11. Kapitel

 

»Na, Fräulein Latell. Gestern ein bisschen zu viel gefeiert?« Harry blinzelte verschwörerisch.

Sie nickte müde. Warum und vor allem wie sollte sie ihm auch den wahren Grund ihres blassen Teints erklären? »Hey, Harry. Ich konnte nicht schlafen, da bin ich gestern Nacht rumgeschlichen und habe mich unheimlich erschreckt, weil eine Tür geklappt hat. Und dann ist noch dieses Bild verschwunden.« Den Rest, all das, was noch passiert war, hatte sie selbst am Morgen danach noch nicht begriffen.

Zuerst war da das fehlende Bild – und der Schock gewesen, dass es fehlte. Die klappende Tür, ihre Angst – ja, so hatte es gestern angefangen. Doch als sie atemlos und mit klopfendem Herzen am Fenster stand, war ihr klar geworden, dass sie nicht mehr einschlafen könnte. Sie war zwar nervös, doch statt Angst hatte sie jetzt endlich die Gewissheit, dass sie nicht verrückt war. Es konnte kein Zufall sein, dass das Bild verschwunden war. Sie zog ihre Joggingschuhe an, die Jeans und den Trenchcoat. Der Mond leuchtete sein fahles Licht, es musste reichen, um den Weg zu finden. Wenigstens würden sie jetzt die Stechfliegen in Ruhe lassen, und wahrscheinlich schlief der große Hund längst. Sie ging schnell. Fast schon beschwingt. Denn endlich hatte sie wieder ein Ziel vor Augen. Victory, die Hartnäckige, die Smarte – sie würde handeln, nicht hadern, und sie würde auf all ihre Selbstzweifel scheißen.

Lautlos schritt sie über den Asphalt, an der Pferdewiese vorbei, auf der die Tiere jetzt im Stehen schliefen. Von der Jesus-Statue erkannte sie nur noch die Umrisse. Das Haus von Martha Lütkehaus war nicht mehr weit. Es war still. Mucksmäuschenstill. Viktoria verlangsamte ihren Schritt und machte einen weiten Bogen um den Zwinger, in dem der Rottweiler vor sich hin schnarchte. Sie stapfte auf Zehenspitzen durch das Gestrüpp neben dem Zaun, sie wollte nicht quer über den Rasen zum Bahndamm schleichen, sondern sich jenseits des Grundstücks im Schatten der Hainbuchenhecke halten. Sie war bereits am Fuße des Dammes angelangt, da hörte sie ein Zischen, das schnell lauter wurde. Ein Zug raste heran und brüllte durch die Nacht. Viktoria hielt sich die Ohren zu und duckte sich. Sie spürte den Sog und blickte den Rücklichtern nach. Dann war es wieder still. Sie kletterte auf allen vieren den Wall ein kleines Stück hoch, ihr Trenchcoat blieb an irgendetwas Dornigem hängen, sie fluchte leise und versuchte, den Stoff zu lösen. Dann blickte sie auf und sah einen Schatten. Es war ganz klar der Schatten eines Menschen. Viktoria hielt die Luft an. Dort, unter den Ästen der alten Eiche, krümmte sich ein Mann und suchte etwas.

»Hey, du hast echt ein Helfersyndrom.« Marie Latell tätschelte dem Unbekannten, der sich nicht vertreiben ließ, die Wange. Er hieß Michael und hatte ihr tatsächlich im Kiosk am Eck eine Flasche Rioja besorgt. Jetzt hockten sie auf der Bank, von der aus sie den fußkranken Schwan gut beobachten konnten. Er glitt gerade an einem der Schiffswracks vorbei, die hier schon seit Jahren vor Anker lagen. Wie Skelette zeichnete sich ihre Silhouette vor dem Nachthimmel ab.

»Du bist also nicht krank?« Michael versuchte es tapfer weiter.

Marie schwieg, zog ihr Handy aus der Tasche und tippte auf die Kurzwahltaste. Dann hielt sie ihm das Telefon ans Ohr. »Hörst du, man kommt nicht durch.«

»Und das macht dich so fertig?«

»Ja. Es macht mich fertig. Denn ich weiß nicht, was sie gerade tut.«

»Wer?«

»Meine Tochter.«

Michael lachte auf. »Hey, komm runter. Das wissen doch wohl die meisten Mütter nicht, ich meine, was ihre Kleinen so treiben.«

Marie nahm einen großen Schluck vom viel zu warmen Wein.

