9. Kapitel

 

»Ist die Zapfanlage wieder in Ordnung, Harry?« Viktoria wusste selbst nicht, ob sie das wirklich interessierte oder ob sie einfach nur wissen wollte, ob Kai inzwischen wieder da gewesen war.

»O ja. Die ist mehr als in Ordnung. Kai hat gute Arbeit geleistet.« Harry strahlte. »Ein netter Junge.« Während er das sagte, blinzelte er Viktoria freundlich zu.

Sie nickte nur. »Klasse. Dann hätte ich jetzt gern ein frisch gezapftes Pils vom Fass.«

»Ich auch, ich auch!« Mario setzte sich zu ihr. »Was liegt als Nächstes an, Chefin?« Er hatte sich nicht umgezogen. Viktoria hingegen hatte ihren gesamten Rollkofferinhalt einmal an- und ausprobiert, als sie nach dem Besuch bei der traurigen Elisabeth ins Gasthaus zurückgekommen waren.

»Wir gehen zum Biwak, das ist so eine Art Lagerfeuer für Erwachsene.«

Und genau das war ihr Problem. Was zog man bei so was an? In ihrem Köfferchen befanden sich weder geländegängige Wanderschuhe noch eine feuerfeste Windjacke. Sie hatte keine Lust, mit den Sommersandalen zum Gespött der Westbeverner Landbevölkerung zu werden. Sie hörte schon die hämischen Sprüche: »Oh, schaut mal, da stöckelt die Stadtfrau durch den Matsch. Ist ihr nicht kalt in diesem zarten Rock?« Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Joggingschuhe anzuziehen, denn die hatte sie immer dabei. Dazu eine Jeans, der pinkfarbene Pulli musste schon wieder ran und der Trenchcoat. Es sah furchtbar aus – Achtzigerjahre-Revival hin oder her.

Als das Bier vor ihr stand, merkte sie, wie groß ihr Durst war. Das Glas war leicht beschlagen, die Krone perfekt. Sie stieß mit Mario an, Harry zündete gerade die kleine Kerze auf dem Tisch an, sein Ellenbogen berührte die Hand, in der sie das Glas hielt. Sie erschrak, zuckte, und das kühle Glas rutschte ihr aus den Fingern. Es fiel mit einem stumpfen Plopp auf die Tischplatte, kippte, und sein Inhalt ergoss sich in einer großen Pfütze. Viktoria sprang auf, damit nichts auf ihre Jeans tropfte, Harry rannte zur Theke, um einen Lappen zu holen, und Mario lehnte sich zurück. Er setzte sein unversehrtes Bier an die Lippen und trank es in einem Zug leer. »Aaah!«

Viktoria funkelte ihn an: »Schön, dass es dir schmeckt.«

»Tut es.« Er grinste.

Sie schaute auf die Uhr. Harry tupfte hektisch den Tisch trocken. »Oje, das tut mir leid. Ein neues, Frau Latell?«

»Nee, Harry, lassen Sie mal. Wir müssen los. Sind sowieso schon knapp dran.«

Sie warf ihre Tasche über die Schulter, Mario stellte sein Glas ab und erhob sich seufzend. Dreißig Sekunden später saßen sie wieder in seinem Barchetta. Er rülpste, Viktoria hatte Durst.

