20. Kapitel

 

Elisabeth Upphoff ertappte sich selbst dabei, dass sie fröhlich war. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlte. Ist wohl wie beim Fahrradfahren, dachte sie, das verlernt man auch nie. Sie grinste. Nicht verbittert, nicht zynisch, nein ehrlich gut gelaunt war sie. Sie konnte es nicht vor sich selbst verbergen, der Tanz mit dem komischen Vogel aus Berlin machte ihr Spaß. Nicht, dass er ein guter Tänzer war, er war eher ein begabter Flummi. Nein, es war die Musik, die sie trug, die sie leichter machte, die sie endlich einmal das ganze Elend vergessen ließ. Es war das verschmitzte Lächeln gewesen, mit dem er sie gefragt hatte, ob sie nicht im Hofstaat an seiner Seite sitzen wollte. Verschwörerisch hatte er ihr ins Ohr geflüstert: »Klaus würde sich sicher nicht freuen, wenn Sie Ja sagen und nun doch Schützenkönigin würden.« Sie hatte einfach nicken müssen, hatte das dämliche Gesicht von Kotz-Klaus gesehen, und jetzt tanzte sie und spürte endlich wieder sich selbst.

Die Gewehre lagen im Kofferraum ihres mintgrünen Corsas. Sie hatte die alte karierte Picknickdecke darüber gelegt und dieses Mal die Munition nicht vergessen. Ferdinand ist aber auch wirklich nachlässig, hatte sie gedacht, als sie die Schachteln direkt neben den Waffen entdeckt hatte. Der Corsa stand am Wegesrand gleich neben den Ponyreitern. Auch heute Nacht würde er dort stehen. Gut versteckt hinter einer Hecke. Niemand vom Schützenball wird sehen können, wie sie die Heckklappe öffnen wird. Sie wird durch die Nacht schleichen und dann ins Licht treten. Dieses Mal nüchtern und kühl und mit einer guten Absicht. Sie würde Klaus erst in die Knie zwingen, dann würde sie ihm eines ihrer Gewehre geben. Die Büchse. »Erschieß mich!«, würde sie ihm ins Ohr flüstern. Ganz leise, aber ganz bestimmt. Wenn er sich weigerte, würde sie ihm aus der anderen Waffe eine Ladung Schrot ins Gesicht feuern. Das würde sie ihm sagen. Und das würde sie allen sagen. Ferdinand würde es hören. Und sie würde sich, kurz bevor Klaus abdrückt, noch einmal zu ihm umdrehen und sagen: »Jetzt bist du mich endlich los.« Bumm!

Ein Stuhl krachte auf den Holzboden. Mario hatte zu wild getanzt. Er schrie auf und hielt sich sein Schienbein. Elisabeth musste lachen. Sie hatte schon öfter gelesen, dass viele Menschen vor ihrem sicheren Tod gelöst und fröhlich gewesen sein sollen. Wer hätte gedacht, dass sie wohl auch zu dieser Spezies gehörte?

Mario hüpfte immer noch auf einem Bein und wankte bedrohlich hin und her. Dann ging er zu Boden. Applaus von der Theke, Lachen von den benachbarten Mittänzern und ein Tusch von der Band. Alle sahen auf den langhaarigen Schützenkönig und Elisabeth, doch nur sie sah etwas Kleines, Rundes über das Parkett rollen. Sie bückte sich, hob es auf und erkannte eine schwarze Filmdose, daneben lag ein karierter Zettel. »Hier, Herr Siewers. Den Film brauchen Sie sicher noch.« Mario lachte. Er saß inzwischen auf seinem Hintern und schüttelte seine Haare. »Erst mal, ich bin Mario. Schließlich sind wir jetzt ein Königspaar, meine Liebe. Und zweitens habe ich das letzte Mal vor einer Million Jahren mit einem Film fotografiert. Digital, you know?« Elisabeth knowte es nicht, aber sie wusste, dass etwas Interessantes in der kleinen Dose sein musste, es klapperte darin.

