2. Kapitel

 

Am nächsten Morgen wartete Mario Siewers schon an der Theke des Gasthofs König, als Viktoria mit Halsschmerzen, dem pinkfarbenen Pulli, der schwarzen Leinenhose und müden Augen die Treppe herunterkam. Er war der beste Fotograf, den der Express hatte. Vielleicht auch einfach nur der skrupelloseste.

»Morgen, Victory! Du siehst ja vielleicht fertig aus. Schlecht geschlafen?«

Ihr war nicht nach Morgenstund’ hat Gold im Mund. »Ja, ich hab schlecht geschlafen«, knurrte sie.

Im gleichen Moment kam aus einer Schwingtür hinter der Theke eine Frau. Mitte fünfzig, rotes Gesicht, breiter Hintern und eine Kittelschürze mit rosa Blumenmuster am Leib, die bestenfalls in den Sechzigerjahren frei zum Verkauf stand.

»War was nicht in Ordnung mit dem Zimmer?!«, fragte die Frau ohne Regung im Gesicht, dafür aber mit leicht schnippischem Unterton.

»Nee, nee. Alles klar. Lag an mir selbst. Schlafe eben schlecht.« Viktoria nuschelte in Richtung rosa Kittelschürze.

»Ach, junge Frau, das ist übel. Mein Harry kann auch immer so schlecht einschlafen. Und wenn dann doch mal, dann schnarcht er ganz furchtbar, manchmal hört er sogar ganz auf zu atmen. Die Hölle ist das. Dabei liegt es oft nur an einer schlechten Verdauung. Passen Sie bloß auf, dass das nicht chronisch wird bei Ihnen. Und essen Sie nie zu viele Zwiebeln.«

»Ja, danke. Tu ich nicht.« Na prima, Viktoria war genervt. Blähungen am frühen Morgen. Muss das denn sein?

»Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber was machen Sie eigentlich hier? Ich meine, dass so eine moderne, junge Dame aus Berlin ausgerechnet in unser Gasthaus kommt, ist ja schon was Besonderes. Aber mein Harry hat Sie wohl gestern Abend nicht gefragt, er traut sich immer nicht so recht. Sagte nur, dass Sie mit dem Zug angereist sind. Und dass Sie aus der Hauptstadt kommen. Ist ja eher so ein ruhiger Typ, mein Harry.«

»Ja, das ist er. Der Harry.« Schade, dass Harry nicht da ist und mich anschweigt, dachte Viktoria.

Mario verdrehte die Augen, er saß mit dem Rücken zur Rosa-Kittel-Frau. Doch auch vor ihm machte sie nicht halt.

»Ja, und jetzt sind Sie auch noch aus Berlin angekommen«, sagte sie und deutete mit ihrem Zeigefinger auf seinen Rücken. »Habe ich am Kennzeichen erkannt. Was ist das eigentlich da draußen, ein Porsche?«

»Das ist ein Fiat Barchetta«, murrte Mario, ohne sich umzudrehen.

Die Frau gab nicht auf. »Mit dem ist man ja schnell von Berlin hier bei uns. Wie lange fährt man da eigentlich?«

»Eine knappe halbe Stunde!«, sagte Mario, der genau vier Stunden und dreizehn Minuten gebraucht hatte. Viktoria blickte vorsichtig Richtung Kittelschürze. Ob sie jetzt sauer werden würde, weil Mario sie so offensichtlich aufzog?

Doch sie blieb ganz ruhig. »Ja, stimmt. Ist ja nicht weit«, sagte sie und putzte Biergläser. Sie grübelt bestimmt darüber nach, ob der Typ mit dem schnellen Auto ein Angeber, ein Dummkopf oder einfach nur ein arroganter Großstädter ist, dachte Viktoria und zog Mario am Ellbogen vom Barhocker zu dem derben Eichentisch, der in einer der von noch derberen Eichenbalken abgetrennten Nischen stand.

»Willkommen auf dem Lande«, sagte sie.