Schweigend fuhren sie auf der Landstraße, die den Ortsteil Telgte-Westbevern und Telgte miteinander verband. Es war kurz nach neun. Viktoria gähnte, Mario rieb sich die Augen. Ein Mann, der rechts auf dem Fußweg Richtung Festzelt unterwegs war, winkte ihnen freundlich zu, als kenne er sie schon seit Jahren. Es war einer der Würfelfreunde von Mario. »Ach, Ludger«, sagte er und nickte. Links grasten ein paar Pferde, ein Fohlen stand dicht neben seiner Mutter. Sie überholten einen Trecker und bogen wieder rechts ab, Richtung Festzelt. Fußgängergruppen waren unterwegs, einige Radler. Mario passte sich dem Schritttempo an und parkte wieder auf der gemähten Wiese gleich hinter dem Zelt. Den Trenchcoat ließ Viktoria erst einmal im Wagen, noch war es viel zu warm dafür. Sie schaute sich um und war erleichtert. Ihre Kleidungswahl war genau richtig gewesen. Turnschuhe, Jeans – so sahen hier viele aus. Nur die Mitglieder des Schützenvereins hatten sich ihre Uniformen angezogen. Schwarze Hose, grüner Gehrock, Jägermütze. Sie schaute kurz in das Zelt, in dem vorher noch die Senioren Kaffee getrunken hatten. Es war fast leer. Nur an der langen Theke hatte sich eine Traube aus grünen Jacken, violettblusigen Frauen und Teenagern mit bauchfreien Tops – die Mädchen – und Schlacker-Hosen – die Jungen – gebildet. Sie notierte die geschätzte Schlangenlänge – einundzwanzig Schritte – auf Harrys Bestellblock, den er ihr geschenkt hatte. Bloß raus aus der schwülen Hitze hier drin, dachte sie und drehte sich um.

»Hallo.«

Sie wusste, wer es war, bevor sie aufblickte. Es war Kai. Der Meister der schlichten Begrüßung.

»Hi.« Das war die Antwort von ihr, der Meisterin der noch schlichteren Begrüßung. Aber es wurde noch schlimmer: »Puh! Ist es heiß hier drin.« Mein Gott, Victory!, dachte sie. Jetzt war sie auch noch Meisterin des schlichtesten Small Talks. Seit wann benutzte sie außerdem so seltsame Worte wie »Puh«?! Gab es nicht einmal einen Bären, der so hieß? Puh, der Bär. Er war gierig nach Honig, steckte seinen Kopf deshalb in einen Bienenstock, blieb stecken und die Bienen zerstachen ihm seinen pelzigen Hintern. Auch Viktoria blieb stecken. Ihr fiel nichts Besseres ein als ein peinliches: »Auch hier?«

Kai tat das einzig Richtige und beantwortete ihre Frage einfach nicht. »Soll ich dir hier draußen mal alles zeigen?«, fragte er stattdessen.

»O ja. Danke, das ist nett.« Sie riss sich zusammen, lächelte charmant – wenigstens das hatte sie drauf – und folgte dem klugen Kai. Mario nickte ihnen zu, als sie an ihm vorbeikamen. Er überredete gerade einen besonders kleinen Schützenbruder mit einer besonders großnasigen Frau, für ein Foto zu posieren. Die Frau strich ihrem Mini-Mann den Scheitel glatt, sie selbst zupfte an ihrer hellblauen Jacke – dann blickten sie ernst in die Kamera. Dem Chef wird’s gefallen, dachte Viktoria. Er wird über die beiden lachen.

»Da vorn geht’s lang.« Kai zeigte auf einen schmalen Weg mitten in den kleinen Wald hinter dem Zelt. Er ging voraus. Sie folgte der ausgewaschenen Jeans und fragte sich, welche Marke das wohl sei. Sobald sie die Bäume erreicht hatten, wurde es deutlich kühler und dunkler. Vor ihnen hielt eine Frau ihren Sohn an der Hand, der noch nicht richtig laufen konnte, hinter ihr trödelte die Tochter, die aussah, als ginge sie schon in die Schule. Kai und Viktoria mussten langsamer gehen. Die Frau ist so alt wie ich, schoss es Viktoria durch den Kopf. Unvorstellbar! Sie fühlte sich mindestens zwanzig Jahre jünger – oder älter? Ihr Leben war so weit weg von Kindern, von Familie, von dem Leben, das diese Frau hier lebte. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie sie verstand, als sie sich umdrehte, seufzte und sagte: »Tut mir leid, kleine Staufalle hier.«

Viktoria lächelte. »Kein Problem.« Anscheinend kamen sie doch nicht von verschiedenen Sternen, sie sprachen beide dieselbe Sprache.

»Hast du auch Kinder?«

»Was?!« Sie konnte nicht fassen, was Kai sie da gefragt hatte. »Natürlich nicht!«

»Wieso, hätte doch sein können.«

»Nee, ganz bestimmt nicht. Nicht bei meinem Leben.« Was für ein beschissenes Thema, dachte sie.

