19. Kapitel

 

Viktoria beobachtete zwei Fliegen, die aufeinanderhockten und brummten. Poppende Fliegen, dachte sie. Bald schon wird eine kleine, hässliche Made das Licht der Welt erblicken – oder das Dunkel der Biomülltonne. Ein gutes Gramm schwer, einen knappen Zentimeter groß – Mutter und Kind sind wohlauf. Mutter und Kind. Mutter und Kind. Viktoria konnte sich kaum konzentrieren. Sie sah Martha vor sich, alt und grau und mit gesenktem Haupt. Und in ihrem Kopf sah sie die junge Frau vor sich, die Martha einmal gewesen war. Schön, schlank, gerade und doch gebrochen. Weil das Kind in ihrem Leib starb und weil der Mann, den sie liebte, ein Kind mit einer anderen bekam. Ein Mädchen. Ein kleines, süßes, kerngesundes Mädchen mit Zöpfchen und blaugrünen Augen. Es wurde Klein Püppi genannt, weil ihre Mutter Püppi genannt wurde.

Doch die Mutter hieß eigentlich Marie und das Kind Viktoria. Und Viktoria liebte es, wenn ihr Vater ihr aus einem Taschentuch eine kleine Maus faltete und sie hüpfen ließ. »Bernie«, rief sie dann vergnügt. »Bernie! Mehr. Noch mal.«

Dass Bernie Papa war, wusste sie nicht. Bis heute. Bis jetzt.

Bis zu diesem Moment, in dem die beiden Fliegen Nachwuchs zeugten.

Marthas Haupt war noch immer gesenkt. Sie sprach mit der Tischdecke. Doch Viktoria hörte jedes Wort.

Am Tag, als Bernhard Lütkehaus Schützenkönig von Westbevern wurde, am 16. Juni 1976, wurde er untreu. Seine Frau Martha wusste es, bevor er es wusste.

Sie saß neben ihm. Der Schützenball tobte, die Musik spielte laut, die Trommeln bebten, Biergläser waren schneller leer als aufgefüllt. Martha lehnte zum dritten Mal ein Glas und einen Tanz ab, und Bernhard, König Bernhard I., wankte zur Theke. Da stand diese Frau. Klein, schwarzhaarig, aufreizend. Bei jedem Bier, das Bernhard sich holte, lächelte sie ihn an. Sie berührte seine Königskette, seine Hand, wenn sie ihm das Glas gab, sie strich sich durch die Haare. Martha zog sich ihre Strickjacke über, ihr war kalt.

Bernhard gab es irgendwann auf, seine Frau nach einem Tanz zu fragen. Er blieb an der Theke stehen, redete mit seinen Freunden, trank ein paar Schnäpse. Es war nach zwei Uhr, das Festzelt war halb leer. Ein paar Betrunkene schliefen an den Tischen.

Martha stand auf und ging zu ihrem Mann. »Ich mach mich nach Hause auf.«

Bernhard schaute kurz. Seine Augen waren glasig. »Soll ich dich bringen?«

»Nein, bin ja mit dem Rad schnell daheim. Feier du noch schön.« Ein kurzer, trockener Kuss, dann ging sie zu ihrem schwarzen Fahrrad. Sie wollte gerade aufsteigen, doch ihre Blase drückte, sie hatte den ganzen Abend Wasser getrunken. Das Bier hatte sie heimlich mit Wasser verdünnt, Schnäpse abgelehnt. Bloß nicht zu viel Alkohol. Sie hatte es Bernhard extra noch nicht gesagt, doch ihre Tage waren ausgeblieben. Es könnte also sein … Vielleicht, vielleicht. Es könnte klappen, dieses Mal. Das Wort Baby dachte sie nicht einmal. Aber Bier lieber doch nicht. Die Blase drückte unerträglich. Martha lehnte das Fahrrad wieder an den Baum und ging zum Toilettenwagen. Eine Tür war offen, Gott sei Dank. Sie raschelte mit dem Klopapier, wollte die Brille säubern, da spürte sie einen Schmerz im Unterleib. Sie krümmte sich, der Krampf löste sich. Sie spürte die volle Blase und setzte sich. Dann sah sie das Blut auf dem Klopapier und ihr Hals wurde ganz eng. Es schien, als vibrierte der Toilettenwagen, sie verlor das Gleichgewicht, ihr wurde schwarz vor Augen, doch sie fing sich wieder. Lehnte sich zurück. Atmete. Dann hörte sie ihn stöhnen. Sie konnte seine Schuhe durch den Schlitz zwischen den Kabinen sehen. Der Toilettenwagen vibrierte tatsächlich. Martha saß mit hochgerafftem Rock auf der mit Klopapier bedeckten Klobrille, Blut tropfte aus ihrem Unterleib. Sie schlug ihren Hinterkopf gegen die Holzwand – im gleichen Takt, in dem Schützenkönig Bernhard I. die Aushilfskellnerin Marie Latell zum Höhepunkt stieß.

