3. Kapitel

 

Marios kanarienvogelgelber Barchetta parkte, oder besser, leuchtete, auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gasthaus. Rosa Kittelschürze hatte gar nicht so unrecht, das Auto sah schon ein bisschen nach Porsche aus. Sportlich, rundlich, ein Zweisitzer eben und ein echter Hingucker! Genau das richtige Auto also für Mario, der damit vor allem eines wollte – Frauen einsammeln. Und das mit möglichst wenig Aufwand. Sein Plan war simpel, aber erfolgreich: Autotür auf, Blondine rein, fertig! So hatte Viktoria schon so manch goldenes Haar vom Beifahrersitz gezupft.

Hier in Westbevern wirkte das Aufreißerauto allerdings etwas deplatziert. Einsam und verlassen stand es auf dem tristen Pflaster. Mario drückte den automatischen Öffner, als sich Hufgetrappel näherte. Kurz darauf fuhr eine kleine Ponykutsche vorbei. Sie war mit bunten Wimpeln und Birkenzweigen geschmückt. Auf dem Kutschbock saß ein alter Mann, hinter ihm lachten und winkten eine Handvoll Kinder. Viktoria rief mit übertrieben heller Stimme: »Guck mal, wie bei den Mädels vom Immenhof – süüüüüß.« Aus der anderen Richtung näherte sich ein großer grüner Trecker, der das liebliche Klockedicklock der kleinen Ponyhufen überdröhnte. Er fuhr bestimmt sechzig, seine riesigen Räder donnerten über den Asphalt und wühlten sich durch die große Pfütze, die sich am unbefestigten Parkplatzrand gebildet hatte. In wabbeligen Klumpen schoss der schwarze Matsch durch die Luft und landete mit einem nassen »Klatsch« auf dem knallgelben Lack des Fiat Barchetta.

»Von wegen süß! Scheiße!« Mario knallte wütend die Autotür zu, die er schon zum Einsteigen geöffnet hatte, und rannte Richtung Straße: »Du Bauer, du dämlicher Bauerntölpel – kannst du nicht aufpassen?« Doch der Bauerntölpel war längst außer Hörweite.

»Es tut mir leid, Mario, aber dein Auto sieht aus wie eine dieser beschissenen Tigerenten von Janosch.« Viktoria kicherte. Tigerenten waren ihr erklärtes Hassobjekt. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie sich sogar erwachsene Frauen die süßlichen Dinger aus Holz an ihre Rucksäcke hängen und das auch noch hübsch finden konnten. Getoppt wurde das nur noch vom Hype um den kleinen Prinzen. Irgendwann beschloss nämlich Viktorias gesamter Freundeskreis, alle Zitate aus dem Buch für alle möglichen Anlässe zu nutzen. So verfolgten sie die naiv-romantischen Sätze des Prinzen zu Hochzeiten, Taufen, runden Geburtstagen – kurz zu jenen Veranstaltungen, bei denen es vor Kitsch und Schleimerei ohnehin schon nur so triefte. Und wenn dann der Bräutigam zur Braut sagte: »Man sieht nur mit dem Herzen gut« – und alle heulten, dann hustete sie Bröckchen. Denn eigentlich – das konnte sie mit ihrem Herzen ganz deutlich sehen – liebten sie den Prinzen nur, weil der Autor so einen schwierig-schönen Namen hatte. Und wer fehlerfrei Antoine de Saint-Exupéry aussprechen konnte, wer diese Namenszeile in seinem Bücherregal stehen hatte, wer ihn in sein Hochzeitsalbum schrieb, der fühlte sich mindestens so gut, wie wenn er mit guten Freunden einen guten Rotwein von einem kleinen, aber sehr guten Winzer aus Frankreich trank. So französisch, so klug, so kreativ, so chic – voilà und merci, petit prince! Zum Heulen, diese Heuchelei.

Jetzt und hier konnte sie wenigstens lachen. Denn Marios gelbes Angeberauto sah durch die Matschschlieren wirklich genauso dämlich aus wie die Streifenente von Janosch. Mario war sauer über den Dreck und über Viktorias dreckiges Lachen.

»Pass bloß auf, Pink-Pulli! Noch so ein üppiges Frühstück wie gerade und du siehst bald aus wie Miss Piggy!« Das saß. Viktoria hörte auf zu lachen und funkelte wütend Richtung Mario. Da rettete Harry, der kleine graue Wirt mit dem artigen Seitenscheitel, die Situation. Mit einem Eimer Wasser brachte er den Barchetta und Mario wieder zum Strahlen. Die Berliner konnten endlich losfahren.