Kai fand es offensichtlich interessant: »Dein Leben – ist das denn so viel anders als alle anderen Leben?« Ihr gefiel ganz und gar nicht, wie sich diese Unterhaltung entwickelte.

»Ist das da drüben das Feuer?« Besser eine blöde Frage, als weiter mit dem Dorfschönling über Kinder zu diskutieren, dachte sie.

»Ja, das ist das Feuer.« Kai grinste. Er hatte ihr billiges Ablenkungsmanöver durchschaut, aber er fragte nicht weiter. Ein paar Dutzend Menschen hatten sich um das Feuer gestellt, es knisterte und roch wie im Ferienlager. Viktoria blieb stehen. Kai schob sie weiter. Er zeigte auf einen kleinen Pfad und sagte. »Das musst du mal sehen, ist echt schön.«

Er ging wieder vor, sie folgte ihm und seiner tatsächlich überdurchschnittlich gut sitzenden Levi’s. Gut, dass sie auch ihre lange Hose anhatte. Sie erkannte Brennnesseln und stachelige Himbeerbüsche. Der Weg schlängelte sich erst rechts, dann links herum, ging ein paar Meter aufwärts, dann wieder abwärts, und plötzlich befanden sie sich auf hellem Sand. Ein paar Meter unter ihnen floss die Ems in einer großen Schleife. Der Strand, auf dem sie standen, war etwa fünfundfünfzig Schritte breit. Er fiel steil ab. Zehn Schritte, und man steht im Wasser, schätzte sie. Dann hörte sie auf zu zählen und schaute.

»Schön«, sagte sie und meinte es auch so. Es war schön hier. Wunderschön. Auf der anderen Uferseite watschelten ein paar Enten zur sattgrünen Wiese, um sich dort schlafen zu legen. Knorrige, uralte Apfelbäume reckten ihre bizarren Äste in alle Richtungen, unendlich viele Pusteblumen-Samen schwebten – angeleuchtet von der untergehenden Sonne – in den Himmel. Viktoria atmete tief ein und wieder aus. Sie blinzelte, Tränen stiegen auf. »Scheißheuschnupfen!«, fluchte sie. Kai sagte nichts.

Ein paar stille Minuten später drehten sie um.

Das Feuer leuchtete inzwischen orangefarben und warf zuckende Schatten in die Gesichter der Leute. Jugendliche stocherten mit Stöcken in der Glut, einige Erwachsene vertrieben sie. Die meisten saßen an Biertischen, etwa fünfzig Schritte von den Flammen entfernt. Zwischen Festzelt und Feuer ging es zu wie auf einer Ameisenstraße. Männer und Frauen trippelten hin und her, denn dort gab es die Getränke und da gab es Stockbrot. Viktoria bekam wieder Durst. Doch Kai tippte ihr vorsichtig an die Schulter und sagte leise: »Der Typ da, mit den fünf Gläsern in der Hand, das ist Ferdinand. Du wolltest ihn doch sprechen.«

Es war unglaublich. Wegen dieses nichtssagenden, moppeligen Typens häkelte Elisabeth Upphoff grässliche Tischdecken und heulte Rotz und Wasser? Viktoria hatte gar keine Lust, mit ihm zu sprechen. Viel lieber hätte sie ihm eines seiner Biere entrissen und auf einen Zug leer getrunken.

Er musste ihre Gedanken gelesen haben, denn als Kai Ferdinand mit einem Nicken begrüßte, lächelte der entschuldigend und blickte auf die Gläser in seiner Hand. »Die sind leider schon vergeben.« Dann steuerte er auf einen Biertisch zu, und vier Männer in Schützenuniform reckten gierig ihre Hände nach den Bieren, stießen an und ließen es sich ganz offensichtlich schmecken. Viktoria schluckte.

»Durst?« Kai hatte es erfasst.

»O ja«, sagte sie. »Jetzt so ein kühles Bier – da könnte ich glatt schwach werden.«

Kai grinste. »Na, dann wollen wir dich mal schwachmachen.« Er reihte sich in die Ameisenstraße Richtung Festzelt ein, und Viktoria ging rasch auf den Biertisch zu, an dem Ferdinand Upphoff stand. Sie war ja schließlich zum Arbeiten hier.