»Da hast du wohl recht.« Sie legte ihren Kopf auf Michaels Schultern. Der Schwan verschwand hinter dem Bug des Schiffes. »Aber meine Kleine treibt sich mit Leichen herum.«

Viktoria wollte nur noch weg. Weg von diesen Dornen, weg von dem Bahndamm, weg von dem Baum und weg von dem Schatten. Sie versuchte, leise und gebückt davonzuschleichen, dabei riss ihr Trenchcoat mit einem lauten Ratsch. Der Schatten richtete sich blitzschnell auf und drehte sich in ihre Richtung. Viktoria unterdrückte einen Schrei. Sie rannte los, stolperte und fing sich, lief weiter. Im Haus wurde Licht angeschaltet, der Rottweiler bellte, doch Viktoria sah und hörte nichts mehr. Ihr Körper war mit all seinen Sinnen auf Flucht programmiert. Weg! Weg! Ich muss hier weg. Ihr Herz pumpte Sauerstoff durch ihre Adern, ihre Lunge brannte, sie sprang über den Graben zur Pferdekoppel, kletterte über den Zaun und nahm die Abkürzung quer über die Wiese. Vielleicht hätte sie doch besser den asphaltierten Feldweg nehmen sollen, denn das Gras stand kniehoch und bremste jeden ihrer Schritte. Viktoria hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten, die Abkürzung entpuppte sich als Zeitlupenweg. Und dann hörte sie plötzlich ein seltsames Geräusch. Etwas war hinter ihr, nicht weit. Sie hörte ein Hecheln. O Gott, der Hund! Viktoria versuchte, über die Grashalme zu fliegen, doch sie wurde nicht schneller. Das Hecheln kam näher. Sie drehte sich um. Der Rottweiler konnte nicht weit sein, es raschelte dicht hinter ihr. Doch sie sah nichts. Auch nicht den Maulwurfshügel direkt vor ihr, über den sie stolperte. Sie fiel geradeaus hin und erwartete, in der nächsten Sekunde von hinten in den Nacken gebissen zu werden. Doch es passierte nichts. Aus der Ferne hörte sie ein Auto vorbeifahren. Dann einen lauten Pfiff und eine strenge Frauenstimme: »Acko, bei Fuß!« Das Rascheln entfernte sich. Viktoria stand langsam auf. Sie stolperte an den Wiesenrand. Noch ein paar Hundert Meter auf dem Feldweg, dann sah sie endlich das kleine, leuchtende Schild. Gasthaus König. Sie wurde langsamer, drehte sich um. Nichts. Kein Hund, kein Schatten, sie war allein.

Auf dem Parkplatz des Gasthofs öffnete sich die Tür des dunkelblauen Golfs, der in der Nähe der Hecke geparkt hatte. »Kai?!« Gegen ihren Willen und ihren Verstand freute sie sich, ihn zu sehen. Wie ein Marathonläufer im Ziel, ließ sie ihre Schultern hängen und stützte ihre Hände auf die Knie. Dann setzte ihre logische Denkfähigkeit wieder ein. »Was machst du hier?« Sie schaute ihn ernst an.

Kai sagte nichts, er trat auf sie zu und wuschelte ihr über die Haare, in denen noch ein paar Grashalme hingen.

Sie zuckte zurück. »Lass das! Und sag mir lieber, was du hier machst!«

Kai seufzte. »Also gut. Auch wenn du mich für bescheuert hältst. Ich hatte mir etwas ausgeliehen und es gerade zurückgebracht.«

»Zurückgehängt, meinst du wohl eher.«

»Okay. Ja. Du hast recht. Ertappt. Du hast um diesen Schützenkönig so einen Wind gemacht, dass ich neugierig war. Also wollte ich mir das Bild anschauen. Ich dachte, ich könnte dir vielleicht bei deinen Recherchen helfen …«

Ihr Atem wurde gleichmäßiger, sie grinste ihn schräg von unten an. »Mitten in der Nacht?«

Kai grinste ebenfalls. »Ich war wirklich sehr neugierig. Und schlaflos dazu.«

Viktoria glaubte ihm. Sie spürte noch ihre weichen Knie. »Ich hatte gerade echt Angst«, sagte sie und schaute hinter sich.

»Das hat man gemerkt.« Er strich ihr mit seinem Handrücken über die Wange. »Als wäre der Teufel hinter dir her gewesen.«

Sie nickte. »Ich weiß nicht, wer hinter mir her war, aber es war kein Engel.«

»Schnaps auf den Schreck – und du erzählst mir alles?«

Viktoria nickte. »Aber Harry und Rosa schlafen doch schon.«

Kai nahm sie fest an die Hand und ging mit ihr zur Eingangstür. Sie schloss auf. Ihre Finger zitterten noch.