»Wohl eher in der Hölle«, erwiderte Mario und blinzelte Richtung Wirtin, die mit gesenktem Blick immer noch die Gläser putzte. »Haben die hier alle so rote Köpfe?«

»Mario!«

»Richtig trendy sind sie hier. Guck mal, der Kittel hat dieselbe Farbe wie dein Pulli. Okay, das Blumenmuster ist ein bisschen gewagter als dein lahmes Ding – aber rosa ist rosa – und das ist en vogue

»Eben nicht, du Penner. Mein Pulli ist pink, die Kittelfrau ist eindeutig rosa.«

»Ja, das stimmt. Sogar Ganzkörper-Rosa! Ob die Farbe in ihrem Gesicht von Douglas ist? Rosé de Province pour la Landpommeranzé.«

Viktoria lächelte mild. Mit Mario konnte man herrlich lästern.

»Aber jetzt mal ernsthaft, Victory. Was ist das wieder für ein bescheuerter Auftrag, den uns der Alte da gegeben hat? Gestern sollte ich noch bis zur letzten Minute Tom Cruise vor dem Borchardts auflauern, statt nett mit dir im Zug zu sitzen. Ich hasse es, müde im Auto zu fahren. Und das nur, um dieses fucking Schützenfestamokding zu machen.«

Viktoria lächelte immer noch. »Ja, so isser, unser Chef. Gradlinig, vorhersehbar und ein Arsch. Willst du auch ein Frühstück?«

Nachdem Harrys rosa Frau wortlos helle Brötchen, zwei Scheiben Käse, ein kleines Töpfchen Erdbeermarmelade, ganz fein geschnittenen Schinken und eine große Kanne Kaffee gebracht hatte, wurde Viktoria langsam munterer und erzählte Mario von dem Amoklauf, der eigentlich gar keiner war. »Wir sollen so eine Provinzschmonzette machen«, sagte sie und blickte dabei versonnen auf die Kittelschürze von Harrys Gattin.

Mario las die zerknitterte Agenturmeldung. Er gähnte.

Sie senkte die Stimme. »Und es gibt noch etwas …«

»Ich hoffe, das ist aufregender als das hier«, Mario ließ die Meldung auf den Tisch segeln.

»Der Chef denkt, dass wir hier die Ratte vom Müggelsee finden. Erinnerst du dich?«

»Du meinst den Neujahrsmord? Der seltsame Bekennerbrief mit dem Wasserzeichen, der neben Schneewittchens Leiche lag?«

»Genau den meine ich. Und jetzt kommt’s …«

»Victory, mach es nicht so spannend.«

»Die Ratte ist ein Biber, und der Biber ist im Vereinslogo von den Schützenbrüdern, die den Hausfrauenamoklauf überlebt haben.«

»Bist du sicher?«

»Japp!«

»Cool!«

»Genau!«

Dann sprachen sie über den Schützenfestablauf, damit sie keine wichtige Veranstaltung verpassen würden, und Viktoria jammerte über ihre miese Ankunft gestern Nacht in Westbevern.

Von dem Toten mit den wasserblauen Augen, den sie vom Zugfenster aus gesehen hatte, und davon, dass er ihr später, kurz vorm Schlafengehen, noch einmal begegnet war, davon erzählte sie nichts.

Um 23.18 hatte der Zug mit kreischenden Bremsen angehalten. Viktoria war die Einzige, die ausstieg. Ihre Schritte hallten in dem dunklen Fußgängertunnel, ein paar Neonfunzeln flackerten, und Heerscharen von Motten stürzten sich in Todeslust aufs Licht. Auf der anderen Seite der Gleise suchte sie nach gelb-schwarzen Taxischildern – doch alles, was sie sah, war eine gelb-schwarze Katze, die hinter einem leeren Fahrradständer verschwand.

Kein Taxi, kein Problem für Victory. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, um über die Auskunft eines zu rufen. Keine Chance. In Westbevern, so erklärte es ihr ein Stammgast von Harry und der Rosafrau später, in Westbevern habe man mit E-Plus keinen Empfang. Das heißt, hinter dem Koppelkreuz bei Bauer Beuing und auch manchmal vor der Tür der Gaststätte, da ginge es. Aber ob das an der Windrichtung oder an der Luftfeuchtigkeit läge, das wusste er – also der Stammgast von Königs Gasthaus – auch nicht.