»Du hast sein Lächeln.« Marthas Stimme war plötzlich ganz weich.

»Ich lächle doch gar nicht«, blaffte Viktoria.

»Aber du hast es getan, als du dem kleinen Mädchen eine Maus gezaubert hast. Das hat er dir beigebracht. Er wäre ein so guter … Er war ein so guter Vater.«

»Ein Vater, der sich vor meinen Augen erhängt hat.« Viktoria wollte ihn nicht mögen, schon gar nicht lieben oder um ihn trauern. »Wenn ich es richtig verstanden habe, konnte er sich einfach nicht entscheiden. Er wollte mich nicht verlieren, wollte aber auch nicht mitkommen. Also hat er Schluss gemacht, statt in den Zug zu steigen.«

»Ja, er hat Schluss gemacht.« Martha schaute Viktoria mit sanften Augen an.

Viktoria fühlte sich wieder wie Viktoria. Sie wurde wütend. »Er hat sich verpisst. Hat einfach einen Strick um seinen Hals gelegt und alle Menschen, die ihn liebten, unglücklich gemacht.«

»Ja, er hat alle unglücklich gemacht.« Martha klang immer noch sanft.

Viktoria wurde noch wütender. »Was ist mit Ihnen? Sie müssen doch wütend gewesen sein auf ihn. Er betrügt Sie, kriegt mit einer andern ein Kind, und dann erhängt er sich in Ihrem Garten – damit Sie das Bild auch nie aus Ihrem Kopf bekommen. So wie ich. So wie meine Mutter. Er wollte in unsere Hirne, er wollte sich unsterblich machen. Und ich krieg ihn jetzt nicht mehr raus. Verdammte Scheiße.«

Martha zuckte zusammen. »Es tut mir leid.«

»Wieso tut es Ihnen leid? Er ist schuld. Er hat Schluss gemacht, er hat uns als letzten Gruß seine Leiche präsentiert. Gute Fahrt nach Berlin, tut mir leid, dass ich nicht winken kann.«

Martha stand auf und schlurfte langsam in einen Raum neben der Küche. Viktoria hörte eine Schublade, hörte die Bodendielen knarzen, und dann sah sie die Fotos in Marthas Hand. Martha legte sie ganz vorsichtig vor Viktoria auf den Tisch. Eines neben das andere. Viktoria erkannte ihn sofort. Bernie. Er hielt sie im Arm, es muss kurz nach der Geburt gewesen sein, so klein war sie da noch. Sie an seiner Hand. Im Hintergrund ein See. Dann keine Landschaft, sondern nur zwei Gesichter. Ihres und seines, Wange an Wange, Lachen an Lachen. Martha tippte mit dem Finger auf das Bild. »Sein Lächeln, sag ich doch.«

Viktoria nickte, sprechen konnte sie nicht. Sie strich mit dem Zeigefinger über die Fotos.

»Er hat Schluss gemacht«, sagte Martha. »Aber nicht mit sich selber. Mit mir.«

Viktoria schaute die Alte an.

Martha senkte den Blick und sagte: »Deshalb habe ich ihn gestoßen.«

Elisabeth Upphoff setzte sich an einen der Biertische und schüttete den Inhalt der kleinen Dose auf die weiße Papiertischdecke. Sie wusste sofort, was sie vor sich hatte. Die kleinen Kügelchen waren Munition. Was sollte das? Sie faltete den Zettel, der offensichtlich vorher um die Dose gewickelt worden war, auseinander. Zeugenaussage von Tim Möcke, stand da. Das ist der kleine Frechdachs mit den süßen Locken, dachte sie. Der, der hier vorhin aus dem Zelt gerast ist. Könnte auch mal ein bisschen an seiner Schönschrift arbeiten. Elisabeth las. Und sie begriff. Sie tastete in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Als sie aufstand, sah sie Tim Möckes Eltern beim Foxtrott. Der Junge ist allein zu Hause, dachte sie. Der arme Junge.

