21. Kapitel

 

»Sie haben ihn gestoßen?« Viktoria erwachte aus ihrer Starre.

Martha nickte.

»Kein Selbstmord?«

Martha schüttelte den Kopf.

»Also habe ich nur geträumt? Von dem Baum und von ihm an diesem Baum?«

Martha schüttelte wieder den Kopf. »Ich wollte, dass ihr davon träumt. Euer ganzes Leben lang solltet ihr ihn so sehen. Tot. Ich wusste, wann der Zug kommen würde, und ich hatte genug Zeit. Deine Mutter sollte denken, dass sie ihn umgebracht hat. Sie ganz alleine. Und es stimmte ja auch. Sie war schuld, sie. Ich, ich habe ihn nur gestoßen.«

Viktoria schaute sich Martha an. Sie war zwar nicht klein, aber einen erwachsenen Mann an einen Baum zu hängen, das würde sie nicht schaffen. »Wie …?«

Martha lächelte beinahe: »Wie ich es geschafft habe? Kein Problem, mein Mann war schließlich Landmaschinenhändler. Und mit dem kleinen McCormick kann ich umgehen.«

Viktorias Kopf fühlte sich an wie eine Festplatte, die gerade neu geladen wurde. Bunte, seltsame Bilder flimmerten vor ihrem inneren Auge. Martha, mit kleinem Babybauch und rotem Trecker. Sie zieht den Toten an seinen Füßen erst die Treppe herunter und dann vor die Hintertür zum Garten. Dann senkt sie die Frontladerschaufel so, dass sie die Leiche hineinrollen kann. Sie geht in den Keller, sucht ein Seil. Dann tuckert sie mit dem kleinen roten Traktor zum Baum, die Frontladerschaufel ist oben, Bernhards Beine ragen über den Rand. Sie holt die Leiter, die sie sonst zum Apfelpflücken benutzt, und stellt sie an den Baum, klettert hoch und bindet das Seil fest. Die Schlinge legt sie um den Hals ihres toten Mannes. Sie singt dabei ein Wiegenlied. »La, le, lu, nur der Mann im Mond schaut zu.« Dann steigt sie wieder auf den Trecker, senkt die Frontladerschaufel ganz langsam und setzt rückwärts. Sie stellt den Traktor im Schuppen ab und setzt sich danach ans Küchenfenster. Noch eine gute Stunde, dann wird der Frühzug vorbeifahren. »Großer Gott«, Martha faltet die Hände und schaut in die Nacht. »Mach, dass sie sich ans Fenster setzt.«

»Sie wollten uns verfluchen!«

»Ich wollte, dass deine Mutter ihres Lebens nicht mehr froh wird, dass sie das Bild der eigenen Schuld nie wieder loswird.«

»Hat geklappt. Auch bei mir. Ich war ja so ein böses, dreijähriges Mädchen und habe es verdient, dass man mich fertigmacht.« Viktoria wollte aufstehen, doch sie blieb sitzen. »Wo wir schon einmal beim Thema Schuld sind: Wie lebt es sich so als Mörderin?«

Martha antwortete nicht.

»Wo ist er jetzt eigentlich? Liegt er wirklich auf dem Urnenfriedhof in Münster, oder haben Sie ihn hier irgendwo vergraben? War bestimmt nicht einfach, so ein großes Loch auszuheben. Sein Grab dürfte um einiges größer sein als das Ihres Babys.«

Martha saß mit einem Ruck gerade, sie starrte Viktoria an. »Was weißt du von dem Grab?«

Viktoria zeigte nach draußen. »Dass es dort ist, unter dem Frauenmantel.«

Martha stand auf und ging um den Tisch herum zu Viktoria. Es sah so aus, als wolle sie ihre Hände um deren Hals legen, doch sie hob sie nur kurz und verzweifelt an und kniete dann nieder. Sie umklammerte Viktorias Knie und schluchzte. »Es ist zu spät gekommen. Dieses kleine, süße Ding. Mit seinem Mündchen, das ihn anlächeln sollte, mit seinen Händchen, die er halten sollte. Es ist gekommen. Sein Kind. Es war alles da, alles dran. Die Nase, sogar ein paar blonde Haare, die aber erst noch rot waren von dem Blut. Ich habe es trocken gerieben, nicht mit Stroh wie bei den Kälbchen, ein ganz weiches Handtuch habe ich genommen.«

Martha ließ Viktoria los. Sie hockte immer noch auf dem Fußboden, versunken in die Vergangenheit. Dann stand sie mühsam auf, ging zur Anrichte und zog die Holzschublade auf. »Hier, damit habe ich die Nabelschnur durchgeschnitten.«

Viktoria zuckte zurück, Martha hielt ihr ein kleines, scharfes Küchenmesser entgegen. Sie kam näher.