Viktoria wusste nicht, wie oft sie schon so oder so ähnlich zusammen in einem Auto gesessen hatten. Mario fuhr, und sie kramte in ihren Notizen, die sie selten in einen ordentlichen Block schrieb. War sie auf Recherche, kritzelte sie auf Rückseiten von Quittungen, in Reiseführer oder auf Parkscheine. Sie war Mario dankbar, dass er nicht ein einziges Mal einen dummen Spruch über ihre Zettelwirtschaft machte. Wenn sie mal wieder mit dem halben Kopf in ihrer Umhängetasche steckte, um im Dunkeln nach einer bestimmten Adresse, einem Zitat oder dem Namen des nächsten Interviewpartners zu suchen, schwieg er einfach. Im Gegenzug ließ auch sie ihm seine Macken. Bis heute begriff sie nicht, wie ein Mann, der, ohne mit der Wimper zu zucken, den Anführer eines indonesischen Rebellentrupps bat, die Handgranate noch ein bisschen weiter in die Höhe zu halten, damit das Foto besser wurde, wie so ein Mann das große Bibbern bekam, wenn er eine Mücke summen hörte. »MALARIA!«, rief er dann und tötete die kleine Feindin sofort. Doch auch ganz normale Menschen oder Hotelhandtücher versetzten ihn schon in Panik.

Mario Siewers, der härteste aller Fotoreporter, hatte immer ein Fläschchen Desinfektionsspray dabei. Regelmäßig dieselte er damit seinen gesamten Kofferraum und seine Kameraausrüstung ein. Als Viktoria einmal für eine Strichermordgeschichte mit Straßenkindern vom Bahnhof Zoo gesprochen und einem kleinen Punk-Mädchen zum Abschied die Hand gegeben hatte, reichte er ihr angewidert ein nach Arzt riechendes antiseptisches Feuchttuch. »Nimm das. Man weiß ja nie.« In einem Hotel in der Türkei – Viktoria und Mario mussten sich ein Zimmer teilen, da nach dem großen Erdbeben 1998 nur noch dieses eine Hotel stand – schrie er sie fast hysterisch an, als sie aus der Dusche kam. »Du hast doch nicht etwa die Handtücher dort benutzt.« Sie hatte. Natürlich. Denn sie vergaß grundsätzlich, in jedem Urlaub und bei jedem Auftrag und bei jedem Besuch ein eigenes Handtuch. Er schüttelte sich.

»Hast du denn nicht gesehen, wie dreckig das aussah? Das ist voller Bakterien!«

Einen Moment lang glaubte sie ihm. Doch als sie Tage später keine Anzeichen von schlimmen bakteriellen Erkrankungen bei sich feststellte, glaubte sie ihm nicht mehr. Er hielt sie seitdem für ein bisschen ekelhaft. Gut, dass ich wenigstens meine Augenbrauen regelmäßig zupfe, dachte Viktoria.

Es war also wie immer. Viktoria kramte in ihrer Umhängetasche nach der Adresse des Lokalblatts von Telgte, der Kleinstadt, zu der auch Westbevern gehörte. Sie hatte den Straßennamen aus dem Internet ausgedruckt, doch wo war der Zettel? Sie fluchte leise vor sich hin, weil sie ihre Tasche von innen wirklich fies fand. Sie wusste nicht, woher die ganzen Krümel kamen – sie aß eigentlich keine Kekse –, aber sie waren da und klebten nach ihrer Suchaktion an ihren Händen.

Mario fuhr schweigend. Doch dann platzte es geradezu aus ihm heraus: »Hast du das gesehen, Victory? Das ist wirklich so unfassbar.« Er lachte. Sie tauchte aus ihrem versifften Taschendunkel auf, blickte sich um und erwartete mindestens eine Kuh mit zwei Köpfen. Doch sie sah nichts. »Was?«, fragte sie. »Was ist unfassbar?«

»Na, da drüben, diese total verspießten Vorgärten. Ich dachte immer, das wäre nur eines dieser Vorurteile, das ich habe. Aber es stimmt. Die Leute hier auf dem Land haben nichts Besseres zu tun, als Rasen zu mähen, Unkraut zu jäten und Vorhänge zu waschen. Guck mal der Typ da, der hält gerade eine Wasserwaage an seine Hecke. Nachher kniet der sich bestimmt auf seinen Rasen und zählt die Grashalme. O nein, der hat sogar einen Dackel! Siehst du den Köter?«

