15. Kapitel

 

Viktorias Kopf reichte nicht für all die Gedanken, er schwoll an, blies sich auf wie ein Ballon, gleich würde er platzen. Doch Bilder kamen an, die sendete das Gehirn an ihr Bewusstsein. Wie in einem Sieb blieben sie hängen und legten sich zu einem Mosaik zusammen. Es ergab sich etwas, ein Gefühl, ein Zusammenhang, etwas aus ihrem Leben, das sehr alt, sehr verschüttet, sehr traurig war.

Kalt war es gewesen, und sie war müde. Sie hatte immer wieder Mamas Hand gesucht, doch Mamas Hand hatte anderes zu tun. Die tastete nach Zigaretten, nach Feuer. Der Zug kam. Er kreischte, schrie, sie hielt sich ihre Ohren zu. Der Zug hielt. Die Türen öffneten sich nicht automatisch, ihre Mutter musste an dem großen Griff zerren. Die Zigarette, die Mama weggeworfen hatte, lag auf dem Bahnsteig, und sie konnte die Glut und den Rauch noch durch die schließende Tür sehen, als sie abfuhren. Rumms. Sie setzten sich, alle Plätze waren frei. Sie fühlte das kühle Glas des Fensters an ihrer Stirn. Immer wenn sie Luft aus dem Mund blies, beschlug die Scheibe. Sie leckte mit der Zunge daran – es schmeckte nach gar nichts. Mama sagte nicht, dass sie damit aufhören sollte, deshalb leckte sie weiter.

Es war unerträglich heiß im Auto, doch Viktoria merkte es nicht. Sie schaute nur nach vorn. Auf die Wiese, die Straße. Sie sah wieder das Kreuz, den Jesus, dessen Fuß sie schon als Kind gestreichelt hatte. Sie bremste und rollte ganz langsam vor dem alten Haus aus, in dem einst Bernhard Lütkehaus gelebt hatte. Sie wusste nicht, was sie eigentlich hier wollte. Sie musste einfach herkommen, sie musste die Kopfbilder wieder ganz bekommen. Das Mosaik aus Vergangenheit und Gegenwart musste passen, sonst würde sie daran verrückt werden. Sie stieg aus. Der Hund schlief. Sie ging leise zur Haustür. Klopfte. Dieses Mal nur einmal. Dann ging sie weiter. Wie ein Roboter, fremdgesteuert. Bis sie vor dem Baum stand. Der Baum war tot, so tot wie Bernhard Lütkehaus, dachte sie. Sie schaute zum Bahndamm. Plötzlich spürte sie seinen Atem in ihrem schweißnassen Nacken. Sie wollte schreien, doch er packte sie am Arm, drückte ihr den Mund zu und zischte: »Psssst.« Viktoria schloss die Augen. Neue Bilder kamen.

Sie schmeckte nichts, dabei war die Scheibe so kühl wie ein Vanilleeis. Sie hauchte wieder, und dann leckte sie. Bis sie wieder durch die Scheibe sehen konnte. Sie konnte alles sehen. Wie er da hing, wie weiß er im Gesicht war, wie er hin und her pendelte. Dann waren sie vorbei. »Mama, warum hing Bernie?« Sie suchte wieder nach der Hand der Mutter. Die hielt keine Zigarette, kein Feuer – sie war eiskalt. »Mama!« Doch Mama nahm nicht ihre kleine Hand in ihre große Hand. Sie sagte nichts. Sie schaute geradeaus. Sie war so weiß im Gesicht wie Bernie.

Sie sagte auch später nichts. Nichts, als der Zug in Berlin ankam, nichts, als sie ausstiegen, nichts, als Viktoria nicht einschlafen konnte. Nichts, als sie nachts aufwachte, weil sie von ihm geträumt hatte. Nichts, als sie weinte, nichts, als sie schrie. Sie sagte nichts. Nie. »Pssst.« Still sein, bloß still sein und nichts fragen. Ihre Knie ließen nach. Sie spürte nur noch den festen Griff an ihrem Arm.

»Ich bin’s.« Kais Gesicht war ganz nah an ihrem. Viktoria zitterte am ganzen Leib. »Viktoria, du siehst furchtbar aus.« Das klang nicht nach Teufel, das klang besorgt.

