17. Kapitel

 

Viktorias Stimme war trocken wie Puder. »Mama, hat Bernhard Lütkehaus mir gezeigt, wie man Mäuse zaubert?«

»Mist!«

»Mama, hat er?«

»Tori, es tut mir leid!«

Viktoria sprach lauter: »Hat er mir beigebracht, wie ich Mäuse zaubere? Verdammt, verarsch mich nicht. Sag es mir!«

»Ja.«

»Ja?« Viktorias Stimme zitterte.

»Tori, jetzt beruhig dich erst mal.«

»Habe ich ihn hängen sehen?«

Marie Latell flüsterte: »Tori …«

»Fuck! Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn hängen sehen. Und du hast nichts gesagt. Nichts!«

Marie weinte.

»Hör auf zu flennen! Du verdammte Lügnerin!« Viktoria blieb hart. »Du warst hier. Zum Arbeiten ja und zum Ficken. Du hast ihn rumgekriegt. Und du bist abgehauen.«

»Ja, aber …«

»Nichts aber. Du hast ihn verlassen. Und er hat sich umgebracht.«

»Ja.«

Viktoria brüllte: »Mehr nicht. Nur ja? Ich war drei Jahre alt. Ich habe einen Toten gesehen, und du hast so getan, als wäre ich bescheuert. Wie dumm von ihm, dass er sich wegen so einer wie dir erhängt hat. Wie dumm!«

»Er war nicht dumm.«

Viktoria klappte das Handy zu.

Marie sprach trotzdem weiter: »Er hat es wegen dir getan. Dich hat er geliebt, nur dich. Dein Vater hat dich so sehr geliebt …« Dann legte Marie Latell ganz vorsichtig auf.

Sie versuchte, die Fliesen zu zählen. Von links nach rechts, die erste war dunkelrot, fast schon braun, die nächste weiß, dann wieder dunkelrot. Dunkelrot wie Ochsenblut, dachte sie. Ochsenblut ist dunkelrot und schlecht von alten Dielen abzubekommen. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie wollte sich nicht konzentrieren. Viktoria hatte Angst. Angst vor der Wahrheit. Zählen, dachte sie, zählen. Eine Fliese, zwei Fliesen, dunkelrot wie Ochsenblut.

»Wann kommen sie?« Ganz leise hatte sie gesprochen, es war weniger als ein Flüstern.

»Wer kommt?«, Viktoria sprach genauso leise.

»Die Polizei …«

Sie schaute auf den Koffer, der neben Martha Lütkehaus auf dem Fliesenboden stand. Er war aus Leder, aus braunem Leder. Nicht groß, vierzig mal dreißig Zentimeter. Kompakter als mein Rollkoffer, dachte sie. Und viel älter. Vielleicht hatte sie ihn zu ihrer Hochzeit bekommen. Zu ihrer Hochzeit mit dem Geliebten meiner Mutter, dachte Viktoria. Weiße Fliese, Ochsenblut-Fliese, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Der Koffer würde gut als Handgepäck durchgehen. Sehr praktisch, nie wieder am Gepäckband warten: »Hat er sich wegen Mama umgebracht?« Viktoria schaute Martha Lütkehaus nicht an. Sie fürchtete sich vor der Antwort.

Ihre knorrigen Hände lagen ganz ruhig auf dem Tisch, fast wie zu einem Gebet gefaltet. Ihr Rücken war krumm, ihr hagerer Körper zusammengesunken, sie sah furchtbar zerknittert aus. Hutzelzwergin, dachte Viktoria.

Das schwarze Kleid war an einigen Stellen ausgebessert, die grauen Haare waren zu einem Dutt gebunden, ihren Blick hatte sie gesenkt, sie konnte höchstens die vergilbte Tischdecke sehen – Viktoria schaute sie nicht an. Ein kleiner, durchsichtiger Fleck breitete sich auf dem Stoff unter ihrem Gesicht aus. Eine Träne. Plötzlich schien irgendetwas ihren ganzen Körper zu schütteln. Sie zuckte, dann sah sie auf. Salzwasser in ihren Augen.