»Gut, dass du hier schläfst, so hast du den vollen Service.« Kai bewegte sich in der Gaststube, als sei er dort zu Hause. Er trat hinter den Tresen, knipste die schummrige Thekenbeleuchtung an, öffnete die Glasvitrine und holte zwei kleine Gläser heraus.

Viktoria saß auf einem Barhocker gegenüber und schaute ihm zu. Er goss ein. »Ich wusste, dass du das Bild genommen hast. Ich habe dich an deinen Turnschuhen erkannt.«

Er nickte erneut. »Ja, Miss Marple. Du bist einfach zu clever für mich.«

»Sehr witzig, Sherlock Holmes. Aber sag, hast du den Lütkehaus wiedererkannt? Weißt du was über ihn?«

Kai schüttelte den Kopf, sein Blick war auf die Schnapsgläser gerichtet. »Ich weiß eigentlich nicht genau, was ich hier wollte. Wenn ich ehrlich bin, war das mit dem Bild nur ein Vorwand für mich, herzukommen.« Er reichte ihr ein kleines Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. »Schätze, es hat was mit dir zu tun …« Sie wich seinem Blick aus und räusperte sich. »Du hast zugehört, als ich meinem Chef von dem seltsamen Todesfall erzählt habe?«

»Ja. Ich habe zugehört.«

Der Schnaps rann scharf durch Viktorias Kehle. Sie hustete. »Das mit den Dorfdeppen habe ich nicht so gemeint.«

Sein Lächeln war umwerfend. Er schenkte nach.

Sie stießen wieder an.

»Und jetzt zu dir. Warum rennst du durch diese dunkle Nacht? Warst du auf der Suche nach einem Club, der noch nach zwölf Uhr geöffnet hat?«

Viktoria lachte und erzählte ihm von ihrem Ausflug zum Bahndamm. Sie habe einfach mal sehen wollen, wo der vermisste Schützenbruder gelebt habe, erzählte sie vage. Das musste an Erklärung reichen.

»Was wolltest du da bloß finden?«, fragte Kai.

Sie zuckte mit den Schultern. »Auf keinen Fall einen unbekannten Typen, der dort rumgeistert.« Der Schnaps wirkte, Viktoria spürte, wie ihre Beine kribbelten, der Kopf leichter wurde. Sie gähnte. »Ich bin müde«, sagte sie und nahm noch einen Schluck. Der Alkohol floss durch ihre Speiseröhre.

Kai schüttete noch einmal nach. »Na, dann will ich mal gehen.«

Viktoria nickte. Sie stießen noch einmal an.

Er nahm die Gläser, spülte sie ab, polierte sie, stellte sie zurück in den Schrank und schaltete das Licht aus. Viktoria und er waren nur noch zwei Schattenrisse. Er trat neben sie. Sie streckte ihre Hand aus, er nahm sie, hielt sie.

»Tschüss, Kai Westmark.« Er drückte ihre Hand. Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er hielt ganz still. Viktorias Kopf blieb, wo er war. Sie spürte seine Haut, atmete seinen Geruch ein. Kein Aftershave, kein Parfüm, einfach nur ein guter Geruch. Er strich ihr über die Haare. Sie drehte ihr Gesicht. Ihre Lippen, seine Lippen, sie roch den Schnaps, ihre Hände auf seinem Rücken, ihre Finger in seinem Nacken, seine Hände auf ihren Schultern, auf ihren Hüften. Viktoria konnte nicht mehr denken. Sie fühlte nur noch. War es der Alkohol oder der Kuss? Sie wollte mehr davon. Sie flog, sie schwebte, sie fühlte.

Kai löste sich vorsichtig aus der Umarmung. Er ging einen Schritt zurück, hielt noch einmal ihr Gesicht in seinen Händen und ging.

»Bleib doch«, flüsterte sie. Doch in dem Moment fiel schon die Tür ins Schloss.

»Morgen, Victory. Du siehst ja aus wie das blühende Leben.«

Mario sah schon genauso munter aus wie Harry, dem er zur Begrüßung zunickte.

»Danke, gleichfalls«, sagte sie mürrisch und schlürfte an dem starken Kaffee.

»Die können hier aber auch alle saufen …« Geradezu anerkennend klang das aus Marios Mund.

»Du ja wohl auch«, raunzte Viktoria.

