12. Kapitel

 

»Kameraaaaaaden! Stillgestanden!« Das Antreten war so, wie Viktoria es sich vorgestellt hatte. Eine Mischung aus militärischen Befehlen, Marschmusik und fröhlichem Durcheinander. Erstaunlich war, wie unterschiedlich die schwarz-grüne Truppe war, die mit geschulterten Holzgewehren – einige davon waren Attrappen – durch die Straßen von Westbevern lief. Dicke, Dünne, Alte, Mittelalte, Junge, Große und Kleine. Zwar versuchten alle so etwas wie eine Kompanie darzustellen, doch an Soldaten erinnerten diese Herren kaum. In einer der ersten Reihen marschierte Ferdinand Upphoff, der, ohne eine Miene zu verziehen, zackig geradeaus ging und nicht nach rechts oder links schaute. Er trug wie all die anderen eine dunkelgrüne Uniformjacke, an deren Brust ein goldenes Wappen leuchtete, seine Hose saß gut. Seine Haare auch. Stur schaute er auf den Kameraden vor ihm. Hätte er seinen Blick nur für ein paar Sekunden auf den Straßenrand gerichtet, dann hätte er seine Frau gesehen. Elisabeth sah hübsch aus, die Haare samt neuer Strähnchen leuchteten, sie trug eine hellblaue, taillierte Bluse, dazu einen dunkelblauen engen Rock. Stewardessenchic. Viktoria hatte ihr zugenickt, sie hatte den Gruß nervös erwidert, und als der Schützenbrüdertrupp näher kam, hob sie die Hand. Sie wollte ihrem Ferdi zuwinken. Doch er sah nichts. Wollte nichts sehen. Nur ein paar Sekunden, dann war die Truppe vorbei. Elisabeth trottete langsam hinter dem Zug her, ihre Schultern hingen herab. Viktoria schaute ihr nach.

Mario grinste und flüsterte: »Ich hab das Foto. Wie sie da steht, so aufgehübscht, und ihm zuwinken will. Das totale Heimatfilmdrama – ich hab’s!«

»Toll«, sagte Viktoria tonlos. Elisabeth Upphoff wurde immer kleiner. Das Hellblau ihrer Bluse und das Dunkelblau ihres Rocks vermischten sich.

Viktoria ließ ihre Hand in ihre Tasche gleiten und fühlte das Papier darin. Es war kühl und glatt, trotzdem hatte sie das Gefühl, es würde ihre Hände verbrennen und die Haut ihrer Finger zerfetzen. Es war ein Foto. Es hatte auf ihrem Bett gelegen, als sie nach dem Frühstück noch einmal kurz auf ihr Zimmer gegangen war. Zum Zähneputzen und um die Jacke zu holen. Das Foto war nicht zu übersehen gewesen. Viktoria wusste, dass Harry es dort hingelegt hatte. Sie war ihm auf der Treppe entgegengekommen, er hatte ihr ernst zugenickt.

Sie hatte das Bild in die Hand genommen und sich auf ihr schmales Bett gesetzt, der Lattenrost quietschte. Drei Frauen waren darauf zu sehen. Sie hatten sich hinter einem goldenen Zapfhahn postiert und trugen Schürzen mit der Aufschrift »Gasthaus König«. Sie strahlten in die Kamera des Fotografen. Eine hatte ein sehr rötliches Gesicht, die Haare waren dauergewellt, sehr viel blonder und etwas länger als jetzt. Es war Rosa in ihren besten Jahren. Daneben stand eine Kurzhaarige. Sie war untersetzt, hatte kräftige Unterarme, und Viktoria schätzte sie auf Ende vierzig. Ihr rechter Unterarm lag auf der zarten Schulter einer schlanken, sehr jungen Frau. Sie hatte lange schwarze Haare, wunderschöne blaugrüne Augen und einen erdbeerroten Mund.

»Hallo! Aufwachen! Victory!« Mario zupfte Viktoria an ihren Haaren.

»Autsch!«

»Träumst du jetzt auch davon, Schützenkönigin zu werden?« Mario grinste breit. Die Trommeln und das Glockenspiel wurden langsam leiser. »Was ist, Chefin? Lass uns doch einfach mitmarschieren.«

»Du marschierst, ich fahre!«

Mario schüttelte verständnislos den Kopf. »Wenn du meinst. Wir treffen uns gleich beim Holzvogel.« Viktoria nickte und öffnete ihre Hand.