Sie hatte sich die Ohren zugehalten. Nichts hören wollte sie von dem, was er sagte. Nichts. Doch Bernhard Lütkehaus nahm in jener Nacht vor fast dreißig Jahren die Hände seiner Frau und hielt sie ganz fest.

»Martha, versteh doch. Ich habe ein Kind und ich kann es nicht alleine lassen.«

»Ich weiß, dass du ein Kind hast.«

»Du weißt …?«

»Für wie dämlich hältst du mich?« Martha riss sich von ihm los. »Ich habe es von Anfang an gewusst. Ich wusste es schon, als ihr es gemacht habt.«

Bernhard starrte sie an. »Du hast nichts gesagt. Wie konntest du, wie hast du …?«

»Wie ich es ertragen habe? Gar nicht! Aber ich bin deine Frau und du bist mein Mann, und daran ändert auch so eine Schlampe nichts. Und auch kein Bastard. Ich hätte es töten sollen, dieses kleine Ding. Ich hätte es tun können, doch leider habe ich es schlafen lassen im Kinderwagen, den diese Püppi hier ständig rumkutschiert hat und einfach so stehen ließ. Hinterm Gasthaus, während sie sich an der Theke von den Männern hat anglotzen lassen. Ich hatte meine Hand schon an dem kleinen Hals – und ich hätte so gerne zugedrückt, so gerne. Jetzt werde ich dafür bestraft, dass ich den Bastard am Leben gelassen habe.«

»Viktoria ist kein Bastard! Sie ist meine Tochter.« Bernhard wurde laut.

»O ja. O ja. Wie gut ich das weiß. Jeden Tag, jede Nacht, jede Sekunde denke ich an nichts anderes.« Martha schrie jetzt auch. »Aber ich denke auch an die Kinder, die ich verloren habe. Die ich nicht bei mir halten konnte. Die deine Kinder waren. Du hast sie ja gleich vergessen.«

»Das stimmt nicht. Aber sie sind nun einmal nicht da.«

»Ja, weil ich nicht in der Lage bin, ein Baby auszutragen.«

»Hör auf damit.« Bernhard griff wieder nach den Händen seiner Frau.

»Womit soll ich aufhören? Zu trauern?«

»Natürlich muss man trauern, wenn man etwas verloren hat. Aber diese Babys, die waren doch nie da. Die haben dich nie angelächelt.«

»Aber dieser kleine Bastard, der lächelt dich an.«

Bernhard sah Martha an. So hatte er sie noch nie angeschaut. So kalt, so entschlossen. Er drehte sich um und zog den Koffer aus der Ecke des Dachbodens heraus. Staub wirbelte auf, Martha sah die einzelnen Körnchen tanzen. Das durfte nicht passieren. Er konnte nicht weggehen. Sie hatte es drei Jahre lang ausgehalten, dass er sie betrog. Sie hatte es jetzt wieder ausgehalten, die Angst, dass sie das Baby verlor. Doch es lebte, man konnte sogar schon ihren kleinen Bauch sehen, doch keiner hatte es gemerkt. Sie hatte es versteckt, ihr Wunder, das nun doch heranwuchs. Und jetzt wollte er gehen.

»Es wird alles gut werden«, sagte sie. Bernhard klopfte auf den Koffer, noch mehr Staub wirbelte auf.

»Nein, Martha. Ich gehe. Ich will raus, ich will weg. Ich kann nicht mehr, ich will mich um mein Kind kümmern.«

»Das kannst du auch hier tun.«

»Was redest du?« Bernhard hielt den Koffer in seiner rechten Hand und wollte damit an Martha vorbei zur kleinen Dachluke. Sie stellte sich ihm in den Weg. »Fünfter Monat, hier, man kann es schon sehen.« Sie streichelte ihren Bauch. Bernhard schob sie zur Seite. »Unser Baby wird dich brauchen.« Sie versuchte ihn festzuhalten, doch er machte sich los. Bernhard drehte sich um, um die steile Ausklapptreppe hinabzusteigen, der Koffer stand am Rand des Abgangs. »Martha, das Baby braucht mich nicht. Es wird doch sowieso wieder nicht geboren.«

Genau eine Sekunde, nachdem Bernhard Lütkehaus das gesagt hatte, schlug sein Hinterkopf auf die Kante der Eichenkommode im ersten Stock seines Hauses. Der Koffer stand noch auf dem Dachboden darüber. Martha schaute auf ihre zitternden Hände. Es war still.