»Guten Tag, die Herren!« Ging doch, sie klang ganz geschäftsmäßig.

»Tach!«, kam es kurz zurück. Die Herren hatten offensichtlich keine Lust auf eine Unbekannte, keiner blickte auf.

»Ja. Ähm. Sie sind doch Herr Upphoff, oder?«

Der Angesprochene hob im Zeitlupentempo den Kopf, kniff die Augen zusammen und sagte ganz, ganz lässig: »Und?«

Unglaublich. Dieses graue, unscheinbare Dickmännchen war also eine coole Sau. Na warte, dachte Viktoria. »Ihre Frau sagte mir, dass ich Sie hier finden würde.«

»Na und?« Ferdi ließ sich nicht provozieren.

»Ich habe mich vorhin sehr lange mit ihr unterhalten, über dieses ganze Drama. Und da hat sie gesagt, dass …«

Sie stockte. Ferdinand stellte sein leeres Glas ab, stand auf und schaute ihr eindringlich in die Augen. High Noon.

Er sprach ganz langsam und klang überhaupt nicht betrunken: »Egal, was sie gesagt hat, es interessiert mich nicht. Wir wollen hier unseren Spaß haben und von so ’ner Berliner Wichtigtuerin lassen wir uns den auch nicht verderben. Feiern Sie einfach mit, dann wissen Sie am Ende mehr, als Sie durch tausend Fragen und hunderttausend Antworten jemals erfahren werden. Ansonsten Adios!« Dann gab er ihr die Hand und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, ich muss mal für Königstiger!«

Ferdinand Upphoff verschwand im Dunkel des Waldes. Viktoria schaute ihm nach – ihr Mund stand offen.

»Victory! Viktoria!« Gerade kam Kai die schmale Gasse auf sie zugesteuert, als Mario ihn von hinten überholte. Er fuchtelte mit seinem Handy. Viktoria nickte Kai entschuldigend zu, er hob die beiden Gläser mit einem Schulterzucken, und sie nahm das Telefon aus Marios Hand. Er flüsterte noch: »Der Chef.«

Sie hielt das linke Ohr zu und drückte den Hörer an ihr rechtes. »Ja, Chef. Ich höre Sie. Genau, mieser Empfang. Tut mir leid.«

Sie sah, wie Mario das zweite Glas aus Kais Hand nahm. Mist verdammter, dachte sie und drehte sich weg, um sich besser auf das Telefonat konzentrieren zu können.

Der Chef klang nicht wütend, eher unentschlossen und fahrig. »Viktoria. Jetzt sagen Sie doch mal. Taugt das da was bei Ihnen? Ist das nicht doch ein bisschen zu viel Provinz?«

»Na, es ist natürlich krass hier. Sie wissen schon, die ganze Kaff-Palette kriegen Sie hier. Hübsche Vorgärten, rotgesichtige Menschen, verwachsene Teenies.«

»Ich weiß nicht, Viktoria. Was ist mit der Ratte, äh dem Biber?«

»Nix, Chef! Bis jetzt …«

Er gähnte. »Ich bin einfach nicht mehr so sicher, ob mich das anmacht. Irgendwie reicht mir das nicht. Ich denke, Sie sollten besser abbrechen. Interessiert unsere Berliner ein Schützenfest in Irgendwo?«

»Einfach abbrechen?«

»Ja, mein Gott, wieso nicht? Die neue Miss Germany ist Berlinerin und hat ’ne Drogenvergangenheit, das wäre doch auch viel eher was für Sie. Oder Sie machen mal wieder ’ne harte Polizeigeschichte, wir haben hier gerade einen Messermord mit ’nem hübschen Toten. Richtig zerfetzt sah der aus.«

Ein zerfetzter Toter. Abbrechen, nach Berlin zurück? Viktorias Gedanken hüpften ungeordnet durch ihren Schädel. Was hatte er gesagt, einen hübschen Toten?

»Einen hübschen Toten haben wir hier auch, Chef. Und der ist besser, wetten …« Jetzt hatte sie es gesagt.