Viktoria lachte. »Ja, ja, Mario. Du und deine Liebe zum Großstadtchaos. Aber ich garantiere dir, wenn du bei den Leuten da aufs Klo gehst, ist da kein einziges Bakterium.«

»Ja, aber dafür gibt’s da bestimmt eine umhäkelte Klorolle. Und die ist mindestens genauso schlimm für mein Immunsystem.«

Viktoria stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und hielt einen zerknüllten Zettel in die Höhe. »Ha, hier ist die Adresse von den Telgter Nachrichten

»Und was genau wollen wir da?«

»Na, die Kollegen wissen bestimmt am besten über dieses ganze Schützenfestding Bescheid. Außerdem haben die hier vielleicht ein Archiv, da können wir ein bisschen wühlen und Repros von vergangenen Schützenfesten machen. Ein paar Hintergrundinfos über diese Emanzen-Frau, diese Upphoff, kriegen wir bestimmt auch da – und vielleicht haben die ja auch ein paar Amokfotos. Außerdem geht das Festprogramm ja erst heute Nachmittag richtig los, und jetzt ist es gerade mal zehn. Wir verpassen also nix.«

»Okay, Chefin. Guter Plan. Ich glaube, wir sind schon in Telgte.«

Sie fuhren über Kopfsteinpflaster Richtung Zentrum, bogen zweimal rechts ab, an der Backsteinkirche vorbei, folgten dem blauen Schild mit dem P und stellten den Wagen schließlich auf einem großen Parkplatz zwischen einem dunkelgrünen und einem dunkelblauen Golf ab.

Viktoria suchte gerade nach einem passenden Einheimischen – am besten waren Frauen um die sechzig mit Einkaufskorb geeignet: Die waren meistens redselig und informiert –, um nach der richtigen Straße zu fragen, da sah sie schon den Schriftzug der Telgter Nachrichten.

»Mein Gott, ist das easy hier«, sagte Mario, der ihn gleichzeitig entdeckt hatte. Sie steuerten auf die Glastür in dem kleinen unscheinbaren Siebzigerjahrebau zu und öffneten sie.

Eine rothaarige Frau mit großer Brille und Leggings saß hinter einem Tresen und schaute mürrisch auf.

»Guten Tach, was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Viktoria Latell, das ist mein Kollege Mario Siewers. Wir sind vom Berliner Express und würden gerne unsere Kollegen hier von der Telgter Zeitung …«

»Von den Telgter Nachrichten

»Ja, genau. Nachrichten. Also wir würden gerne mit den Kollegen sprechen. Sind sie da? Vielleicht jemand aus dem Ressort ›Lokales‹ oder ›Polizei‹ oder ›Vermischtes‹?«

»Momentchen.«

Mit ihren für Leggings eindeutig zu dicken Beinen stampfte die Frau durch eine weitere Glastür und rief in den Raum dahinter: »Hey Leute, da sind Reporter aus Berlin. Die wollen jemanden aus ’nem Ressort sprechen.«

Drinnen wurde laut gelacht.

Doch sie winkte den Besuch herein. »Gehen Se durch!«

Viktoria stieß Mario in die Seite, der wie in Hypnose auf die bräunlichen Rankenmusterleggings starrte, und sie traten durch die zweite Glastür.

An einem großen Doppelschreibtisch saßen sich zwei Männer gegenüber. Der eine, rechts, trug Vollbart, der andere, links, Glatze. Beide waren vielleicht Mitte vierzig, und beide grinsten, als hätten sie den besten Scherz … nein, als wären die Berliner Gäste der beste Scherz des Jahrhunderts. Der mit der Glatze polterte schließlich in jovialem Tonfall los: »Na, da kommen Se mal rein in unsere gute Stube. Äh, ’tschuldigung. Ich meine natürlich in unser Ressort! Also ich bin heute ›Lokales‹ und ›Vermischtes‹ und der da drüben, der Alex, der ist ›Vermischtes‹ und ›Lokales‹. Die Polizei ist ein paar Straßen weiter …« Beide lachten wieder. Ja, ja, Viktoria hatte es begriffen. Das hier war eine Zweimannklitsche. Jeder macht hier alles und überhaupt. Ihr fielen die unendlichen Kaninchenzüchtergeschichten ein, die beinahe jeder Chefredakteur einmal in seinem Leben mit feuchten Augen zum Besten gab. So konnten sie den kleinen Reportern zeigen, dass auch sie mal ganz unten angefangen, dass sie von Vereinsversammlung zu Vereinsversammlung getingelt waren, Kaninchenzüchter- und Taubenzüchtergeschichten geschrieben hatten – und nicht als die abgezockten Medienarschlöcher geboren wurden, die sie jetzt waren. Von der tiefen Provinz, vom kleinen Lokalblatt hatten sie sich alle zum Express durchgekämpft. Viktoria hatte ihnen höflich zugehört, aber es auch gleich wieder vergessen. Jetzt stand sie also mitten in der Wiege aller großen Chefredakteure und hatte sich mit ihren »Ressorts« lächerlich gemacht. Was soll’s! Sie strahlte die beiden Männer mit ihrem Victory-Lächeln an, streckte energisch die rechte Hand raus, drückte beim Schütteln fest zu, und es klappte auch so – ohne Karnickelzuchtverein-Erfahrung.