»Was ist?« Mario wollte sie nicht verstehen.

»Der Autoschlüssel! Du willst ja laufen …«

Mario verzog gequält das Gesicht, warf ihr aber sein Lieblingsstück zu. »Sei lieb zu ihm!« Dann marschierte er im Stechschritt hinter der Meute her.

Sie hatte nicht gewollt, dass die Reifen quietschten. Aber sie taten es, als sie vor der Tür des Gasthofs König zu schnell und zu hart auf die Bremse trat. War zwar peinlich, aber egal. Viktoria hatte es eilig. Sie riss die Autotür auf und stapfte in die Kneipe. »Harry! Harry, sind Sie hier?« Keine Antwort. Sie öffnete die Schwingtür hinter dem Tresen, in der Küche war es sauber – und ruhig. Sie ging zurück. Auch die Erdkrümel auf dem Fliesenboden waren weggefegt worden, das Frühstück war abgeräumt. Sie rief wieder, keine Antwort. Viktoria steuerte auf die Treppe zu, vorbei am Saal mit den gestapelten Stühlen. Durch die Glasscheiben in der Tür sah sie ihn. Harry trug gerade Stuhl für Stuhl zu den Tischen, die jetzt in der Mitte des Raums in einem großen Viereck angeordnet waren. Viktoria trat ein.

Harry schaute kurz auf und murmelte: »Ist schon für Montag, Beerdigungskaffee.«

Viktoria blieb stehen. »Das Foto.« Mehr brachte sie nicht heraus.

»Was für ein Foto?« Harry sah sie nicht an.

»Sie sind ’n miserabler Lügner.«

»Gibt Schlimmeres.«

»O ja. Zum Beispiel, wenn die eigene Mutter eine sehr begabte Lügnerin ist.«

»Davon versteh ich nix.«

Viktoria nahm einen Stuhl vom Stapel und stellte ihn an einen der Tische. »Sie hat hier also mal gearbeitet?«

Harry schaute immer noch nicht auf, er ging wieder zum Stapel, nahm den nächsten Stuhl, stellte ihn hin. »Wer?«

Viktoria nahm das Bild aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch, an den Harry gerade den nächsten Stuhl stellen wollte. »Das hier ist meine Mutter, und das hier ist ein Zapfhahn, auf dem Gasthaus König steht. Warum haben Sie mir das Foto gegeben?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wer Ihre Mutter ist. Aber ich dachte, Sie suchen etwas – und ich wollte behilflich sein.« Er tippte auf das Bild. Dann ging er. Tischdecken holen – für den Leichenschmaus.

»Ich war gut damals.« Marie Latells Stimme war eine Oktave tiefer gerutscht. Sie klang nach Rauch und Rotwein. »Flink, geschickt. Konnte mir alle Bestellungen merken.« Michael lächelte und reichte ihr ein Toastbrot mit Honig über den Tisch. Marie nahm es, legte es auf den kleinen Teller und zündete sich eine Zigarette an. »War ja auch leicht. Die meisten wollten nur Bier oder kurzlang.«

»Kurzlang?« Michael pustete in seinen heißen Kaffee.

»Bier plus Schnaps – also ein langes Bier und einen kurzen Schnaps.«

Michael goss Milch in den Kaffee.

»Aber sag mal, Kleiner. Warum bist du so nett zu mir? Ich habe gestern zu viel getrunken, dann lässt du mich hier schlafen und jetzt auch noch Frühstück inklusive. Erinnere ich dich etwa an deine Mutter?«

Kopfschütteln. »An meine Tante.«

»Na großartig! Immerhin nicht an deine Oma.«

»O nein, die war hässlich wie die Nacht. Und die hätte nie ein Bier zapfen können, wäre ihr zu unmoralisch gewesen.«

Marie lachte, es klang wie ein Husten. »Und mit ’nem verheirateten Dorfbeau hätte sie wohl auch nichts angefangen.«

»Den hätte sie nie bekommen, so langweilig, wie die war.«

Langweilig, das war Marie nicht gewesen. Sie war vielleicht launisch, vielleicht unberechenbar – aber niemals langweilig. Nicht so, wie die meisten der Kunden im Gasthof König. Marie hatte sich auf eine kleine Anzeige in der Münsterschen Zeitung gemeldet. »Suchen Aushilfe für die Hauptsaison, gerne nette Studentin – Gasthof König.« Und so wurde aus der Kunststudentin Marie in den Semesterferien die Bedienung Püppi. Irgendwie hatte sie den Spitznamen seit ihrem ersten Dienst weg – und er gefiel ihr. Mit ihrem Decknamen konnte sie eine andere Seite ihres Charakters ausleben. Vielleicht die Seite ohne Sinn und Verstand.