»Hat er sich wegen Mama umgebracht?« Viktoria fragte noch einmal mit brüchiger Stimme. Martha schluchzte, statt zu antworten. Dann, als sei sie plötzlich aufgewacht, richtete sie sich gerade auf und begann, zu sprechen. Von ihrem Mann und Viktorias Vater.

»Deine Mutter.« Martha spuckte die Worte beinahe aus. »Sie hat ihn kaputt gemacht, sie war schuld.«

Viktoria schaute durch das Fenster in die Ferne. »Ich habe ihn gesehen, am Baum. Er hing da und baumelte hin und her. Ich habe ihn gesehen …« Sie wurde leiser. »Ich war doch noch so klein!«

Martha schaute sie traurig an, fast mitleidig.

»Was ist passiert? Damals. Was ist mit ihm passiert? Warum ist er tot, warum habe ich ihn so gesehen, warum hat mich niemand beschützt?« Eins, zwei, drei, vier, weiß, ochsenblutrot, weiß, ticktack, ticktack. Sie zählte, hörte, zählte, um nicht verrückt zu werden. Ihr Kopf wollte explodieren, sie konnte die Dinge nicht einordnen, es kam ihr vor, als würden ihre Gehirnzellen in altem Slime hilflos umherpaddeln. Nur eines wusste sie. Der Traum war kein Traum. Sie hatte Bernhard Lütkehaus am Baum hängend gesehen. Sie hatte ihn genauso gesehen, wie sie das Loch unter dem Fuß des Jesus am Kreuz gefühlt hatte, sie hatte seine Leiche im Wind schaukeln sehen, sie kannte den Baum, an dem das Seil hing, das er sich um seinen Hals gelegt hatte. Sie kannte die kräftigen Hände, die schlaff an dem toten Körper herabhingen. Diese Hände hatten einmal aus einem Taschentuch eine kleine Maus gefaltet, die immer wieder in die Wiese vor ihre Füßen gehüpft war. Ich ertrinke in Slime, in grünem wabernden Slime, dachte sie. Diese klebrige Glibbermasse, die in den Achtzigerjahren bei Kindern so angesagt war. Die Achtziger sind in, dachte sie. Die Achtziger sind wieder in. Ich muss unbedingt meine Nena-Schweißbänder wiederfinden, die liegen noch irgendwo in einer vergessenen Schublade. Der Gedanke tröstete sie, coole Nena-Schweißbänder.

Marthas knorrige Hände, die vorher noch so ruhig dagelegen hatten, als gehörten sie nicht zum Rest des Körpers, begannen zu arbeiten. Ein Fingerringkampf, rechte Hand gegen linke Hand. Einen Sieger würde es nicht geben.

Sie begann mit ihrer Geschichte, die auch Viktorias Geschichte war. Ihre Worte krochen leise und tonlos aus ihrer Kehle. Die Traurigkeit und Müdigkeit in ihrer Stimme dämpfte alles in dieser großen Küche. Die Uhr schien langsamer und leiser zu ticken, die Stickbilder an den Wänden verschwommen vor Viktorias Augen, der Herd, der Wasserkessel darauf, die Fenster – alles war weit entfernt. Die Wände waberten, die Decke drückte nach unten. Im Mittelpunkt dieses unendlichen, dieses verschwommenen Universums saßen die hagere, gebückte Martha Lütkehaus und Viktoria, die sich aufrecht hielt. Doch auch ihre Hände kneteten einander unter der Tischplatte. Noch ein Fingerringkampf ohne Sieger.