Tim Möcke war erleichtert. Seine Eltern waren endlich wieder da. Sie hatten dreimal geklingelt, das taten sie immer. Er auch. Es war wie ein Zeichen zwischen ihnen. Dreimal klingeln hieß »Hallihallo, wir sind’s« oder »Huhu, ich bin’s«. Er saß im Wohnzimmer auf dem großen Fernsehsessel. Mit Deutschland sucht den Superstar hatte er sich abgelenkt. Von der Lebensgefahr, die ihn bedrohte. Seine Zeugenaussage war eindeutig in die falschen Hände geraten. Wenn der Fotograf mit der Amokläuferin unter einer Decke steckte, wer weiß, was passieren würde, wenn sie den Zettel lasen. Immerhin war seine Zeugenaussage belastend für Elisabeth Upphoff. Denn so wie es aussah, waren die Gewehre doch geladen gewesen. Sie hätte in jener Nacht die Schützenbrüder niedermetzeln können – und jetzt konnte sie es mit ihm tun. Tim Möcke, der Junge, der zu viel wusste. Er hatte sich unter die Decke gekuschelt und wartete auf das Klackern des Schlosses. Doch es war still. Hatten sie etwa den Schlüssel vergessen?

Vorsichtig schlich er zur Wohnzimmertür. Durch einen kleinen Spalt lugte er in den Flur, an dessen Ende die Haustür mit den Milchglasscheiben war. Er sah einen Schatten. Einen. Nicht zwei. Der Schatten bewegte sich, und plötzlich klopfte es.

»Tim, bist du da? Ich habe was für dich, komm doch mal.«

Die Angst verwandelte sich in Trotz. Pah, dachte Tim. Für wie doof hält die mich? Er hatte die Stimme von Elisabeth Upphoff erkannt. Und jetzt wollte sie ihn an die Tür locken, damit er sie hereinließ. Niemals!

»Tim, hör zu!«

Er wollte nicht, doch er hörte zu.

»Ich weiß, was du da gesehen hast in dieser unglückseligen Nacht. Du bist ein toller Zeuge. Und ich bin dir so dankbar.«

Dankbar, das verstand Tim nun doch wieder nicht. Immerhin hatte er etwas gesehen, was Elisabeths Tat sehr viel böser aussehen ließ, als es alle glaubten. Er rührte sich nicht.

»Tim. Ich werfe dir jetzt was durch den Briefschlitz. Als kleines Dankeschön und als Entschädigung für alles. Du hast dir sicher viele Gedanken gemacht und vielleicht ja auch Angst gehabt. Vor mir. Aber glaube mir, ich bin dir einfach nur dankbar.«

Er glaubte ihr nicht. Es klapperte, und eine CD fiel auf die Flurfliesen. »Da steht Peter Fox drauf«, sagte sie. »Kennst du den?« Tim nickte im Dunkeln, aber er sagte nichts. Die überrumpelt mich nicht, dachte er. Und: Geil, Peter Fox.

»Hab ich vorhin bei der Tombola gewonnen. Du warst doch auch da, oder?« Stille. »Ich werde jetzt fahren. Es wäre toll, wenn du deinen Eltern vielleicht nichts von der Munition erzählen würdest.«

Ha, da ist also die versteckte Drohung, dachte Tim. Dann hörte er die Autotür. Der mintgrüne Corsa startete. Tim Möcke kroch wie ein Soldat durch den Flur und griff nach der CD. Fünf Minuten später klingelte es dreimal an der Tür. Doch Tim Möcke hörte nichts mehr.