»Hä? Wie meinen Sie das?«

Sie erzählte ihm in groben Zügen von ihrem Verdacht: »Ein Schützenkönig ist unter mysteriösen Umständen verschwunden. Seine Frau sagt, er sei ausgewandert, andere sagen, er sei durchgebrannt, noch andere – nämlich sie selbst – glauben, er hat sich erhängt. Doch das sollte vielleicht verheimlicht werden, weil man so was als Katholik ja nicht macht.«

»Sie meinen so eine Geschichte im Sinne von ›ein Dorf schweigt und vertuscht einen Todesfall‹?«

»Jawoll!« Er hatte es geschluckt, das wusste sie. Doch sie legte noch nach. »Glauben Sie mir, Chef, wenn es nach mir ginge, wäre ich erleichtert, wenn ich mich mit diesen Dorfdeppen nicht mehr rumärgern müsste. Also holen Sie mich ruhig heim.«

Er tat es natürlich nicht. Sie durfte sich noch ein bisschen mit den Dorfdeppen rumschlagen – und fand es eigentlich gar nicht so schlimm.

Triumphierend blickte sie sich um. Mario hatte sich inzwischen an einem der Tische niedergelassen, an dem seine Würfelfreunde vom Nachmittag fröhlich auf ihn einredeten. Kai war verschwunden. Verdammt. Wie laut hatte sie eigentlich gesprochen?

Ihr war der Durst aufs Bier vergangen.

Klaus Bühlbecker war in seinem Element. Aufrecht stand er an einem Biertisch und schaute sich mit erhobenem Kinn um. Das Schützenfest war sein Schützenfest, denn er war schließlich der Vorsitzende. Ohne ihn, so war er sich ganz und gar sicher, würde hier gar nichts laufen. Keine Musik, kein Bier und kein Mensch. Alles war, wie es sein musste. Das Wetter war grandios, seine Uniformknöpfe strahlten und die olle Upphoff würde nicht Königin werden können. Wäre ja auch noch schöner gewesen. Irgendwo musste man doch noch unter sich sein. Die Weiber sollen einfach mal das machen, was sie am besten können. Kuchen backen. Ein paar junge Männer von der Ehrengarde marschierten auf ihn zu, salutierten, lachten und verschwanden. Bühlbecker nickte ihnen würdevoll zu. Dann fiel sein Blick auf Viktoria. Er hatte natürlich mitbekommen, dass eine Reporterin über das Fest schreiben wollte. Und er war ja nicht blöd. Natürlich war sie wegen der Upphoff-Geschichte hier und schnüffelte rum. Aber in diesem Moment war ihm das herzlich egal. Er leckte sich den Bierschaum von der Oberlippe und starrte sie an. Die schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht. Lang waren sie, glänzend, rassig, so wie er es mochte. Schneewittchenhaare. Klaus Bühlbecker nahm noch einen Schluck. Das Einzige, was er in diesem Moment denken konnte, war: Geile Schlampe!

Viktoria hockte sich an einen Biertisch und ordnete ihre Gedanken. Was genau war jetzt eigentlich ihr Auftrag? Welche Geschichte erwartete der Express von ihr? Der Tote vom Baum war alles andere als eine sichere Story – wer weiß, was sie dort überhaupt noch herausfinden würde. Dass sie nichts Neues über die Ratte entdeckt hatte, hatte der Chef offensichtlich geschluckt. Aber vielleicht reichte ja auch die Ursprungsgeschichte über die Amok laufende Hausfrau, um eine Doppelseite der Sonntagsausgabe zu füllen. Marios Fotos waren super, das wusste sie. Und ihr Interview mit Elisabeth Upphoff gab auch einiges her. Sie wühlte in ihrer Tasche nach den Notizen. »Weiße Tischdeckchen«, hatte sie notiert. Und: »Ich wollte, dass sie alle in ihrem Blut verrecken.« Super Zitat, dachte sie. Doch was war das? Viktoria setzte sich kerzengerade hin, die Notizen hielt sie in ihrer Hand. Hektisch wählte sie die Nummer des Express und hoffte, dass sie eine einigermaßen stabile Verbindung bekam. Schon meldete sich die Chefsekretärin und stellte sie durch.

