16. Kapitel

 

Sie hatte sofort die Polizei rufen wollen, doch Kai hatte sie gebremst. »Es kann gut sein, dass hier kein Verbrechen geschehen ist«, hatte er gesagt. »Viel eher denke ich, dass es einfach eine traurige Geschichte ist.« Sie hatten noch viele kleine Knochen gefunden. Rippen, Finger, Zehen und einen Schädel. Es war ein ganzes Skelett. Kopf und Oberschenkelknochen nahmen sie mit, den Rest ließen sie liegen. Warfen vorsichtig die Erde darauf und legten die Frauenmantelpflanzen wieder darüber. Wie eine Decke, dachte Viktoria.

Der Barchetta und Kais Golf standen hintereinander vor dem Bäumken in Telgte. Der grausige Fund lag in Kais Kofferraum. Viktoria stieg aus und lehnte sich an Marios gelben Flitzer. Kai saß noch im Wagen und telefonierte. Dann stellte er sich neben sie.

»Hast du deinen Kollegen erreicht?«

Kai nickte. Sein alter Studienfreund Max war Rechtsmediziner, er hatte versprochen, ihm ganz formlos, unverbindlich und privat zu helfen.

»Ich soll ihm die Knochen vorbeibringen. Kommst du mit?«

Viktoria schüttelte den Kopf. »Geht nicht, ich muss noch etwas anderes klären.« Dann zog sie das Foto aus der Tasche. »Hier!«

Kai schaute sich die drei Frauen an und verstand nicht. »Das da könnte Rosa sein, und die da kenne ich nur als die freche Frida vom Getränkehandel, aber die Hübsche, die kenne ich nicht.«

»Die Hübsche sieht aus wie meine Mutter.«

Kai hustete. »Was?«

Viktoria nickte. »Harry hat mir das Foto zugesteckt.«

»Harry?«

»Ich glaube, ich sollte etwas herausfinden. Und ich habe etwas herausgefunden. Weißt du, wer das Foto gemacht hat?« Sie wartete gar nicht auf seine Antwort. »Bernhard Lütkehaus! Er und meine Mutter haben sich also gekannt.«

»Bist du denn sicher, dass das deine Mutter auf dem Foto ist?«

»Doch, nein, ich weiß nicht. Aber ich kann es einfach nicht glauben – und kapieren schon gar nicht.«

»Und jetzt?«

»Klärst du mit deinem Totendoktor, ob wir hier einen Kindermord aufgedeckt haben, und ich kläre mit meiner Mutter, was zum Teufel sie hinter dem Zapfhahn vom Gasthaus König gemacht hat.«

Viktoria ging zu dem betrunkenen Schützenbruder, der Marios Jeans trug. Dass sie in den Taschen kramte, merkte er gar nicht. Sie fand das Handy. Ich muss meinen verdammten Anbieter wechseln, dachte sie und wählte. Sie hörte nur das Freizeichen, sonst nichts. Keine Glockenspiele, keine Trommeln, nichts von den klirrenden Gläsern um sie herum – nur das Freizeichen und dann ihre Mutter.