»Oh, wir sind aber gut drauf, Chefin.«

»Yes, we are. Außerdem sind wir spät dran. In einer Viertelstunde treten die Schützen auf!«

»An!«

»Wie an?«

»Na, sie treten an, nicht auf. Ludger hat mir das erklärt. Um halb acht bekommen die Schützen ihren Segen vom Pastor, und dann treten sie an. Sie versammeln sich und marschieren anschließend durch das ganze Dorf zum Festplatz. Danach wird auf den Vogel geschossen.«

»Aha, Ludger hat dir das erklärt. Bist du jetzt Insider oder was?«

»Genau.«

»Na dann Glückwunsch!«

Viktorias Laune war wirklich im Keller. Nicht nur, dass der Schnaps ihr einen schalen Geschmack im Mund beschert hatte. Sie zweifelte langsam an sich selbst. Die letzte Nacht steckte ihr in den Knochen und im Kopf. Erst der Schreck wegen des verschwundenen Bildes. Dann der unheimliche Schatten in Marta Lütkehaus’ Garten und der Hund von Baskerville. Und schließlich der Kuss und der schnelle Abgang von Kai. Sie wollte jetzt nicht mit Mario plaudern. Sie wollte endlich wieder klar denken. Und so wurde es ein ruhiges, schnelles und eisiges Frühstück. Als sie gerade fertig waren, Viktoria ihre Tasche über die Schulter warf und aufstand, kam Rosa aus der Küche. Sie war erschreckend aufgedreht und noch rosafarbener als sonst.

»Guten Morgen, die Herrschaften!«, tönte sie. »Mein Gott, war das eine Nacht.«

Finde ich auch, dachte Viktoria. Aber jetzt bitte keine Schnarchgeschichten! Viktoria schaute nicht auf. Doch Rosa plauderte auch so weiter.

»Ich habe kaum ein Auge zugetan. Erst kamen dauernd singende Schützenbrüder unter unserem Schlafzimmerfenster vorbei. Harry hat natürlich wieder nix gehört, er schnarchte einfach vor sich hin. Und dann dieser seltsame Einbrecher.«

»Einbrecher? Was für ein Einbrecher?« Nun schaute Viktoria doch auf.

»Wahrscheinlich war es nur ein Schützenbruder, der noch durstig war!«

»Und?«

Konnte sie nicht endlich auf den Punkt kommen?

»Das Fenster von der Männertoilette stand offen. Sperrangelweit. Richtig kühl wehte der Wind rein. Weil es so zog, knallte eine Tür. Ich bin davon aufgewacht und habe erst mal alles dicht gemacht. Wahrscheinlich ist er da rein, also durch das Fenster.«

»Hat er was geklaut?« Viktoria tat interessiert, obwohl sie die Antwort kannte.

»Nein, das ist ja das Komische. Es waren noch zweihundert Euro in der Kasse, die hätte er mitnehmen können. Dafür fehlte etwas ganz Wertloses. Ein Foto von unserer Schützenkönig-Galerie.«

»Das Bild von Bernhard Lütkehaus …«, murmelte Viktoria leise vor sich hin.

Drei Augenpaare starrten sie an.

»Ja. Genau. Woher wussten Sie das? Das Rätselhafteste kommt aber noch – heute Morgen hing es wieder an derselben Stelle.« Rosa war verwirrt, Marios Augenbrauen zuckten, Harry hörte auf, Gläser zu spülen.

»Es hing vorhin schief, deshalb ist es mir aufgefallen«, sagte Viktoria und versuchte, fröhlich zu klingen. Sie hatte es sogar doch noch mit ihrem Handy fotografiert und vergeblich versucht, es an ihren pickeligen LKA-Informanten zu simsen. Doch ohne Empfang …

»Ich hasse schiefe Bilder«, sagte sie leichthin.

Rosa lachte. »Ha, wie in diesem Loriot-Sketch. Wo der Mann das schiefe Bild gerade hängen will und am Ende das ganze Zimmer verwüstet ist.«

»Ja, genau so.« Harry sah Viktoria ernst an. Er glaubte ihr nicht.

Plötzlich schrie Rosa auf. »O nein!«

Viktoria hielt sich ihren brummenden Schädel. Was war denn jetzt schon wieder?

»Schauen Sie sich diese Sauerei an«, Rosa deutete auf den Fußboden zwischen Tür und Tresen. »Jetzt kann ich alles noch einmal wischen!« Viktoria hob ihren müden Kopf. Hier war gestern jemand mit dreckigen Schuhen entlanggegangen. Kleine Klumpen schwarzer Erde bildeten eine verräterische Spur. Tja, meine Joggingschuhe haben nun mal Profilsohlen, dachte sie und lächelte bei der Erinnerung an den wunderbaren Kuss. Als Rosa hinter die Theke trat und fluchte: »Verdammt, sogar hierher hat der Typ den Mutterboden geschlört«, verging es ihr jedoch. Das Lachen. Wieso hatte Kai dieselbe Erde an den Schuhen gehabt wie sie?