»Was ist, Latell?«, blaffte der Chefredakteur. »Habe eigentlich keine Zeit!«

»DER BIBER!«

»Der Biber?«

»Chef, ich habe den Biber gefunden.«

»Sind Sie sicher?« Der gelangweilte Ton war aus seiner Stimme verschwunden. »Sieht er so aus wie unsere Ratte?«

»Er sieht nicht so aus. Er ist es. Ich halte einen Briefbogen mit dem Wasserzeichen in der Hand. Und ich schwöre, es ist derselbe hässliche Nager, der neben unserem süßen Schneewittchen lag.«

Nico war zum ersten Mal an Sarahs Grab. Weil sie Geburtstag hatte. Weil er ein Geschenk hatte. Er trug es jetzt seit sieben Monaten mit sich herum, und obwohl es nur ein paar Gramm schwer war, wog es wie eine Tonne Stahl, die sich um sein Herz geschlungen hatte. Es war ein kleiner Silberanhänger für Sarahs Armband. Er hatte ihn ihr schon in der Silvesternacht geben wollen, aber die Ratte war ihm dazwischengekommen. Diese miese hinterhältige Ratte. Sie hatte ihm Sarah genommen, sie hatte Sarah das Leben genommen und jetzt saß sie in seinem Kopf und nagte an seinen Gehirnzellen.

Die Buchstaben auf Sarahs Grabstein waren verschwommen. Dabei weinte er nicht. Es war die Ratte. Er hörte sie flüstern. »Zu sterben ist leichter, als damit zu leben.« Er nahm sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und fummelte den kleinen Anhänger aus dem Netzfach, in dem auch sein Personalausweis klemmte. Er hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, er war gerade mal einen guten Zentimeter groß. Mit der anderen Hand drückte er eine kleine Mulde in die Erde direkt neben den Findling, auf dem Sarahs Name stand. Er legte den Schmuck hinein. »Es tut mir leid, kleiner schwarzer Engel.« Nico hatte es geflüstert. Er kannte jedes Wort, das die Ratte auf den Brief an seine tote Sarah geschrieben hatte, auswendig. Er warf etwas Erde auf den silbernen kleinen Engel, der bestimmt schön an Sarahs Handgelenk ausgesehen hätte. Dann ging er. Sein Kopf tat ihm weh.

Viktoria massierte ihren Kopf mit den Fingerspitzen. Vielleicht würde sie so ein wenig Ordnung in die Sache bringen. Vor ihr lag der Zettel mit dem Biberwasserzeichen. Genauso ein Zettel hatte damals neben Sarahs Leiche gelegen. Alle waren sich sicher, dass die Worte darauf eine Art Botschaft ihres Mörders gewesen seien. Und jetzt hatte ausgerechnet Elisabeth Upphoff auf solch einem Blatt Kniffel gespielt. Viktoria drehte das Papier, hielt es sich dicht vor die Nase, doch sie wurde nicht schlau daraus. Elisabeth hatte ihre große Straße nicht gewürfelt, dafür aber einen Kniffel, fünfzig Punkte gab’s dafür. Ein E stand über ihrer Reihe. Daneben ein N. N hat verloren. Hieß ihre Tochter nicht Nicole? Und ihr Sohn? War der vielleicht schon einmal in Berlin gewesen? Am Müggelsee? Viktoria schüttelte gedankenverloren den Kopf. Sie musste Elisabeth nach dem Zettel fragen, doch nur, wenn sie ihr dabei in die Augen schauen konnte und auf ihre Hände. Denn die verrieten am ehesten, ob jemand die Wahrheit sagte oder nicht. Viktoria faltete das Blatt und steckte es in ihre Tasche. Dann holte sie es noch einmal heraus und schaute sich das E an. Nein, keine Schnörkel.

Er näherte sich von hinten. Als er sie fast berührte, atmete er tief durch die Nase ein, roch an ihren Haaren. Erst da drehte sich Viktoria um und bewegte sich reflexartig ein Stück zur Seite.

»Ist was?« Ihr fiel nichts Besseres ein, um den etwas aufdringlichen Schützenbruder in seine Schranken zu weisen.