Die Glatze ergriff wieder das Wort: »Also, mein Name ist Gregor Clausener. Der Vollbart da heißt Alex Ebelt. Was gibt’s? Ist in Berlin nix mehr los, dass ihr schon hierherkommen müsst?«

»Auf jeden Fall sind die Frauen da nicht so hübsch«, sagte Mario und schaute zur Empfangssekretärin. Der Vollbart folgte seinem Blick, lächelte, und Viktoria wusste, die beiden Kaninchenzuchtverein-Experten würden den Stadtdeppen sicher helfen.

Anderthalb Stunden und fünf Tassen Kaffee später war der linierte Notizblock, den Mrs. Leggings Viktoria mit gönnerhaftem Lächeln gereicht hatte, voll.

Das Material der Kollegen hier war gar nicht mal so schlecht.

Viktoria hatte die Adresse, das Geburtsdatum und sogar die Haarfarbe von Elisabeth Upphoff – blond mit Strähnchen vom Friseur Scherenschnitt, har har. Sie wusste, dass sie in der Katholischen Frauengemeinschaft Schriftführerin war und ihr Mann im Männergesangsverein die Kasse führte. Sie wusste auch, welche Waffen Elisabeth sich an jenem Abend aus dem Jagdschrank ihres Mannes gegriffen hatte und dass die Bombenattrappe aus der Verkleidungskiste im Keller stammte. Ihre Ehe war seit dem Zwischenfall zerrüttet. Elisabeth habe sich in ihrem Haus verkrochen, der Mann wohne auch noch dort – wahrscheinlich im Gästezimmer, doch eine Stellungnahme hätte man gar nicht haben wollen, weil man hier in Telgte und Westbevern noch die Privatsphäre achte, so Glatze Gregor nicht ganz ohne Vorwurf im Ton. Dann legte er ein paar Seiten Schützenvereins-Material auf den Kopierer.

Viktoria zog ein Blatt aus dem Auswurffach und las laut vor. »Hör mal, Mario!«

Mario gähnte.

»Auszüge aus der Vereinschronik des Westbeverner Schützenverein e.V. von 1780: Das Schützenwesen geht bis zur Urzeit der Menschheit zurück. So wie jeder Jagdzauber und Fruchtbarkeitsmythen in jeder steinzeitlichen Höhle.«

Mario sah auf. »Ja, steinzeitlich, das passt.«

Sie las weiter, leise für sich. Und sie staunte. So viel Historie hatte sie nicht erwartet. »Ursprung der Schützenvereinigungen ist eine echte Not- und Wehrgemeinschaft, die sich aus dem Zwang des täglichen Lebenskampfs zusammenschloss. Feinde: unter anderem Großwild. Außerdem mussten die wehrfähigen Bewohner erfasst werden, bei den jährlichen Treffen, die dafür abgehalten wurden, kam es zu Opfergelagen, bei denen das sogenannte Gildebier getrunken wurde. Und bei denen seit dem 16. Jahrhundert vielerorts auf einen Vogel – damals lebte er noch – geschossen wurde.« Als im 18. Jahrhundert ein Berufsheer herangebildet wurde, brauchte man die Schützenbrüder nicht mehr. »Und so wandte man seine Aufmerksamkeit dem Schützengelage, also deftigem Trinken und Schmausen, zu.« Na, dann Prost und genug Geschichte. Viktoria wollte ja wissen, was es heute mit dem Fest auf sich hatte. Warum drehte eine Frau durch, weil sie nicht Königin der Trink- und Schießgesellschaft werden durfte?