»Latell, ja?«

Nico spürte nichts – und das fühlte sich gut an. Er zog an der Zigarette, die ihm Nele gebastelt hatte. »Da ist was drin«, hatte sie gesagt und ihn dabei angelächelt. Er sah zum ersten Mal, dass sie einen Glitzerstein in ihrem rechten Schneidezahn hatte. Er grinste und blies ihr den Rauch ins Gesicht. »Du kannst ja lächeln«, sagte sie und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss und versuchte, sich zu erinnern. Hatte Sarah auch so geküsst? Er wusste es nicht mehr. Nele spielte mit ihrer Zunge in seinem Mund. Er ließ sie. Nele spielte mit ihren Fingern an seinem Hosenbund. Er ließ sie. Die Zigarette war abgebrannt, Nico legte sie auf den Aschenbecher neben Neles Bett. Er griff nach ihren Brüsten. Sie fühlten sich gut an. Fest und rund und so lebendig. Ihre langen blonden Haare kitzelten seine Nase. Er musste fast niesen. Sie war so warm und weich, seine Hand glitt über ihren Rücken, ihren Bauch. Sie zog ihr T-Shirt aus, ihre Jeans. Sie kicherte. »Warte mal kurz.« Sie lehnte sich aus dem Bett und kramte in ihrer Nachttischschublade nach einem Kondom. Er sah ihr zu, sah ihren Nacken, die Haare, die nach vorn fielen, die Hand in ihrer Schublade. Er spürte seine Lust. Er konnte es kaum erwarten, dass sie ihm das Gummi reichen würde. Gleich würde er sie nehmen. Einfach so, von hinten. Er würde es ihr besorgen. Die Trauerzeit, sie war endlich vorbei. Sie würde schreien vor Lust, weil sie ihn liebte, nur ihn. Nicht wie Sarah, die sich einen anderen genommen hatte. Die ihm das einfach sagte, so, als ginge es ums Wetter, ganz nebenbei. »Hey, Nico, ich habe mich leider in einen anderen verguckt.« Verguckt, was für ein Mistwort war das denn? Nico konzentrierte sich wieder auf Neles schlanken Hals. Nele würde schreien, wie noch nie eine Frau geschrien hat. Sie kramte immer noch in der Schublade, ihre nackten Schultern bewegten sich. Er sah ihren zarten Nacken, die Haare, seine Hand, den Stein, das Blut. Er hörte den Schrei, diesen Laut, der so gar nichts Menschliches mehr gehabt hatte. Sarah schrie. Seine Sarah schrie um ihr Leben. Es war das Schlimmste, was er je gehört hatte. Er wollte es nicht hören. Nicht jetzt. Nicht mehr. Nie wieder.

Nico sprang auf. Er zog sich seine Schuhe an, seinen Pulli. Er sah nichts, wankte aus dem Zimmer und wusste, dass er die Ratte vernichten musste. Die Ratte hatte einen Abschiedsbrief geschrieben, die Ratte hatte Sarah getötet, die Ratte saß in seinem Kopf.

Nele drehte sich um. In ihrer Hand hielt sie ein Kondom mit Himbeergeschmack. »Nico? Was … Nico. Bist du weg?«

Endlich konnte sich Viktoria wieder konzentrieren. Sie steckte dem Schützenbruder das Handy in die Tasche zurück, er blickte nur kurz auf und ließ seinen Kopf dann wieder auf die Tischplatte sinken. Sie schaute sich um, suchte Mario. Doch vor lauter Uniformen sah sie gar nichts mehr. Sie schlenderte ins Festzelt, das langsam immer voller wurde. Da drüben war eine schwarz-grüne Menschentraube, irgendwo darin musste sich Mario feiern lassen. Viktoria lächelte. Erst merkte sie gar nicht, dass einer der alten Männer, die sie am Tag zuvor beim Seniorenkaffee getroffen hatte, ihr zublinzelte. Sie ging auf ihn zu, und er nickte.

»Na, Püppi, wieder unterwegs?«

Viktoria schüttelte den Kopf. »Nee, Viktoria ist wieder unterwegs.« Doch dann verstand sie. Sie zog das inzwischen verknickte Foto aus der Tasche und hielt es dem Alten vor die Nase. »Ist das Püppi?«

»O ja. Wat für ’n hübsches Wicht.«

»Wicht?«

»Mädchen.«

»Aha. Und besonders hübsch?«

»O ja. So wie Sie, junge Dame.«

Viktoria fühlte sich plötzlich wie in ihrer Teenagerzeit. Ständig peinlich berührt, weder kindlich noch erwachsen. Ein schrecklicher Zwischenzustand, der eigentlich beendet sein müsste mit Anfang dreißig. »Kannten Sie … diese Püppi näher? Sie war hier Aushilfe, oder?«

»Nee, also ich kannte sie nicht. War nur nett anzusehen, zapfte fix, und ansonsten war sie eher der anstrengende Typ, glaube ich.«

Glaube ich auch, dachte Viktoria.

Eine grau melierte Frau kam auf den Alten zu, sie stützte sich auf einen Stock. »Jetzt komm mal mit, du oller Schwerenöter.« Dann drehte sie sich zu Viktoria um. »Na, hat er versucht, Sie um den Finger zu wickeln?«

Viktoria lächelte unschuldig.