Er schaute sie ohne jede Scham an und fragte nur: »Aha, die Presse ist also auch da?«

Viktoria nickte kühl.

»Wollen Sie mich denn gar nicht interviewen, Frau …?« Er sah sie herausfordernd an.

»Latell«, sagte sie genervt. »Wieso sollte ich?«

»Weil ich hier der Chef bin.« Klaus Bühlbecker streckte die Brust nach vorn.

Viktoria hatte keine Lust auf einen Chef. Doch sie zwang sich, höflich zu bleiben. »Wieso Chef?«

»Ich bin der Vorsitzende von den schießwütigen Jungs hier«, sagte er und klopfte ein paar vorbeischlendernden jungen Männern auf die Schulter.

»Interessant«, sagte Viktoria in einem Tonfall, der jedem Idioten klargemacht hätte, dass sie das gar nicht interessant fand.

»Wenn Sie also etwas von mir wollen, lassen Sie es mich wissen.« Bühlbecker lächelte doppeldeutig und berührte kurz ihre Taille. »Brücken bauen mit Bühlbecker.«

Viktoria schaute genervt. »Aha.« Konnte diese Pfeife sie nicht endlich in Ruhe lassen? Doch er schaute auf das Blatt, das vor ihr lag.

»Hübsches Briefpapier.«

Viktoria widerstand dem Reflex, es hektisch vom Tisch zu reißen.

»Der Biber sieht aus wie eine Ratte, finden Sie nicht?«

»Weiß nicht.« Viktoria versuchte, gleichgültig zu klingen.

»Aber ich«, sagte Klaus Bühlbecker und ging. Vorher atmete er noch einmal tief durch die Nase ein und genoss den Duft ihrer Haare.

Viktoria zögerte drei Sekunden. Dann drehte sie sich um und folgte ihm. »Herr Bühlbecker!« Sie hasste es, dass sie ihn ansprechen musste.

Er blieb stehen, grinste. »Ja?« Es gefiel ihm, dass sie ihm nachgelaufen war.

»Das Briefpapier – kennen Sie es?«

»Es ist meins.«

»Wie? Meins?«

»Ich habe es mal als Werbegeschenk drucken lassen. Viel zu teuer war das, und dann sah es auch noch blöd aus.«

Viktoria sah ihn an, wartete ab.

»Na ja, der Biber ist halt unser Wappentier, deshalb habe ich mich auch dafür entschieden – so als Westbeverner Unternehmer. Aber der Grafiker hat das hässliche Viech nur eins zu eins übernommen, abgezeichnet von der Schützenvereinsfahne. Und das Ergebnis haben Sie ja gesehen. Der Biber ist hässlich wie ’ne gottverdammte Ratte.«

»Gibt es viele von den Briefblöcken?«

»Ja, leider. Ich habe damals gleich fünftausend drucken lassen. Tausend habe ich erst verschenkt – und die meisten davon einfach so, weil ich es mir ja nicht mit den Großkunden verderben will.«

»Haben Sie auch schon mal einen Block in Berlin verschenkt?«

»Ganz schön neugierig, Frau Latell.« Er grinste wieder.

»Haben Sie?«

»Lassen Sie mich nachdenken. Ja, ich glaube schon. Ich habe die hässliche Ratte nach Berlin exportiert. Viel schlimmer als euer Bär sieht die ja auch nicht aus.« Er lachte laut.

»Wissen Sie noch, an wen?«

»Mein Gott – das scheint Sie ja wirklich zu interessieren. Warum eigentlich?«

Viktoria schüttelte vielsagend den Kopf. »Kann ich leider nicht sagen.«

»Na, dann kann ich mich leider auch nicht erinnern.« Klaus Bühlbecker lächelte jetzt nicht mehr. Er drehte sich um und ging. Und Viktoria hatte einfach keine Lust, ihm zu folgen.

Tausend Blöcke hatte er verteilt – davon auch welche in Berlin. Na, dann konnte jeder den Zettel mit den morbiden Zeilen beschrieben haben. Jeder.

Die Bibergeschichte war damit totrecherchiert.