»Ich will jetzt mal die Emanze raushängen lassen«, sagte sie zu ihren Kollegen vom Lokalblatt. »Warum darf denn bei diesem ganzen Königsding keine Frau mitschießen? Das lese ich hier nicht. Und warum haben die Brüder diese Elisabeth nicht einfach gelassen, vielleicht hätte sie ja gar nicht getroffen. So eine tolle Schützin scheint sie ja gar nicht zu sein – wie ihr Pseudoamoklauf ja offensichtlich gezeigt hat.«

Vollbart Alex schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Das Königsschießen ist schon immer Kernstück und ältester Bestandteil des Schützenbrauchtums. Die Kirche mischt da sogar mit. Erst wenn der Pfarrer seinen Segen und der alte König einen Schuss abgegeben hat, geht es los. Es ist also extrem wichtig – und heilig.«

»Und weil es wichtig und heilig ist, dürfen Frauen nicht auf Spielzeugadler ballern, oder was?« Viktorias Stimme wurde etwas schrill.

Mario rieb sich die Ohren. »Ruhig, ruhig – oder läufst du auch gleich Amok?«

Gregor redete weiter: »Was heißt schon: dürfen nicht? Das ist ja das Problem. Es gab im Münsterland vor hundertfünfzig Jahren vereinzelt Königinnen, aber im traditionsbewussten Westbevern waren Schützenfeste immer schon reine Männersache. Die Herren haben nur eben nicht daran gedacht, es in ihre Satzung aufzunehmen.« Alex nickte: »Bei ihren Kollegen von der Antoniusbruderschaft in Coesfeld steht’s drin – und alle müssen sich dran halten.«

»Was«, fragte Viktoria in leicht säuerlichem Ton, »steht da drin? ›Frauen müssen draußen bleiben‹!?«

»Nö.« Glatzkopf grinste: »De Huesfrowen to Huse to laoten.«

Vollbart wollte helfen und übersetzte: »Die Hausfrauen zu Hause lassen.«

Viktoria nickte eisig, ohne brav zu lächeln. »Und Frau Upphoff hat das wohl nicht mehr gepasst mit dem Zuhausebleiben. Ist ja auch ganz schön machomäßig hier!« Die Männer im Raum grinsten. Sie redete weiter: »Ist sie eigentlich bekannt als kämpferische und aggressive Emanze?«

Alex schüttelte den Kopf und kraulte sich im Vollbart. »Eben überhaupt nicht. Die Frau war bis vor ein paar Wochen total unauffällig. Eine brave Hausfrau um die fünfzig. Eine gar nicht mal hässliche dazu, hat sich gut gehalten. Muss früher so eine kleine Dorfschönheit gewesen sein, drüben in Westbevern. Dass ausgerechnet sie ihren Mann erst mit ihrem komischen Schießwunsch so lächerlich macht und dann noch durchdreht, damit hätte hier keiner gerechnet.«

»Ich dachte, das größte Problem sei der Beinahe-Amoklauf – was ist denn dagegen schon ein bisschen Lächerlichkeit?«

»Doch, doch, das war auch schon hart. Denn der gute Ferdinand, also ihr Mann, wollte doch selber unbedingt König werden. Im letzten Jahr hätte es beinahe geklappt, aber da gab es einen Konkurrenten. Dass ihm jetzt ausgerechnet seine eigene Frau in die Quere kommen wollte, war schon fies.«

»Wollte sie ihn denn vorführen, hatten die beiden Streit?«

»Keine Ahnung, das ist …«

»Privatsache«, ergänzte Viktoria und lächelte sanftmütig. »Also ihr Reporter hier seid wirklich anständig.«

Eine gut erhaltene Hausfrau, die ihren Mann demütigte und dann durchknallte: Die Geschichte wurde immer spannender, und Viktoria freute sich schon fast auf ihr Treffen mit Elisabeth Upphoff.

»Und was hat das mit dem Vereinslogo auf sich?«

Der kahlköpfige Kollege zuckte mit den Schultern. »Was denn für ein Logo?«

»Na, der Biber. Was bedeutet der?« Viktoria tat so, als interessiere die Antwort kaum.

»Nix. Ist halt der Biber von der Bever. Dem Fluss, der durch Westbevern fließt. Aus Bever wurde Biber …«

»Ach und deshalb auch WestBEVERN.«

»Bingo! Und: Ostbevern.«

Mario schaute auf und lachte. »Ich fass es nicht. Ist ja wie in Berlin hier. Westbevern, Ostbevern. Wo war denn eure Mauer?«

»Nur in den Köpfen«, erwiderte Vollbart. Und alle vier Reporter lächelten.