Martha und Bernhard hatten einander am 3. Mai 1970 kennengelernt. An diesem Donnerstag, es war einundzwanzig Grad warm, der Himmel war hellblau, kam Bernhard auf den Hof der Bauern Schulte, um ihnen ein Angebot für einen Traktor zu machen. Die Schultes hatten Bernhard erwartet. Er hatte gerade seine Lehre zum Landmaschinenschlosser beendet und arbeitete seit ein paar Wochen bei Landmaschinen-Bessing in Warendorf. Sein Chef, Friedrich Bessing senior, war froh, den Jungen eingestellt zu haben. Er hatte Vorbehalte gehabt, denn Bernhard Lütkehaus war frech und hübsch. Dass er gerade erst neunzehn geworden war, konnte man zwar sehen – der zarte Bartflaum auf seiner Oberlippe verriet alles –, doch seine Art, sich geschmeidig zu bewegen, zu sprechen, seinem Gegenüber direkt in die Augen zu schauen, der feste Händedruck – all das hatte nichts von einem Halbstarken. Keine übertriebenen Gesten, keine linkischen Bewegungen. Bernhard Lütkehaus war sich seiner sicher. Er wusste offensichtlich, dass er überdurchschnittlich gut aussah – breites Kreuz, sehniger Körper, strahlend blaue Augen, blonde Haare, markante Nase –, er wusste, dass er überdurchschnittlich flink im Kopf war. Und Friedrich Bessing senior war nicht sicher, ob seinen Kunden – überwiegend Landwirte aus Warendorfs Umland, knurrig, wortkarg, westfälisch – das gefallen würde. Bernhard sollte erst einmal zur Probe arbeiten, danach würde man sehen.

Nach drei Tagen hatte der junge Mitarbeiter seinen ersten Traktor verkauft. Zufallstreffer, lästerten die älteren Kollegen. Es folgte ein Fahr M 88 S, ein Mähdrescher, ein dicker Fisch. Lütkehaus bekam seinen Vertrag, ein ordentliches Gehalt und das Versprechen, schon bald am Umsatz beteiligt zu werden.

Bernhards Verkaufsstrategie war genial: Er verzichtete auf jegliche Strategie. Er hörte zu, was die Interessenten wollten, und bot ihnen nur genau das an. Er überredete niemanden, sondern gab Auskunft. Er machte der Landwirtin keine Komplimente über den gepflegten Garten, und mit dem Bauern redete er nicht über das launische Wetter. Er hatte Ahnung, er kannte jedes kleinste technische Detail des Produkts, er wusste genau, welche Maschine zu wem passte, und er bremste verkaufswütige Großmaschinenfans, die sich gerne von XXL-Rädern und Rekord-PS-Zahlen blenden ließen, um sie vor einer Fehlinvestition zu bewahren. Er war sachlich, sein Aussehen musste an Nettigkeit reichen.

Schultes waren begeistert von seiner Kenntnis und seiner Geduld. Sie hatten Sorge, dass der Traktorkauf sie finanziell ruinieren könnte, deshalb waren sie besonders vorsichtig und wogen jedes Kaufargument ab. Bernhard begriff allerdings schnell, dass nicht Herr oder Frau Schulte entscheiden würde, ob es ein Fendt, McCormick oder ein Deutz werden würde. Die einzige Tochter Martha hatte auf dem Schultenhof das Sagen – auch wenn sie an diesem schönen, warmen Tag sehr wenig sagte.

Es waren ihre ernsten Augen und die Art, wie sie ihren Rücken gerade hielt, die Bernhard faszinierten. Als sie den Verkaufsvertrag überflog und ihn nach jeder Seite anschaute, als könne sie so herausfinden, ob er es gut mit ihnen meinte oder ob er ein windiger Geschäftemacher sei, bekam er Herzklopfen. Sie trug nur einen einfachen dunkelblauen Arbeitskittel, doch sie sah darin aus wie eine dieser Frauen aus den Schwarz-Weiß-Filmen der Vierzigerjahre. Elegant. Schlank. Erhaben. Aufregend. Bernhard wusste, dass sie auf ihn herabblickte. Er war zehn Jahre jünger als sie, er war in ihren Augen noch ein Kind. Sie war eine Frau. Eine unnahbare Frau. Und er wollte sie haben. Er wollte diese ernsten Augen strahlen sehen. Vor Liebe zu ihm. Und weil es Bernhard Lütkehaus in die Wiege gelegt war, andere Menschen für sich einzunehmen – weil er so aussah, wie er aussah, und weil er so war, wie er war –, liebte sie ihn schon ein kleines bisschen, als er ihr den Kugelschreiber zum Unterzeichnen des Kaufvertrages über einen Deutz D 4006 mit vierzig PS reichte.