Viktoria war schlecht, sie wollte wegrennen. Doch sie blieb auf dem Holzstuhl in Marthas Küche sitzen und bewegte sich nicht. Ich bin zu Stein geworden, dachte sie. Ein dicker, schwerer Stein drückte auf ihren Magen, ihr Herz, ihre Stimmbänder. Sie konnte nichts tun, sich nicht rühren, nichts fragen. Dabei hätte sie es am liebsten herausgeschrien. »Was hat das alles mit mir zu tun? … Warum hat er sich erhängt?«

Dabei wusste sie die Antwort. Tief in ihrer versteinerten Seele rührte sich die Wahrheit und würde sich einen Weg bahnen. Durch ihr Herz, durch ihren Magen, durch ihre Eingeweide und in ihre Augen. Da, sie sah es. Sie fühlte es. Sie wusste es: Sie war schuld. Mama war schuld an allem. Bernhard Lütkehaus, Bernie, Papa, er hatte es nicht ertragen, dass Marie Latell ihm die Tochter genommen hatte und mit ihr wegging aus Westbevern. Lieber wollte er an einem Baum hängen und sich vom Wind hin und her schaukeln lassen, als den Schmerz zu ertragen, sein Kind nicht mehr zu sehen. Der Felsen in Viktoria bekam Risse. Es bröckelte, es rutschte, ein Erdbeben tobte in ihrem Körper. Und endlich, endlich – weinte sie. Salzige, bittere Bäche, Flüsse, Seen, ein ganzes Meer von Tränen. Um ihn.

Und um sich selbst.

Bernhard Lütkehaus war überrollt worden von der Liebe. Nicht zu Marie, die er mochte, die er gerne anfasste und mit der er gerne schlief. Nein, seine Liebe galt dieser kleinen, süßen Kröte. Diesem Mädchen, das seine Tochter war – und es nicht sein durfte. Er hatte darauf bestanden, dass Marie es geheim hielt. Denn er wusste, dass seine Frau daran verrückt werden würde. Also war er für Viktoria nur Bernie und nicht Papa. Er selbst litt am meisten darunter. Auf seinen Verkaufstouren machte er immer wieder Abstecher in die Studentenwohnung von Marie. Wenn sie im Gasthof König kellnerte, brachte sie das Mädchen mit – und Bernhard musste an diesen Tagen immer dringend mal wieder ein kleines Bierchen trinken gehen. Dass kein Westbeverner Verdacht schöpfte, lag daran, dass Viktoria einen erfundenen Vater bekam. Über den Marie gerne meckerte.

Die Männer an der Theke meckerten mit. »Was für ein gemeiner Hund, dich einfach alleine mit Klein Püppi zu lassen.« Niemand fand es seltsam, dass Bernie so einen besonderen Draht zu ihr hatte. Alle wussten, dass er Kinder liebte und sich welche wünschte. Alle wussten, dass es bei Martha nicht klappte. Und Martha wusste, dass Viktoria die Tochter ihres Mannes war.

Aber sie sagte es nicht. Lieber ertrug sie seine Ausreden, seine liebevollen Blicke, wenn er das Kind ansah, die verstecken Babyfotos, all die Lügen und Demütigungen. Sie würde ihm auch bald ein Kind schenken, und dann hätte sie ihn wieder für sich. Nach der letzten Fehlgeburt hatte sie beschlossen, nur noch nach vorn zu schauen. Kein Baby, das nicht bei ihr bleiben wollte, würde sie mehr betrauern. Sie würde nur noch beten, dass eines bliebe.

Nachts träumte sie von seinem Kind, dem kleinen Bastard. Die Träume waren schrecklich. Sie nahm darin das Kind aus dem Kinderwagen und drückte es so fest und so lange, bis es aufhörte zu schreien. Wenn sie aufwachte, spürte sie immer noch den Hass in sich, und sie schämte sich furchtbar dafür. Manchmal ging sie an solchen Tagen in die Kirche und betete. »Lieber Gott, nimm diesen schrecklichen Hass von mir. Ich erkenne mich nicht mehr, ich will töten. Und das darf nicht sein!« Doch Gott hörte nicht auf sie. Sie hasste das fremde Kind mit Leib und Seele. Und sie wollte es töten.

Das erste Album war schon voll. Marie klebte die Fotos in der Reihenfolge ein, in der sie sie in der Kiste fand.