»Er kann’s einfach nicht lassen. Jede hübsche Frau will er erobern – aber die wollen alle nicht.« Sie lachte ihren Gigolo-Gatten an. »Komm jetzt, wir gehen.«

Er erhob sich ohne jedes weitere Wort. Als die beiden langsam an Viktoria vorbeihumpelten, kniff er ihr ganz unauffällig in die linke Hinterbacke.

Viktoria drehte sich um und schlenderte Richtung Pfad. Sie musste sich ablenken, es würde bestimmt noch eine Weile dauern, bis Kai von seinem Freund zurückkam. Sie folgte dem Brennnesselweg, schlängelte sich durch das kleine Waldstück und betrat wieder das Strandstück an der Ems. Sie setzte sich auf den warmen Sand und schaute auf den Fluss. Eine Libelle brummte an ihrem Kopf vorbei und segelte dann über das Wasser. Die Strömung plätscherte gleichmäßig dahin. Viktoria kramte in ihrer Tasche. Sie würde die Zeit nutzen, um ihre Notizen durchzuschauen. Ihr System war zwar chaotisch, das Material aber umfangreich. Für eine zynisch-deftige Reportage würde es allemal reichen. Sie hatte Namen, witzige Zitate und genug stichwortartige Beschreibungen auf die unterschiedlichsten Zettel notiert. Als Letztes kam ihr ein Blatt von dem Abend in die Hand, als Kai ihr diesen schönen Platz am Fluss gezeigt hatte. Dort stand nur ein Wort: verzaubert.

»Hier bist du also.« Kai war zurück.

»Ja, ich habe gerade … ich wollte eigentlich …« Viktoria hatte ihn gar nicht kommen hören.

»Hast du deine Mutter erreicht?«

»Ja.«

»Und?«

»Nichts und. Sie hat mir alles erzählt.«

Kai wartete.

»Sie hat hier gearbeitet in den Semesterferien.«

»Das war’s?«

»Das war’s. Einen Bernhard Lütkehaus kennt sie nicht, an das Foto erinnert sie sich nicht. Und alle haben sie hier Püppi genannt.«

»Heißt sie denn so?«

»Nein, Marie. Aber jetzt sag schon. Was ist mit den Knochen?«

Kai lächelte. »Entwarnung.«

Viktoria atmete erleichtert aus. »Kein Kindermord.«

»Nein, eine Totgeburt im sechsten oder siebten Monat. Tragisch, aber kein Verbrechen. Und aufgrund der Vorgeschichte von Martha, die ich dir ja nicht verraten darf …«, Kai lächelte entschuldigend, »auch gänzlich unverdächtig.«

»Sie hatte so was Ähnliches schon mal erlebt. Also Fehlgeburten.« Kai nickte und hob drei Finger hoch.

Viktoria schüttelte den Kopf. »Drei Fehlgeburten. Das ist hart. Und dann stirbt auch noch ihr Mann.«

Kai zuckte mit den Schultern. »Was meinst du, sollen wir die Sache mit den Knochen der Polizei melden, oder wollen wir der Alten das Kindergrab lassen?«

»Wir lassen es ihr.« Beide machten eine kleine Pause, eine kleine Gedenkminute, dachte Viktoria – und beendete sie. »Ich verstehe immer noch nicht, warum dein Vater die Beerdigung für ihren Mann bezahlt hat. War der immer so großzügig?«

»Im Gegenteil. Ein Pfennigfuchser war er. Er war nett, korrekt, aber ganz und gar sparsam. Es passt gar nicht zu ihm.«

»Es sei denn …«

»Es sei denn was?« Kais Stimme klang härter als sonst.

Viktoria ließ sich nicht beirren. »Es sei denn, er hat irgendetwas mit dem Tod von Bernhard Lütkehaus zu tun. Vielleicht hat er ja die Lungenentzündung falsch behandelt. Taucht die überhaupt in Lütkehaus’ Krankenakte auf? Steht da etwas über Husten oder was weiß ich, was da stehen müsste?«

»Nein.«

»Und das wundert dich nicht?«

»Nein. Vielleicht war Lütkehaus ja gar nicht bei ihm. Dann hätte mein Vater ihn auch nicht falsch behandeln können.«

»Er hat sich also zu Hause totgehustet, ohne vorher einen Arzt zu fragen? Ich meine, das Ganze spielte sich doch 1980 ab und nicht im Mittelalter. Ich glaube das nicht.«

»Du kennst meinen Vater nicht. Der hat immer alles richtig gemacht.«

Viktoria verzog verächtlich das Gesicht. »Wer immer alles richtig macht, der macht auf jeden Fall etwas falsch.«

»Was soll das denn schon wieder heißen? Du kanntest ihn doch gar nicht.« Kai wurde langsam wütend.