Natürlich musste er in den Tagen darauf immer mal wieder anrufen und vorbeischauen, um die letzten Details des Verkaufs und der Übergabe des Traktors zu regeln. Nach ein paar Wochen fragte er sie ganz nebenbei, ob sie mit ihm zum Schützenball gehen wolle und sie sagte Ja. Ob ihre Augen dabei strahlten, konnte er nicht sehen, denn sie hatte zu Boden geschaut.

Als sie ein paar Monate später in dem kleinen Badezimmer seiner kleinen Wohnung stand, sich ankleidete und ihm sagte, dass sie schwanger sei – da konnte er es sehen. Das Strahlen. Er lag auf dem Bett und betrachtete durch den Türspalt seine aufrechte, schöne, ernste Martha. Obwohl sie sich unbeobachtet fühlte, bewegte sie sich mit einer Anmut, die ihm immer wieder den Atem raubte. Sie hatte so gar nichts von den hübschen Mädchen seines Alters. Die plapperten, malten ihre Lippen rot und nähten ihre Miniröcke noch kürzer, als sie es ohnehin schon waren. Sie zog sich ihren schmalen grauen Rock an, dazu eine weiße Bluse und die schwarzen Schuhe. Dann kämmte sie ihr Haar und steckte es hoch, indem sie ihre schlanken Arme hob und eine Spange geschickt hineinsteckte. Er sah, wie sie sich im Spiegel betrachtete, und hörte kaum, was sie sagte: »Ich glaube, wir bekommen eine Baby.« Es klang, als habe sie nur zu ihrem Spiegelbild gesprochen und nicht mit ihm. Doch als er die Tür aufriss, um sie zu umarmen, konnte er es im Spiegel sehen. Das Strahlen, die Liebe, das Glück. Es war das erste und das letzte Mal, dass er es sah.

Die Blutungen kamen zwei Wochen vor der Hochzeit. Wie hätte man da noch absagen können? All die Gäste, all die Verpflichtungen. Der Saal, das Essen, die Torte, der Pastor, der Blumenschmuck. Was sollte man den Leuten sagen? Wir haben unser Kind verloren, von dem ihr noch nichts wusstet? Was hätte er tun sollen? Sie nicht heiraten, weil sie nicht mehr schwanger war?

Dass sie nicht lächelte, fiel kaum einem auf – sie lächelte ja auch sonst sehr wenig, die ernste Martha. Er spülte mit Bier und Schnaps das Lachen aus seiner Kehle, in dem es sonst stecken geblieben wäre. Dass sie blass war, merkten vor allem die Frauen. »Bist du etwa schwanger?« Ihr Kichern schmerzte in ihrer beider Ohren und Mägen. Die Musik der Drei-Mann-Band hämmerte in ihren Köpfen, in ihrer Hochzeitsnacht erbrach er das Zwiebelfleisch und die Hühnerbouillon, sie drehte ihm den Rücken zu und starrte die Tapete mit den kleinen Rosen an. Weil er nicht wusste, was er sagen sollte oder was er tun konnte, legte er sich vorsichtig neben sie und traute sich nicht, sie zu berühren. Als im Morgengrauen der erste Zug von Münster nach Osnabrück an ihrem kleinen, alten Häuschen vorbeiraste, in dem einmal Marthas Großtante Josefine gewohnt hatte und das jahrelang leer stand, bevor Bernhard und Martha es haben wollten, flüsterte sie: »Du wirst mich verlassen.« Endlich wusste er, was er tun und sagen musste. Er legte seine Arme um seine aufrechte Frau und sagte: »Niemals.« Er hörte ihr Schluchzen und hielt sie noch fester. Er spürte, wie sie bebte, er fühlte, wie sie litt. Das Baby würde nicht geboren werden, es war tot. Er wusste es, er begriff es, aber es tat ihm nicht so weh wie ihr. Er liebte Martha und nicht das Kind, das er nicht kannte, das er nicht in seinen Armen gehalten hatte und das er nicht halten würde. »Niemals«, sagte er. »Niemals werde ich dich verlassen.« Dass er sein Versprechen zehn Jahre später brechen wollte, brach ihm das Genick.