»The Dark Side of me.« Marie lachte wieder ihr Hustenlachen, und Michael verbrannte sich die Zunge am heißen Kaffee.

»Warst bestimmt die Schönste im Dorf …«

»O ja.« Marie blies den Rauch in die Luft. »Det war ick.«

Und doch hatte er sie nicht angeschaut. Damals. Dabei hat sie sonst niemand aus Westbevern übersehen können. So fröhlich, hübsch und rotmundig, wie sie war. Er trank nur sein Bier, bezahlte, ging und sah dabei immer ein bisschen traurig aus. Marie fand das interessant. Bernhard war anders als die Typen, die ihr in den Po kniffen oder ins Dekolleté starrten. Er sah gut aus, wirkte intelligent – und sie begann, ihr Netz zu spinnen. Eine kurze Berührung hier, ein verschüttetes Bier da, ein Stolperer, ein Bitten um Feuer. Sie ließ nichts aus. Und irgendwann ließ er es zu.

Marie biss in den Honigtoast. Krümel fielen auf den Teller, Michael schaute aus dem Fenster. »Danke, dass du mir zugehört hast. War deine Tante eigentlich nett?«

»Ja, war sie. Aber sie hat ein Leben lang daran gearbeitet, es nicht zu sein.«

»Und deshalb erinnere ich dich an sie? Versuche ich denn, nicht nett zu sein?« Marie schaute ihn an.

»Nein, bei dir ist es anders. Du versuchst die ganze Zeit, nicht glücklich zu sein.«

Marie musste lachen. Es klang wieder wie eine mittelschwere Bronchitis, es wurde lauter, und es endete in einem tiefen, traurigen Schluchzen.

Michael reichte ihr ein Tempotaschentuch. »Fünftes Semester Psychologie.« Er sagte es wie eine Entschuldigung.

Viktoria starrte auf das Foto. Und Harry blieb verschwunden. Er wollte nichts mehr sagen. Also starrte sie. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen, egal wie lange sie auch schaute. Die zierliche Frau auf dem Foto sah aus wie ihre Mutter. Aber natürlich konnte sie sich irren, immerhin war das Bild alt. Und wieso hatte Harry abgestritten, dass es ihm um die junge Frau auf dem Bild ging? Was war dort noch zu sehen? Viktoria ging jetzt systematisch vor. Sie stellte sich vor, das Foto bestünde aus lauter kleinen Planquadraten mit Kantenlängen von jeweils einem Zentimeter. Links oben begann sie. Das erste Planquadrat beinhaltete einen Teil des Tapetenmusters. Außer dass die Königs inzwischen offensichtlich ihr Gasthaus neu gestrichen hatten, konnte sie nichts daran finden. Planquadrat zwei war auch Tapete, und so ging es weiter. Ein Stückchen Schrank, ein Teil Bierglas, ein Teil vom Lichtschalter, der Zapfhahn. Blank poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. Viktoria sah die Kamera des Fotografen, eine schwarze Nikon. Blonde Ponyhaare fielen über das Gehäuse. Und sie sah ein Auge. Ein wasserblaues Auge, das nicht von der Kamera bedeckt wurde. Sie konzentrierte sich auf die Spiegelung, auf das Gesicht, doch es war zu verzerrt, es hatte keinen Zweck. Sie legte das Bild wieder hin, schaute noch einmal. »Wer hat dieses Foto gemacht?« Sie hatte es nur ganz leise geflüstert. Dann hatte sie auf die Rückseite geschaut. Sie las B. L. Und flüsterte wieder zu sich selbst: »B. L. – Bernhard Lütkehaus.«

Harry stand mit den Tischdecken auf dem Arm in der Tür. Er nickte, ganz leicht nur, kaum zu erkennen.