Viktorias Gummibeine bekamen wieder Sehnen und Muskeln, sie riss sich von ihm los. »Verdammt, was machst du hier?«

Er wich einen Schritt zurück, hielt sich den Finger vor die Lippen. »Leise, Viktoria!«

Sie versuchte, leise zu sprechen, doch ihre Stimme überschlug sich fast. »Du warst das gestern Nacht, dich habe ich hier rumschleichen sehen. Und jetzt bist du wieder hier. Du machst mir Angst.«

Er schaute sie an und sah dabei ganz und gar nicht wie einer von den Bösen aus. »Daran bist du schuld«, flüsterte er.

»Ich?« Viktoria verstand gar nichts mehr.

»Ich wollte dir helfen.«

»Tolle Hilfe!«

»Mein Vater war hier früher der Dorfarzt.«

»Ach.« Viktoria verstand immer noch nichts.

»Und eigentlich war jeder bei ihm Patient, der hier wohnte. Ich habe in seinen alten Unterlagen nach einem Totenschein gesucht, weil ich wissen wollte, ob Lütkehaus noch lebt oder nicht, und woran er gestorben ist.«

Viktoria glaubte ihm noch immer nicht. Doch sie entspannte sich etwas. Kai konnte kein Meuchelmörder sein, wenn er sich hier mit ihr unterhielt. Die beiden hockten wie Diebe neben der schattigen Buchenhecke. Sie sprachen ganz leise.

»Hast du ihn gefunden – den Totenschein?«

Kai nickte.

Viktoria wusste nicht, ob sie sich über die Gewissheit freuen sollte. Bernhard Lütkehaus war also wirklich tot. »Hat er sich erhängt?«

Kai schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn darauf?«

Viktoria wollte ihm nicht alles sagen. Noch nicht. Es war ihr Traum oder ihre Vergangenheit. Ganz allein ihr verrückter, durchgeknallter, Splatter-Horror-Trip vom Toten am Baum. »Wann und woran ist er denn laut Totenschein gestorben?«

»Im Juni 1980 an einer Lungenentzündung.«

»Geht das denn, der war doch noch jung damals.«

Kai nickte, murmelte: »Verschleppt«, und erzählte von der seltsamen Quittung. »Warum hat mein Vater eine Rechnung für die Beerdigung eines Patienten bezahlt?«, fragte Kai.

Viktoria zuckte mit den Schultern. »Frag ihn doch!«

»Geht nicht, er ist vor ein paar Monaten gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Schon gut. Auf jeden Fall werde ich bald seine Praxis übernehmen …«

»Du bist gar kein Installateur?«

Kai musste lachen. »Seh ich so aus?«

»Ja. Aber jetzt weiter. Du wirst also die Praxis übernehmen …«

»Und deshalb lagert der ganze Krempel, also seine ganzen Akten, dort. Man muss Krankenakten eigentlich nur zehn Jahre aufbewahren, doch wenn man auf Nummer sicher gehen will, behält man sie dreißig Jahre. Erst dann verfallen nämlich Rechtsansprüche wegen Ärztepfusch und solchen Sachen. Und mein Vater war so ein superkorrekter Mensch, so ein hundertprozentiger, der alles aufbewahrte und immer auf Nummer sicher ging. Ich wollte die Akten eigentlich entsorgen, doch dann kamst du mit deinen komischen Verdächtigungen.«

»Aber dir kommt doch jetzt auch einiges komisch vor, oder?«

Kai seufzte. »Ich habe noch etwas Seltsames gefunden. In der Krankenakte von Martha Lütkehaus.«

Viktoria saß kerzengerade, sie hatte das Gefühl, ihre Ohren hörten besser als sonst, so neugierig war sie. »Erzähl schon, was stand in ihrer Krankenakte?«

»Das fällt unter ärztliche Schweigepflicht. Ich darf es dir nicht sagen.«

Viktoria stöhnte auf: »Ich fass es nicht! Jetzt stell dich doch nicht so an! Raus damit.«

Doch Kai wollte nicht.