Die kleine Viktoria mit eins, mit zwei, mit drei. Ihre Haare waren dunkel und kräftig und wunderschön lockig. Sie selbst hatte das Studium längst abgebrochen. Aber ihr lässiges Studentenleben ging weiter. Sie trank viel Rotwein, diskutierte mit langhaarigen Sozialwissenschaftlern und schlief mit ihrem Liebhaber aus Westbevern. Sie wusste, dass sie bei Männern gut ankam, dass sie bei Bernhard gut ankam – aber eben nicht mehr. Sie wollte ihn aber ganz. Oder sie wollte das Gefühl haben, ihn ganz haben zu können. Beides gab er ihr nicht. Und so beschloss sie, die Sache ernsthaft in die Hand zu nehmen.

»Berlin mit mir und Viktoria, oder wir vergessen es.« Marie sagte es ganz nebenbei, Bernhard beobachtete gerade Viktoria, wie sie Zwiebackreste auf die Enten am Aasee warf.

»Wie, Berlin?« Seine Stimme klang noch ganz ruhig.

»Wir gehen nach Berlin. Und du kommst mit.« Sie versuchte, ganz cool zu klingen, Pokerface.

»Was soll das, Püppi?« Bernhard schaute kurz zur Seite und dann wieder auf die weglaufenden Enten.

»Du wirst dich nie von deiner Frau trennen.«

»Ja, wie schon tausend Mal besprochen. Ich kann ihr das nicht antun.«

»Musst du ja auch nicht. Bleib schön bei ihr. Bleib in deinem Scheißkaff und verkauf weiter deine Trecker …«

Bernhard lächelte bitter. Marie spürte, dass er ihr entglitt. Sie musste den Einsatz erhöhen.

»… und vergiss Viktoria.«

Bernhard stand auf. »Das kannst du nicht machen.« Viktoria schaute herüber, lachte und rief irgendetwas, dann kramte sie weiter in der Zwiebackschachtel.

Marie schaute Bernhard an. »Du weißt, dass ich es kann. Und ich weiß, dass du es auch kannst. Du willst doch nicht ewig in deinem Westbevern bleiben. Du bist doch viel mehr als Schützenverein, Bier an der Theke und Landmaschinenvertreter. Du bist doch anders, du träumst doch auch immer von einem weiten Leben ohne diese ganzen Spießergrenzen. Jetzt gebe ich dir die Chance dazu.«

»Die Chance, in einer dreckigen Stadt zu wohnen? Die Chance, meine Frau zu vernichten? Bleib mal ganz unten auf dem Boden, Marie.« Er hatte es arrogant gesagt, von oben herab. Marie riss sich zusammen, Pokerface.

»Wie du meinst. Morgen früh um 5.36 Uhr sitzen Viktoria und ich im Zug nach Osnabrück. Und von dort fahren wir direkt weiter nach Berlin. Entweder du packst deinen Koffer und steigst ein, oder du tust es nicht und sagst deiner Kleinen jetzt gleich noch Lebewohl. Es ist deine Entscheidung.«

»Das Mädchen gehört nicht nach Berlin, es gehört zu seinem Vater.«

»Zu dem es nicht einmal Papa sagen darf?« Maries Stimme wurde wackelig. »Komm mit, und sie hat endlich einen richtigen Vater.«

»Marie!« Bernhards Stimme wurde lauter.

»Um 5.36 Uhr! Du kannst entscheiden.«

»Ich … ich kann das nicht entscheiden. Nicht jetzt, einfach so. Ich kann nicht.«

»Denk darüber nach. Du hast es in der Hand. Bist du morgen früh nicht da, wird Viktoria dich vergessen müssen. Denn dann bist du für mich gestorben – und damit auch für sie.«

Viktoria kam mit ausgebreiteten Armen auf die beiden zugelaufen. Die Zöpfe flogen, sie lachte, sie fiel Bernhard um den Hals und rief: »Die Enten machen Purzelbaum im Wasser.«

Bernhard strich ihr mit seiner Hand über den Rücken und sagte. »Prima, meine Kleine. Das ist ganz prima!« Ihre Haare kitzelten sein Kinn.

»Bernie! Nicht so doll drücken.« Viktoria kicherte. »Dann krieg ich keine Luft mehr und kipp um.«

Bernhard ließ sie los. »Ich weiß. Ich krieg auch keine Luft mehr.« Dann ging er. Als er den Wagen aufschloss, hörte er noch die Stimme seiner Tochter. Sie weinte und rief: »Mama, sag Bernie, er soll nicht weggehen. Er soll hierbleiben. Bei mir und den Enten.« Er startete den Motor und fuhr los. Die Sicht war schlecht – doch für tränennasse Augen gab es keine Scheibenwischer.