»Das gilt nun mal universell, allgemein für jeden Menschen dieses verdammten Planeten. Oder war dein Vater Gott?«

»Na ja, manchmal kam er mir so vor.« Kais Stimme klang schon wieder etwas freundlicher.

Viktoria sprach weiter: »Wusstest du, dass ein Arzt einen Totenschein über seine eigene Frau ausstellen darf und dass es deshalb wahrscheinlich Hunderte perfekte Morde gibt?«

»Meine Mutter lebt zum Glück noch – was soll das also?«

»Ich will damit nur sagen, dass so ein Totenschein ziemlich wichtig ist – und dass derjenige, der ihn ausstellt, ganz schön was vertuschen kann, wenn er will …«

Das war zu viel. Kais Augenbrauen hoben sich. »Jetzt pass mal auf, du Superreporterin. Wenn hier einer Dreck am Stecken hat, dann bist du das. Tauchst hier auf mit deinem zauberhaften Lächeln und tust so, als interessiere dich unser Schützenfest. Dabei geht es doch nur darum, uns lächerlich zu machen. Eine Hausfrau, die beinahe Amok läuft – wie lustig. Doch auch das ist dir viel zu langweilig, also wühlst du jetzt so lange hier rum, bis du noch irgendeine tolle Story findest. Martha Lütkehaus hat erst ihren Mann und dann ihr Kind verloren, sie hat es im Garten vergraben und ein Kreuz daraufgelegt, und ich schäme mich, dass wir seine Totenruhe gestört haben. Ihr Mann ist gestorben, und das einzige Rätselhafte daran ist, dass alle dachten, er sei ausgewandert. Na und, vielleicht hat sie es allen so erzählt, vielleicht hat sie gelogen. Vielleicht erträgt sie es nicht, dass er tot ist, und stellt sich lieber vor, er lebe irgendwo glücklich und zufrieden in Australien.«

Viktoria wollte etwas sagen, doch Kai hob einen Zeigefinger.

»Mein Vater war nicht Gott, vielleicht hat er einen Fehler gemacht. Aber er war aufrecht und ehrlich und auf gar keinen Fall einer, der einen Fehler nicht eingestand. Eigenschaften, die man in Berlin offensichtlich nicht gebrauchen kann …«

Viktoria schnappte nach Luft.

Kai drehte sich um und wollte gehen.

»Bleib!«, sagte sie laut. Er blieb stehen, und sie wurde leise: »Du hast recht.« Kai schaute sie neugierig an. »Aber nicht in allen Punkten der Anklage.« Viktoria wagte ein scheues Lächeln. Kai verzog keine Miene. Er wartete. »Ich bin vielleicht nicht so aufrecht, wie ich es sein müsste. Aber so durchtrieben, wie du denkst, bin ich nun auch wieder nicht. Ich habe einfach schlecht geträumt.«

Kai hörte zu. Und begriff. Der Tote am Baum, der vom Traum zum Verdacht geworden war, war Teil von Viktorias Vergangenheit. Und er war auch Teil der Vergangenheit seines Vaters. Eines Teils, den er nicht kannte. Den er erst noch entschlüsseln musste. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass sie ihm alles sagte. Dass er ihr Vertrauter war. Ihr Seelentröster. Er wusste nicht, was er tun, was er sagen sollte. Und so rettete er sich mit Sachlichkeit.

»Und was sagst du jetzt deinem Chef? Verheimlichst du ihm deine Mutter und schreibst nur den Rest auf?«

»Ich werde ihm klarmachen, dass der Tote einfach nur tot ist und die Sozialreportage über das Schützenfest schon genug Tiefgang und Unterhaltungswert besitzt. Und dass sich die Sache mit dem Biber zerschlagen hat.«

»Was für ein Biber?«

»Ach vergiss es«, Viktoria winkte ab, erzählte ihm aber trotzdem, worum es ging. Doch Kai kam wieder auf Bernhard zurück.