»Doch mein Kätzchen war zu spät, sein Papa war längst weggegangen. So lange hat es mich warten lassen, zu lange hat es mich warten lassen. Deshalb musste es sterben. Deshalb. Armes kleines Kätzchen! Es hat gar nicht geschrien, war ganz still.«

Viktoria stand auf und ließ das Messer in Marthas Händen nicht aus den Augen. »Ich habe es vergraben, dort, wo auch sein Papa einmal lag. Ein Bett aus Muttererde habe ich ihm gemacht, es wird jetzt beschützt vom Frauenmantel.«

»Es war eine Totgeburt«, sagte Viktoria.

Martha schüttelte den Kopf. »Ich habe gemacht, dass es tot ist. Ich.«

»Es war eine Totgeburt.«

»Es hat so traurig ausgesehen, weil ich ihm den Vater genommen habe. Ich habe es gedrückt, ganz fest. Und da hat es nicht geatmet. Es hat nicht geatmet.«

»Es war eine Totgeburt. Sie konnten nichts dafür.«

»Ich konnte, nein, doch, ich konnte dafür. Ich habe gemacht, dass es nicht strampelt.« Das Messer lag immer noch in ihrer Hand. Viktoria ging jetzt auf sie zu, streckte ihre Hand aus.

»Sie konnten nichts dafür. Das Kind war noch zu klein, als es geboren wurde. Es war nicht lebensfähig.«

»Ja, es war so klein. So unendlich klein. Aber alles dran, der Mund, die Hände, ganz kleine Fingernägel. Es wollte mich nicht als Mutter. Da bin ich wütend geworden. Ich habe es geschüttelt, damit es endlich atmet. Doch es hat die Luft angehalten.«

»Sie haben es nicht getötet, es war schon tot.« Viktoria nahm das Messer. »Sie haben es nicht getötet, es war schon tot.« Sie sagte es noch drei, vier Mal. Und endlich, endlich schienen die Worte bei Martha anzukommen. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl und sagte nichts mehr. Viktoria legte das Messer zurück in die Schublade. Sie sprach langsam und ganz deutlich wie eine Lehrerin. »Kai Westmark und ich haben die Knochen Ihres Kindes gefunden, und wir haben sie von einem Experten untersuchen lassen. Das Kind war noch gar nicht lebensfähig, als es auf die Welt kam, es war wahrscheinlich erst in der vierundzwanzigsten Woche.«

Martha schüttelte heftig den Kopf. »Alles war dran!«

»Ja, sicher, aber Sie haben es nicht getötet. Sie trifft keine Schuld.«

»Keine Schuld? Ich bin eine Mörderin. Ich habe zwei Kindern den Vater genommen.«

Viktoria wusste, dass es keinen Zweck mehr hatte. Sie trat an die Tür zum Garten und schaute hinaus. »Wo liegt er?«

»Dein Vater?«

Viktoria nickte. »Wo haben Sie ihn begraben?«

Elisabeth Upphoff nahm ihr Mikrofasertuch und rieb damit über die Merkel 202. Richtig teuer war der grün-weiße Lappen gewesen, dazu noch die Reinigungspaste und das Trockentuch. Fast einhundert Euro. Sie hatte es Ferdinand nie gesagt, warum ihn aufregen. Dabei war sie nicht die Einzige, die beim Verkaufsabend das Portemonnaie gezückt hatte. Ihre Nachbarin Anke hatte geladen und vorgeführt, wie man ganz ohne Spülmittel blitzblanke Fenster bekommen konnte – vorausgesetzt, man hatte das geniale Mikrofasertuch. Und das Trockentuch. Und die Reinigungspaste – falls man mal die Dunstabzugshaube sauber machen wollte. Die Technik war es, worauf es ankam. Mit der rechten Hand schlüpfte man in den Wischlappen, der wie ein Handschuh ohne Finger aussah, mit der linken hielt man das Trockentuch. Kreisende Bewegungen rechts, danach kreisende Bewegungen links – und schwupp waren Fliegendreck und Staub und fettige Fingerabdrücke verschwunden. Es sah so leicht aus, und Elisabeth träumte sich in eine Welt ohne Putzstress und Hausfrauenfrust. Doch irgendwie ging es dann doch nicht von alleine, und ihre Schulter tat nach dem Fensterputzen in kreisenden Bewegungen mit dem patentierten Saubermach-Handschuh genauso weh wie in der Zeit, als sie noch klassisch flitschte. Doch jetzt war sie froh, das Tuch zu haben. Ein bisschen Wasser darauf, ein bisschen gerieben hier und da, das Supersaug-Handtuch hinterher – und die Gewehre sahen aus, als wäre nichts gewesen.

