Upphoff sprach laut.

»Aber Sie waren betrunken, die Polizei sagt, die Waffen waren nicht geladen, also wollten Sie doch gar nicht schießen?«

Elisabeth Upphoff blickte Viktoria durch einen Tränenschleier an. »Doch«, sagte sie sehr langsam. »Ich wollte. Ich hätte gerne gesehen, wie sie allesamt in ihrem eigenen Blut verrecken.«

Als sie im Wagen saßen, waren sie ganz still.

»Krass«, sagte Mario. Dann prustete er los.

»Was für ein Wahnsinn, Victory. Diese Spitzendeckchennummer ist unglaublich. Woher wusstest du, dass sie die Teile nicht leiden kann? Du hast sie damit echt geknackt!«

»Instinkt«, log Viktoria.

Er lachte. »Mann, hast du so was Dämliches schon mal gehört? Da häkelt die Olle sich die Finger wund, nur weil der Ehegatte das so gemütlich findet. Unglaublich, oder?«

»Ja, wirklich total unglaublich.« Viktoria lächelte lahm und schaute geradeaus, ohne etwas zu sehen. Sie hatte nicht für Konstantin gehäkelt, sie hatte Gefährliche Geliebte irgendwo locker aufgeschlagen, obwohl sie nicht über die erste Seite hinausgekommen war.

Sie steckte den Zettel mit den Notizen in ihre Tasche. Dass auf der Vorderseite des Briefbogens unter den Kniffeltabellen das Wasserzeichen eines hässlichen Bibers schimmerte, sah sie nicht.