»Wieso hast du deinem Chef überhaupt was von dem mysteriösen Verschwinden von Lütkehaus erzählt?«

Viktoria gab sich einen Ruck. »Also, um ehrlich zu sein. Er wollte, dass ich die Sache hier abbreche, weil das ganze Landding ihn auf einmal langweilte und er doch lieber ein bisschen was Blutigeres für die Sonntagsausgabe suchte. Aber ich wollte noch nicht zurück nach Berlin.«

»Warum?«

Viktoria dachte nach. Sie war irritiert. Die Frage hatte sie sich noch nicht gestellt. Eine Antwort wusste sie nicht. War ja auch nur so ein Gefühl, ein ganz vages. Es war ruhiger hier, sie war ruhiger hier. Aber mit vagen Gefühlen wollte sie Kai nicht kommen.

»Mir gefällt …«, setzte sie an.

»Ja?«

»Mir gefällt die Landschaft.«

»Aha.« Kai lachte.

Mindestens eine Eins, dachte sie und knuffte ihm in die Seite. »Ja, die Landschaft gefällt mir. Die Dorfdeppen auch, ach ja, und Rosa ist eine tolle Wirtin. Nur eins fehlt mir wirklich.«

Er lächelte mitleidig. »Und das wäre?«

»Ein frisch gezapftes Bier. Seitdem ich hier bin, hat es damit noch nicht geklappt. Ständig bin ich umgeben von Männern mit Biergläsern. Warum schaffen die das – und ich nicht?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber ich denke, das Problem kriegen wir in den Griff.« Er blinzelte, klopfte sich den Sand von der Hose und ging Richtung Rosas Bierwagen.

Sie schaute ihm nach und war gut gelaunt. Es war inzwischen nach drei am Nachmittag, keine Wolke stand am Himmel, Vögel zwitscherten in den höchsten Tonlagen ein wahres Sommerkonzert. Viktoria hatte keine Lust mehr, über Bernhard Lütkehaus nachzudenken. Sie wollte eine Denkpause machen, den Kopf eine Weile abstellen. Okay, ihre Mutter war schon mal in Westbevern gewesen, sie hatte hier einen Studentenjob gehabt, und zufälligerweise hatte Bernhard Lütkehaus sie einmal fotografiert. So what? Sie hatte einen Albtraum und sich in etwas hineingesteigert. Ein Kind kann schon mal etwas durcheinanderbringen. Und ihre Mutter hatte es ja erklären können. Sie waren zusammen hier gewesen, ein paar Tage Ferien. Viktoria konnte wieder klar denken. Hirngespinste und harmlose Zufälle. Gleich würde ein kühles Bier sie erfrischen, und sie würde mit Kai ein wenig über dies und das plaudern. Gute Aussichten, fand Viktoria. Sehr gute Aussichten. An der Vogelstange wurde gelacht, sie schaute zu einem Trupp Männer und sah den Adler ohne Flügel am Boden liegen. Er sieht aus wie ein Brathuhn, dachte Viktoria. Ein totes, zähes Brathuhn. Dann folgte sie Kai.

Das kleine Zopfmädchen hüpfte vor Viktoria auf und ab und rief: »Hallo!«

»Hallo.« Viktoria lächelte.

»Zeigst du mir noch mal, wie du vorhin die Maus gezaubert hast?«

»Klar.« Viktoria nahm das rosa gepunktete Halstuch, das das Mädchen ihr entgegenstreckte. Schritt für Schritt erklärte sie dem Kind, wie es ging. »So, Klein Püppi, jetzt den Zipfel um den Zipfel wickeln und fertig ist die Mimamausemaus.« Viktoria hatte das nicht gesagt, sie hatte es gehört – wie ein Echo in ihrem Kopf. »Klein Püppi, fertig ist die Mimamausemaus. Mimamausemaus.« Ihre Hand zitterte, als sie dem Mädchen die Taschentuchmaus reichte.

»Danke! Das werde ich gleich Papa zeigen.«

Viktoria nickte stumm.

Sie ging zu Kai, der am Tresen des Getränkewagens auf das Bier wartete. Sie machte mit der Hand ein Telefonzeichen, und er verstand. Ohne ein Wort reichte er ihr sein Handy. Als sie auf der Straße war, tippte sie die Nummer ein. Freizeichen, einmal, zweimal. Klack.

»Marie Latell, hallo?«