Nachdem auch die Sauer 80 aussah wie neu, stellte sie die Waffen zurück in den Schrank. Die Flinte links, die Büchse rechts. Sie schloss ab, zog den Schlüssel ab und legte ihn zurück in die unterste Schublade des Gefrierschranks.

Dann ging sie nach oben. Mit ganz leichten Schritten.

Sie musste die Dusche ein paar Minuten laufen lassen, bevor das Wasser richtig heiß wurde. Genug Zeit, ihren Rock und die Bluse in die Waschmaschine zu legen. Schonwaschgang, dreißig Grad, die Trommel begann sich zu drehen.

Sie stieg in die Duschwanne, ließ sich das heiße Wasser über das Gesicht und die Haare laufen. Alles wird sauber, dachte sie, alles wird neu. Sie schloss die Augen, genoss die Hitze, die ihren ganzen Körper erfüllte. Als sie ihre eingeschäumten Haare auswusch, dachte sie noch einmal kurz an die Locken von Tim Möcke.

Dann trocknete sie sich ab, föhnte sich und zog den langen roten Rock mit der schwarzen Wickelbluse an. Ich bin eine Schützenkönigin, dachte sie und lachte ihr Spiegelbild an.

Martha trat neben Viktoria.

Sie ist so dünn, dachte Viktoria. Wie ein Gespenst. Ein Geist, der Schuldgefühle erleidet und andere dazu verdammt. Ein Quälgeist.

Martha deutete in die Richtung des Kindergrabes. »Dort lag er, dein Vater. Doch er fand keine Ruhe. Spukte durch das Haus, flüsterte mir ins Ohr, dass ich ihn rausholen solle. Dr. Westmark hat mir geholfen, ihn zu befreien. Es war keine leichte Arbeit. Aber der Doktor war stärker, als man denken würde. Er kann gut mit einem Spaten umgehen. Und mit dem ganzen Papierkram auch«

»Wieso hat der Doktor das alles gemacht? Der falsche Totenschein, das Vertuschen, die Umbettung der Leiche?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, er hatte ein schlechtes Gewissen, wegen Tommi …«

»Tommi?« Viktoria verstand nichts.

»Thomas, so hätten wir unser erstes Kind genannt, doch es sollte ja nicht kommen. Ich war damals bei Dr. Westmark und hatte ihm erzählt, dass es mir nicht gut ginge und dass ich ein schlechtes Gefühl hätte. Und er hat gesagt, das sei völlig normal, wenn man schwanger sei und zudem noch bald heiraten würde. Ich sollte mir keine Sorgen machen, hat er gesagt. Ich solle einfach so weitermachen wie bisher, ich sei ja schließlich nicht krank. Und dann war plötzlich all das Blut da. Und Tommi war weg. Das tat dem Doktor leid.«

Viktoria nickte. »Und dann hat er Ihnen geholfen, den Toten auszugraben.«

»Ja. Ich war wegen meiner Albträume und der Schlaflosigkeit zu ihm gegangen, und er war ganz nett. Ich war richtig verdreht damals. Er half mir, und ich hatte ihm ja auch nicht erzählt, dass ich Bernhard gestoßen habe. Ich habe gesagt, er hätte am Baum gehangen am Morgen – und er verstand, dass ich nicht wollte, dass die Leute hier davon erführen. Sich selbst richten, das geht doch nicht.«

»Das ist Sünde«, sagte Viktoria.

Martha nickte. »Blut war ja auch nicht zu sehen. Der Bernhard war so hingefallen, dass das Genick einfach mitten durchbrach. Knacks. Also schrieb der Doktor etwas anderes auf den Totenschein und sorgte für die Umbettung nach Münster, damit ich keinen Ärger mit den Behörden oder der Polizei bekam. Im Totensack haben sie ihn in den Leichenwagen gepackt, der Doktor und der Mann vom Bestattungsinstitut. In aller Herrgottsfrühe, damit ihn niemand so sieht.«

Viktoria öffnete die Tür nach draußen. Es war dunkel, aber noch sehr warm. Sie atmete tief ein. Schuld, dachte sie. Was ist das eigentlich? Würde im Berliner Express Bernhard das Opfer sein oder Martha, ihre Mutter oder sie selbst? Sie wusste es nicht mehr. Wie würde die Zeile lauten? FALSCHER SELBSTMORD AN DEN GLEISEN. Oder: MARTHA DAS MÖRDERMONSTER. Oder: KLEINER ROTER TRAKTOR IN MORD VERWICKELT. Berlin war so weit weg. Es duftete nach Rosen. Viktoria holte tief Luft.