So stand sie da, mitten im Funkloch, mitten in der Nacht. Es war inzwischen 23.21 Uhr. Und es war still. Kein Autolärm, kein U-Bahn-Grummeln, keine besoffenen Teenager. Nur ein Vogel erhob seine helle Stimme. »Halt die Fresse und geh pennen!«, motzte Viktoria. Er flatterte hektisch davon. Sie blickte ihm nach. Wolkenberge türmten sich vor dem Halbmond am Himmel, und die ersten drei Tropfen platschten auf ihre rechte Hand, in ihr linkes Auge und auf das nutzlose Handy.

»Shit!«

Sie ging über den Parkplatz, auf dem nur ein einziges Auto stand, und kam auf eine etwas breitere Straße. Dort stand das gelbe Ortsschild, auf dem in schwarzer Schrift Westbevern-Vadrup stand. Geht doch!, dachte sie. Sie zählte ihre Schritte. Eine Reportergewohnheit. Denn, so hat es ihr Charly Berendsen, einer der ganz alten Hasen beim Express, einmal erklärt: »Haste kene Infos, Klene, dann zähl die Schritte von der Leiche bis zur Tür, oder schreib die Farbe des Futternapfes der Katze auf. Det hilft.«

Nach genau fünfhundertdreiundvierzig durchschnittlichen Schrittlängen sah sie das gelbe Ortsschild, auf dem mit roten Querbalken Westbevern-Vadrup durchgestrichen war. Darunter stand: Westbevern-Dorf 3 km. Vadrup, Dorf? Viktoria schnaufte vor Wut. Aus wie vielen Teilen besteht dieses Kaff eigentlich? Inzwischen waren es wohl an die fünfundvierzig Tropfen, die auf ihr gelandet waren. Der Halbmond war hinter den Wolkenbergen verschwunden, Viktoria war ratlos. Sie hatte also Westbevern-Vadrup durchlaufen und außer ein paar düsteren Einfamilienhäusern nichts gesehen. Sollte sie jetzt die drei Kilometer bis Westbevern-Dorf weitermarschieren, in der Hoffnung, dort ihren Gasthof zu finden?

Ein Blitz zuckte am Himmel. Ein astreiner Blitz. Eins, zwei, drei, vier, fünf Sekunden später grollte es. Viktoria drehte um, drei Kilometer waren einfach zu weit, die Füße hätten das ohne Blasen nicht überstanden. Und sie hasste Blasen.

Es war die richtige Entscheidung gewesen. Nach genau hundertzweiundzwanzig Schritten blieb sie stehen. Von rechts kam eine Gestalt. Ein Mann, um die sechzig, schwankend und wankend. Ein guter Wegweiser. Sie ging ihm entgegen, vermied die gleiche Straßenseite und damit seine Alkoholfahne und landete nach achtundsiebzig Schritten vor dem Gasthaus König. Ha, nennt mich Fährtenleserin!, dachte sie. Der Himmel leuchtete, es krachte, und die Wolken schickten ihre nasse Flut zur Erde. Viktoria grinste: Timing ist einfach alles!

Ein kleines beleuchtetes Schild in altdeutscher Schrift mit dem Namen »Gasthaus König« hing über der schweren Eingangstür aus dunklem Holz. Sie drückte die Klinke, betrat den Windfang, öffnete die nächste Tür zur Gaststube und fühlte sich wie Clint Eastwood. Drei Männer saßen mit gebeugtem Rücken an der Theke, alle drei drehten sich um, als sie den Raum betrat. Fette Tropfen schlugen gegen die Fenster, die Tür fiel laut ins Schloss! Es roch nach Rauch und Bierdunst. »Guten Abend! Wer ist denn hier für die Zimmer zuständig?«

»Kundschaft, Harry!«, rief einer der drei, ohne zu antworten. Langsam drehten sich alle wieder um und schauten auf ihre Schnapsgläser vor sich. Unglaublich, dachte sie. Der Wirt heißt Harry! Sie war wirklich in einem Clint-Eastwood-Film gelandet.