»Scheißmoralist«, sagte Viktoria und half ihm. »Pass auf, Kai. Kann es sein, dass du dort etwas gefunden hast, was dich glauben lässt, dass hier in diesem Garten etwas Schlimmes passiert ist? Vielleicht ist hier ein Mann gestorben, und dieser Mann könnte Bernhard Lütkehaus sein, den alle hier für ausgewandert oder durchgebrannt halten, den dein Vater für lungenkrank erklärt hat – und der laut einer rätselhaften Quittung eigentlich in einem anonymen Grab liegen müsste?« Atemlos wartete sie auf seine Antwort.

Er antwortete langsam: »Ich glaube, dass hier irgendetwas ist. Oder war.«

Nachdem Kai in der Praxis seines Vaters die Quittung über die Bestattung gefunden hatte, hatte er sich die Krankenakte von Martha Lütkehaus genauer angeschaut. Er wollte einfach mehr wissen, wollte sichergehen, dass alles in Ordnung war. So hatte er die spitze Schrift seines Vaters Wort für Wort entziffert und die traurige Geschichte der Frau rekonstruiert. Martha Lütkehaus hatte viel ertragen müssen. Drei Fehlgeburten, in den Jahren 1971, 1974, 1976, die letzte hatte sie zu Hause erlitten und den Arzt erst sehr spät gerufen. Dabei wäre sie beinahe gestorben, der Blutverlust war enorm gewesen. Dann stieß er auf einen Eintrag aus dem Jahre 1980. Mit seiner spitzen Schrift hatte der Vater eingetragen: »15. Juni, M. Lütkehaus leidet unter Schlaflosigkeit und Wahnvorstellungen – spricht wiederholt von Grab unter Eiche in ihrem Garten, sagt immer wieder: ›Er will nicht schlafen, er will weg.‹ Empfehle Behandlung mit leichtem Schlafmittel und Baldrian.« »Depression« stand dort mit einem Fragezeichen. Das alles war schon seltsam genug. Doch noch seltsamer war das Datum der letzten Eintragung. Martha Lütkehaus hatte mit ihrem Hausarzt am 13. Juni 1980 über ein Grab in ihrem Garten gesprochen. Zwei Tage später starb ihr Mann laut Totenschein.

Viktoria wusste, dass es vorerst nicht mehr Antworten von Kai geben würde. Also wollte sie handeln. »Okay, Dr. Kai. Dann halte dich mal an dein bescheuertes Schweigegelübde und lass uns einen auf Totengräber machen.« Sie klang mutiger, als sie sich fühlte.

»Jetzt? Am helllichten Tag?«

Kai gefiel die Idee ganz und gar nicht. »Klar, da sehen wir doch besser«, Viktoria blinzelte ihm zu.

Der Hundezwinger und das Haus von Martha Lütkehaus lagen gut sechzig Meter von diesem Teil des Gartens entfernt. Sie schauten sich um. Unter der Eiche war weicher Rasen, nichts, was auch nur im Entferntesten wie ein Grab aussah. Aber nach dreißig Jahren konnte über alles Gras wachsen, Viktoria musste beinahe lächeln. Etwa fünf Meter rechts begann der Gemüsegarten. Viktoria erkannte Tomatenranken, ein paar Salatköpfe. Sie gingen um den Baum herum. Da, hinter dem Baum wucherten ein paar Pflanzen mit großen Blättern, der Gewitterregen von vorgestern hatte sie platt gedrückt, sie bedeckten eine ein mal zwei Meter große Fläche.