Viktoria wollte noch etwas sagen, etwas fragen. Doch Rosa erschien hinter Harry. »Na, da bist du ja endlich.« Sie griff nach den Decken. »Dann lass uns mal! Wir müssten eigentlich schon längst am Schützenplatz sein.«

»Da wollte ich auch gerade hin.« Viktoria stand unbeholfen auf und ging. Arbeiten, ich werde jetzt arbeiten, dachte sie.

Sie wusste, dass er es wusste. Und er würde sicher einmal ein guter Therapeut werden. Doch sie war keine gute Patientin und wollte es auch nicht sein. Lebensmüde, depressiv – Diagnose gestellt. Die Therapie kann beginnen! Aber nicht mit ihr. Sie war bisher allein damit klargekommen, sie würde weiter damit klarkommen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Marie wich Michaels verständnisvollem Blick aus. Nein, sie würde ihm nicht von diesem grauenhaften Tag erzählen, an dem sie dachte, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, Schluss zu machen.

Der erste Tag des Jahres war kalt gewesen. Sie hatte ihre Handschuhe gestern bei der Arbeit liegen gelassen. Sie war Kuratorin für das alternative Kreuzberg-Museum, das bis zum 6. Januar geschlossen bleiben würde. Da sie immer erst um 10 Uhr morgens anfangen musste, hatte sie keinen Schlüssel. Die Sekretärin oder ein anderer Kollege hatte immer schon aufgeschlossen, wenn sie zur Arbeit kam. Die Handschuhe waren also eingesperrt. Doch sechs Tage kalte Finger? Nein, danke. Marie Latell stieg an der Haltestelle Bahnhof Friedrichstraße aus und ging in eine dieser geschmacklosen Boutiquen, die jeden Tag rund um die Uhr geöffnet haben und die sie wegen der Touristenmassen immer mied. Gleich im Eingangsbereich entdeckte sie neben dem Stand mit Berliner Bären in allen Fellvarianten ein paar knallrote, günstige Handschuhe. Sie war gerade auf dem Weg zur Kasse, als das Pech sie verfolgte – er hatte sie entdeckt.

»Ach, sieh mal einer an. Die Püppi!«

Marie stoppte. Seit dreißig Jahren hatte sie diesen Namen nicht mehr gehört. Sie drehte sich um und sah Klaus Bühlbecker. Sie erkannte ihn sofort, obwohl er gut und gerne zwanzig Kilo zugenommen und fünfzigtausend Haare verloren hatte. Das fliehende Kinn verriet ihn – sie und Bernhard hatten öfter darüber Witze gemacht. Sie hatte den aufstrebenden Jungunternehmer nie gemocht. Matt sagte Marie: »Klaus – so eine Überraschung! Bist du beruflich hier oder hast du am Brandenburger Tor Silvester gefeiert?«

Er grinste dämlich. »Ne, ne. Feiern tu ich lieber zu Hause. Ich baue in Berlin auch die eine oder andere Brücke.«

Sie nickte und zeigte auf die Handschuhe. »Ich muss eben zahlen.«

Klaus trat auf sie zu, nahm die Handschuhe und ging zielstrebig zur Kasse. »Lass mal!«

Marie war zu überrascht gewesen, um zu protestieren. Also bedankte sie sich brav, als er ihr die Plastiktüte in die Hand drückte, und räusperte sich. Sie hatte weiche Knie. Dabei wäre sie so gerne weggelaufen. Fliehen vor Klaus’ fliehendem Kinn, doch sie konnte nicht. Wie ein Insekt, das sich totstellt, um seinem Fressfeind nicht zum Fraße zu fallen, hatte sie all ihre Lebensfunktionen heruntergefahren. Klaus merkte davon nichts. Je weniger sie tat, je weniger sie auf seine neugierigen Fragen antwortete, desto gieriger wurde er.

»Komm, Püppi. Wir müssen unser Wiedersehen feiern. Ich lad dich ein auf ein Gläschen Rotwein, so was magst du doch bestimmt, oder?«

Sein Zug nach Münster würde erst in ein paar Stunden abfahren, es würde ihn freuen, mit ihr so lange über alte Zeiten zu plaudern. Seine Hotelbar sei ganz ordentlich, sagte er großspurig. Er wohnte im Westin Grand. »Is ja nicht weit, gleich drüben Unter den Linden.«

Alte Zeiten, diese Worte hallten in Maries Ohren nach wie ein Gong. Und dann trank sie in der Hotelbar französischen Rotwein und er Berliner Pilsener, und er überschüttete sie mit Komplimenten. Mit zweifelhaften Komplimenten.