»Jaha! Komme gleich!« Dirty Harry war offensichtlich irgendwo im Keller und rief: »Ich dreh jetzt wieder zu, Kai!«

Der angesprochene, aber unsichtbare Kai antwortete von irgendwo unter der Theke: »Geht klar, Harry!«

Die drei Typen rührten sich immer noch nicht. Viktoria stand neben ihrem kleinen schwarzen Rollkoffer im Eingang und schaute sich um. Der Raum war groß, doch durch das Eichenfachwerk, durch die niedrige Decke und die dunklen Fliesen am Boden wirkte alles recht gemütlich – vorausgesetzt, man stand auf rustikale Ausstattung. Rechts an der Wand hingen Jagdtrophäen – bestimmt an die zwanzig kleine Schädel mit Hörnern. Viktoria musste an Bambi denken, mit weichem Fell und süßen Kulleraugen. In der linken Raumhälfte waren vier Nischen mit Tischen und Eckbänken, auf einem Tisch stand ein Klotz mit einem Metallschild, darauf »Stammtisch«. Willkommen im Provinzklischee, dachte Viktoria und lauschte auf Harry, der sich offensichtlich nur langsam die Kellertreppe hochbewegte.

»Na, wird’s denn jetzt noch was?!« Der ganz rechts sitzende Mann an der Theke klang ungeduldig.

Der unsichtbare Kai antwortete: »Bier kannste heute vergessen«, ein kurzes Stöhnen, dann tauchte der Verkünder der schlechten Nachricht aus den Untiefen der Theke hervor und reckte sich. Währenddessen blickte er in Viktorias Richtung, nickte kurz, lächelte und sagte: »Tach!«

Sie nickte ebenfalls und gab ihm innerlich ’ne ordentliche Zwei. Er war groß, hatte einwandfreie Zähne, ein verwaschenes graues T-Shirt an, dunkelblonde Haare, vielleicht ein bisschen zu kurz im Nacken – wirklich, für hier eine echte Überraschung.

Dann sprach er zu den drei Männern vor ihm. »Ich muss Harry ’nen neuen Schlauch besorgen – sonst läuft nix mehr.«

O nein, bitte nicht!, dachte Viktoria. Sie wartete auf das dreckige Lachen der Typen. Nach dieser Vorlage von Kai, der plötzlich nur noch eine Drei minus war, kam der unvermeidbare Spruch: »Bei dem läuft doch schon lange nix mehr, oder warum ist seine Frau immer so zickig?« Har har har! Männer in Gruppen ab drei Exemplaren haben offensichtlich überall den gleichen flachen und versauten Schwachsinnshumor, dachte Viktoria. Alles dreht sich um ihr extrem überschätztes Gemächt! Was für Würste!

Dann kam Harry, der so ganz und gar nicht dirty war. Er lächelte und winkte Viktoria zu sich. »Sie müssen Frau Latell aus Berlin sein«, sagte er, und tiefer Respekt klang in seiner Stimme mit. Auf das dreckige Lachen vom Thekentrio hörte er gar nicht. »Ich hoffe, Sie haben gegessen, die Küche ist schon zu. Und ein frisches Bier kann ich Ihnen leider auch nicht anbieten – die Zapfanlage ist kaputt.«

»Ja, ich weiß, Kai muss erst noch einen neuen Schlauch besorgen«, Viktoria schenkte ihm ihr bezauberndes Siegeslächeln, das ihr schon so manche Tür geöffnet hatte.

Harry reagierte prompt, griff erst nach einem Schlüssel in der Schublade vor ihm und dann nach ihrem Rollkoffer. »Ich bring Sie mal nach oben.« Wieder dreckiges Lachen von der Theke.

»Oh, Harry. Nach oben bringst du sie …«

Harry und Viktoria ignorierten den Spruch.

Der schmächtige, angegraute Wirt mit dem Seitenscheitel ging vorweg. Links neben der L-förmigen Theke war ein langer Flur. Von dort ab führte rechts eine Tür zur Küche. Gegenüber war erst die Herren-, daneben die Damentoilette – ein Mädchen auf einem Töpfchen und ein Männeken Piss aus Kupferimitat wiesen den rechten Weg. Dahinter kam noch eine Tür. Durch deren Glasscheiben sah man einen großen Raum. Mindestens fünfzig Stühle waren an die Wand gestapelt, alles stand voller Tische. Über der Tür hing eine grüne Fahne. In goldener Stickerei stand dort »Schützenverein Westbevern e.V. seit 1780«. Viktoria blieb stehen und las die Buchstaben. Der Biber schimmerte ebenfalls in Gold. Er saß auf seinen Hinterbeinen, die Vorderpfoten sahen aus, als würden sie einen Boxkampf mit der Luft machen, und zwei krumme Nagezähne schauten aus seinem Maul, das zu einem schrägen Grinsen verzogen war. Viktoria hatte keinen Zweifel mehr: Die Müggelsee-Ratte lächelte genauso dämlich wie dieser Provinzbiber.