Die Alte trat neben sie. »Du hast sein Lächeln«, sagte sie noch einmal.

Viktoria drückte Marthas schlanke Hand. Sie ist so zart, dachte sie. Zart, aber stark genug, um meinen Vater in den Tod zu schubsen.

»Du Schlampe«, Marie Latell schimpfte mit sich selbst. Natürlich hatte sie kein Paketklebeband in ihrer Wohnung. Wozu auch. Hatte sie überhaupt schon einmal ein Paket verschickt? Aber irgendwo musste doch die alte Wolle liegen, mit der sie sich einmal eine Stola stricken wollte. Lila war sie, das wusste sie genau, doch wo sie war, keine Ahnung. Sie kramte. Und fluchte. Und fand sie schließlich in einer Tüte neben der Waschmaschine. Sie war nun mal unordentlich, daran konnte sie nichts mehr ändern. Aber die Kiste, die sie für Viktoria gepackt hatte, die sollte ordentlich sein. Sie wickelte die Wolle um den Karton und machte oben eine große Schleife. Die Pappdeckel wurden so nach unten gehalten, der Inhalt der Kiste blieb verborgen. Doch nur ein kleines Zupfen an dem einen Stück Faden, und – tatatataaaaa – das Geheimnis wäre gelüftet, der Schatz gehoben. Marie hockte auf dem Dielenfußboden und rauchte. Sie verrenkte sich beinahe ihren Halswirbel, um an den Volumenregler ihrer Anlage zu kommen, und drehte die Musik lauter. Doris Day sang »Que sera sera«. Marie kritzelte mit einem alten Lippenstift »Für dich, meine traurige Tochter« auf die Seite des Kartons. Dann ließ sie sich nach hinten auf den flauschigen Teppich fallen und schloss die Augen.

Sie stellte sich vor, wie Viktoria die lila Wollschleife öffnen und endlich alles über ihren Vater erfahren würde. Marie hatte die Sachen gut sortiert. Die Fotos, die Geburtsurkunde, Viktorias erste Schuhe, ihren ersten Strampler, das Märchenbuch, das Bernhard ihr kurz vor seinem Tod geschenkt – und aus dem Marie nie vorgelesen hatte. Sie hätte es nicht ertragen. Bernhard musste damals ausgelöscht werden, endgültig. Denn mit jedem Gedanken an ihn krallte sich ihr Schuldgefühl in ihrem Hals und ihrem Magen fest. Sie konnte nicht mehr atmen, nichts mehr essen, nicht mehr leben mit dieser Schuld. Also weg damit. Weg mit den Erinnerungen. Weg mit dem Selbstmord. Weg mit Viktorias Vater. Es gab ihn nicht. Und so konnte er auch nicht gestorben sein, weil sie ihn unter Druck gesetzt hatte. Aus Eitelkeit. Oder vielleicht doch aus Liebe?

Marie hielt die Augen immer noch geschlossen. Und sie sah sich und Viktoria auf dem Küchentisch. Im Radio lief auch damals ihr Lieblingslied. Doris Days »Que sera«. Mutter und Tochter tanzten im Kreis herum wie der Plattenteller, der sich drehte und drehte. Hand in Hand, strahlende Augen. Viktoria war gerade fünf oder sechs, und sie lachte, sie lachte, sie lachte. So fröhlich hatte Marie ihr Kind sehr selten gesehen, und so lachte sie mit, sang mit und wirbelte mit ihr über den Tisch. Viktoria kicherte, drehte sich schneller und verlor das Gleichgewicht. Sie fiel rückwärts von der Kiefernplatte, auf der noch ein eingetrockneter Rest der Müslimilch klebte. Ihr Hinterkopf knallte auf die Küchenfliesen.

Marie hatte nie vergessen, was sie dachte, als sie das Mädchen dort liegen sah. Mit diesem Entsetzen im Blick. Bernie hätte sie aufgefangen, dachte sie. Und: Ich bin schuld. Sie blieb auf dem Tisch stehen und starrte ihre Tochter an, bewegte sich keinen Millimeter wie eine steinerne Statue. Viktoria lag am Boden und sah ihrer Statuen-Mama ernst in die Augen. Dann stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Sie vergoss nicht eine einzige Träne. Sie tanzte nie wieder mit ihrer Mutter.