»Was ist das?«, fragte Viktoria. »Auch Salat?«

Kai schüttelte den Kopf. »Frauenmantel.«

Nachdem sich Elisabeth Upphoff an diesem Morgen auf die Waage gestellt hatte, dachte sie über eine Alternative nach. Wenn sie weiterhin so viel abnehmen würde, würde sie in einem Jahr nicht mehr vorhanden sein. Null Kilo! Nicht mal beerdigen müsste Ferdinand sie, sie wäre ja nicht da. Weggehungert, weggestorben, es Ruhe sanft die in Luft aufgelöste Elisabeth Upphoff. Als ihr Magen knurrte, weil sie Hunger hatte, verwarf sie die Idee. Sie schmierte sich eine Leberwurststulle, biss hinein und suchte weiter. Irgendwo musste Ferdinand den Schlüssel für seinen Waffenschrank ja haben. Sie hätte ihm zugetraut, dass er ihn wieder in das spitze Maul des Fuchses legen würde, doch die Geldstrafe und die Gardinenpredigt der Polizei hatten offensichtlich gewirkt. Sie fühlte die verstaubten Raubtierzähne, sonst nichts. Ferdinand musste den Schlüssel zu seinen Gewehren unerreichbar für eine andere Person aufbewahren, so verlangte es das Gesetz, und daran würde er sich jetzt halten. Das Leberwurstbrot lag zerkaut in ihrem Magen und fühlte sich an wie ein Wackerstein. Elisabeth musste an die sieben Geißlein denken, die dem bösen Wolf schwere Steine in den Bauch stopften, damit er nicht merkte, dass die Zicklein, die er verschlungen hatte, allesamt gerettet waren. Mich rettet keiner mehr, dachte Elisabeth und schaute in der Wohnzimmeruhr nach. In einer Standuhr wie dieser hatte sich das kleinste Geißlein aus dem Märchen versteckt, doch ihre Uhr war leer. Keine Ziege, kein Schlüssel. Elisabeth schaute auf die Digitalanzeige an ihrem DVD-Player, verglich die Zeiten und rückte den großen Zeiger zwei Minuten vor, der Leberwurstgeschmack hatte sich in ihrem Mund breitgemacht. Sie musste aufstoßen. Als sie die Uhrentür zuklappte, wusste sie, wo sie suchen musste.

»Ich glaube, wir gehen besser«, sagte Kai und blickte Viktoria ratlos an.

Viktoria schüttelte den Kopf, sie blinzelte, bückte sich, schob den Frauenmantel auseinander. Dann sah sie etwas funkeln. Sie kniete sich hin – ein flacher, fast weißer Stein lag dort zwischen all dem Grün mit einem noch kleinen Kupferkreuz darauf, und auf dem Kreuz glitzerten ein paar rote, grüne und blaue Perlen. »Ein Grabstein?«

Kai kam näher. Er schaute zum Haus. »Na, dann los!«

Viktoria nahm das Kreuz und den Stein, legte beides zur Seite und krempelte ihre Ärmel hoch, Kai tat dasselbe. Und dann gruben sie mit ihren bloßen Händen. Sie sprachen nicht, sie sahen sich nicht an, sie schwitzten. Weil es anstrengend war und weil sie Angst hatten vor dem, was sie finden würden. Kai schaute sich um und stand auf. Neben dem Zwinger war ein kleiner Unterstand, vielleicht könnte er dort Werkzeug finden. Leise schlich er in die Nähe des schlafenden Rottweilers. Der zuckte kurz, öffnete die Augen und schlief weiter. Im Haus von Martha Lütkehaus rührte sich immer noch nichts. Kai nahm den Spaten und ging zurück zu Viktoria, die noch immer am Boden kniete. Trotz des Spatens kamen sie nur mühsam voran. Die Frauenmantelpflanzen hatten sie vorsichtig beiseitegelegt, damit sie sie nachher wieder an ihre ursprüngliche Stelle pflanzen konnten. Darunter war schwarzer, weicher Mutterboden. Sie gruben weiter und weiter. Die ausgehobene Erde wuchs zu einem kleinen Hügel heran, Spatenstich um Spatenstich, Zentimeter um Zentimeter. Und plötzlich hatte der Haufen eine Spitze.

Viktorias Stimme überschlug sich: »Was ist das?«

Kai schaute auf. Er stieß den Spaten in die Erde, schritt zum Erdhügel und bückte sich. Er nahm das Ding, das wie ein Ast oben aus den schwarzen Klumpen ragte, in seine Hände. »Das ist ein Knochen!« Kai sagte es ganz ohne Emotion.

Viktoria konnte kaum sprechen, so rau war ihre Stimme. »Ein kleines Stück von einem Knochen, oder?«

»Nein«, sagte Kai. »Ist alles dran. Sieht aus wie der Oberarmknochen eines Babys.«