Sie blickte auf das gewienerte Parkett und stellte sich vor, wie eine riesige Blutlache das Eichenholz dunkelrot einfärbte. Sähe bestimmt nicht ganz so eklig aus wie auf Auslegware, dachte sie. Doch der Geruch, der würde gleich sein. Er war immer gleich. Auf Fliesen, auf Teppich, auf Laminat – wenn Viktoria es mal wieder geschafft hatte, beinahe gleichzeitig mit der Polizei an einem Tatort zu sein, dann roch sie das Blut schon vor der Tür. Es duftete unendlich süß und unglaublich traurig und widerlich. Ein Urinstinkt, der tief in jedem Menschen verwurzelt sein muss, schrie einem geradezu ins Gehirn: »Mach, dass du wegkommst – hier findest du nur Tod und Verderben!«

»Man jewöhnt sich dran«, hatte Charly ihr gesagt. Doch sie gewöhnte sich nicht. Was für ein Glück die Putzfrau hatte, dass die durchgeknallte Hausfrau nicht geschossen hat, dachte sie. Harry drehte sich um: »Morgen ist Schützenfest«, sagte er. »Geh’n Se doch mal hin.«

»Tu ich«, sagte Viktoria. »Tu ich.«

Am Ende des Flurs führte die Treppe im rechten Winkel nach oben, Harry blieb kurz auf der ersten Stufe stehen und zeigte auf die gerahmten Fotos an der Wand. »Alles Majestäten«, sagte er. »Bis hier hoch hängen all unsere Schützenkönige.«

Er ging weiter, und Viktoria folgte ihm langsam. »Alle?«, fragte sie.

»Na ja, alle, von denen es Fotos gibt.«

Tatsächlich. Unter dem ersten Foto stand die Jahreszahl 1930. Darunter: Seine Majestät Hubert I. Der Mann nannte einen gewaltigen Zwirbelschnäuzer sein Eigen, er schaute ernst. Daneben eine Fotografie von August III., 1932. 1933, 1934. Immer wieder ernste Gesichter, immer wieder lachende Gesichter. Erst in Schwarz-Weiß, später in Farbe. Halbglatzen, Seitenscheitel, Pomade, Vollbart, frisch rasiert, jung, alt, mittelalt. Triumphierende Blicke, schüchterne Blicke, traurige Blicke, fröhliche Blicke, Viktoria lächelte – und plötzlich sah sie in wasserblaue Augen, die sie kannte.

In ihren Schläfen pochte ihr Puls wie eine Bongo-Trommel. Sie atmete tief durch. Da war er – der Mann aus dem Traum. Und wieder blickte er sie an. Mit seinen wasserblauen Augen. Die blonden Haare fielen ihm hübsch ins Gesicht, er grinste frech. Unter dem Foto die Jahreszahl und der Name: 1976, Seine Majestät Bernie I. Sie spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Das konnte nicht sein!

»Frau Latell? Kommen Sie?«

Viktoria nahm die letzten Stufen. Harry stand schon vor ihrem Zimmer mit der Nummer 11 und sah besorgt aus.

»Sie sind ja ganz blass. Haben Sie gerade ein Gespenst gesehen?«

»Ja, irgendwie schon. Aber das war wohl eher ein Déjà-vu«, sagte sie und lächelte schief.

Harry nickte ernst und gab ihr den Schlüssel. »Dann schlafen Sie mal gut.« Als er durch den Flur davonschlurfte, schüttelte er den Kopf und murmelte leise: »Deschawas!? Seltsame Krankheit. Na ja, Großstädter eben.«

Viktoria mochte Harry.