»Mensch, Püppi, bist immer noch so ein heißes Ding wie damals.«

Marie trank einfach weiter. Es machte ihr kein Vergnügen. Es war wie ein Zwang. Klaus sprach über früher und ließ immer mal wieder seine Hand auf ihrem Knie liegen. Doch sie konnte sich nicht rühren.

»Na, Püppi, immer noch so offen wie damals?«

O Gott, Marie fiel ein, dass Klaus öfter versucht hatte, sie zu küssen. Sie konnte kaum seinen Worten folgen. Es ging – so ahnte sie es – um seine Firma, sein Brückenbauunternehmen und um seinen Erfolg. Irgendwann reichte er ihr eine Visitenkarte und einen Block mit seltsamem Briefpapier.

»Hier, das ist das Westbeverner Wappentier.« Er hatte auf das Wasserzeichen gezeigt.

»Eine Ratte?« Marie musste bitter lachen.

Klaus nicht. »Du weißt doch, dass es ein Biber ist.«

Sie stand auf, wollte zur Toilette.

Klaus schaute ihr nach und lobte ihren Hintern. »Wow, wie ’n junges Ding siehste aus.« Klaus mochte junge Dinger. Er mochte das Bier. Und er hätte es gemocht, wenn ihm Püppi die Wartezeit auf den Zug noch ein bisschen mehr versüßt hätte als durch ihre bloße Anwesenheit. Als sie von der Toilette zurückkam, wurde er deutlicher. »Püppi, wir beide hier in Berlin. Das ist doch kein Zufall. Und ein hübsches Hotel haben wir auch schon.« Er grinste.

Marie war schon viel zu betrunken, um zu protestieren. Doch als Klaus aufstand und sie anfasste, wurde sie hellwach.

»Fass mich nicht an«, sagte sie, und die Gäste am Nachbartisch schauten herüber.

Klaus ließ sie nicht sofort los. Er kam mit seinem Mund ganz nah an ihr Ohr und flüsterte: »Ich wusste schon immer, dass du eine Schlampe bist. Alle in Westbevern wussten es. Aber jetzt kann ich ihnen was Neues erzählen. Du bist eine alte Schlampe.« Dann ließ er sie los und ging.

Marie schaffte es nicht, die Spucketröpfchen, die er auf ihren Wangen hinterlassen hatte, wegzuwischen. Sie war plötzlich müde. Sie wollte auch gehen. Für immer. Mit zitternden Händen griff sie nach dem weißen Kugelschreiber, der an dem Block klemmte, den Klaus ihr geschenkt hatte, und begann zu schreiben. Mein lieber schwarzer Engel …

Dann rief sie ihre Tochter an, ließ sich von ihr nach Hause bringen und steckte den Abschiedsbrief in Viktorias Jackentasche. Es war ihr nur recht, dass sie schnell ging. Als sie alleine war, drückte sie alle Schlaf- und Schmerztabletten, die sie in ihrer Wohnung finden konnte, aus den Verpackungen, würgte sie mit jeder Menge Wasser herunter und schlief ein.

Doch statt in der Hölle erwachte sie in einer weißen Pfütze aufgelöster, ausgebrochener Tabletten. Sie fühlte sich schwach, elend, übel – aber sie lebte. Prosit Neujahr! Was für ein Start in die nächsten dreihundertfünfundsechzig Tage voller Schuldgefühle, Frust und falscher Männer.

Viktoria hatte sie nie auf den Brief angesprochen. Vielleicht hatte sie ihn nicht ernst genommen. Vielleicht war es ihr ja sogar peinlich, eine Mutter zu haben, die es nicht schaffte, sich einfach mal gepflegt das Leben zu nehmen. Andererseits konnte sie den Zettel mit diesem hässlichen Biberwasserzeichen ja auch einfach verloren haben. Sie kramte ja immer in ihren völlig überfüllten Taschen herum, da fiel dauernd etwas heraus. Der Neujahrstag war sehr windig gewesen, erinnerte sich Marie. Vielleicht ist der Abschiedsbrief einfach von einer Böe ins Jenseits befördert worden.

»Kennst du Vom Winde verweht?«, fragte Marie Michael, der immer noch abwartete.

»Klar. Wieso?«

»Nur so«, sagte Marie und nahm noch einen Schluck Kaffee.