13. Kapitel

 

Viktoria saß noch ein paar Minuten im Barchetta, bevor sie den Zündschlüssel drehte. Bernhard Lütkehaus und ihre Mutter waren sich also vielleicht schon einmal begegnet. Er hatte sie oder eine Frau, die ihr extrem ähnlich sah, und zwei andere Frauen fotografiert. Was für ein unglaublicher Zufall. Es gibt Tausende Dörfer mit Tausenden von Schützenvereinen. Warum landete sie ausgerechnet in dem Ort, an dem ihre Mutter einmal gewesen war. Zufall?

Zufall. Warum auch nicht. Wie oft traf man an den entlegensten Urlaubsorten Bekannte oder Kollegen. »So ein Zufall«, rief man sich dann zu und tauschte Höflichkeitsfloskeln aus. »Aha, ihr wohnt also in der Casa de Sol, oh, wie schön. Ah ja, vielleicht sieht man sich ja, am Strand oder so. Bis dann.« Bloß nicht richtig verabreden, furchtbar. Und natürlich las sie – wenn man sich dann wirklich am Strand traf – demonstrativ ein Buch. Wer nichts sieht, braucht nicht zu grüßen, und wer nicht grüßt, muss keinen dämlichen Small Talk halten. Eine ganz einfache Regel, an die sich Viktoria stets gehalten hatte. Also warum nicht auch jetzt. Bernhard und Marie haben sich vielleicht getroffen. Zufall! Und jetzt war sie selbst hier. Zufall! Sie wollte daran glauben, tat es aber nicht. Also zählte Viktoria: Die Vogelstange war etwa hundertfünfzig Schritte vom Zelt entfernt aufgebaut. Ein dreizehn Meter hoher Stangenbau im Stil des Eiffelturms ragte vor dem kleinen Wäldchen empor, in dem am Tag zuvor das Lagerfeuer gebrannt hatte. Die Metallstreben waren grün gestrichen, ganz oben war ein Fangkasten, davor der klobige Holzadler. Der Kasten sah reichlich zerschossen aus, er hatte offensichtlich schon etliche Jahre als Kugelfang gedient. Der Vogel starrte aus etwa zwanzig Meter Höhe aus gelb gepinselten Augen auf die Schützen herab, seine Flügel waren ausgebreitet. Um elf fiel der erste Schuss. Viktoria hatte einen lauten Knall erwartet, stattdessen kam nur ein leises Plopp, dann ein metallisches Scheppern. Die Kugel war in den Kasten gesegelt, der Vogel wackelte keinen Millimeter.

»Na, das kann ja lange dauern.« Mario sprach aus, was Viktoria dachte.

»Ich hol mal ’ne Cola«, antwortete sie und ging los, Richtung Getränkewagen. Als sie die rosafarbene Rosa am Zapfhahn erblickte, hätte sie sich am liebsten umgedreht, doch die hatte den Gast aus Berlin längst erkannt und winkte fröhlich.

»Huhuuu! Frau Latell! Ja, kommen Sie ruhig her. Hier gibt’s kühle Getränke.« Es war kurz nach elf und bereits siebenundzwanzig Grad warm, Viktoria spürte die Hitze auf ihrem Schädel. Fucking black hair, dachte sie. Ihre schwarz gefärbte Haarpracht speicherte die Sonnenwärme. Wenigstens hatte sie heute ihren luftigen, braunen Rock angezogen, sie würde also nicht sinnlos schwitzen müssen. Sie nickte Rosa zu und stand schon kurz vor dem Getränkewagen, als sie Martha Lütkehaus entdeckte. Beinahe hätte Viktoria sie übersehen. Sie trug ein schwarzes, formloses Kleid und stand im Schatten einer großen Buche. Sie war blass, ihre matten graublauen Augen schienen ins Nichts zu schauen. Viktoria überlegte nicht lange. Dieses Mal würde sie nicht vor einer verschlossenen Tür stehen. Hier und jetzt würde Martha ihr einfach antworten müssen.

»Guten Tag, Frau Lütkehaus. Mein Name ist Viktoria Latell. Ich arbeite für den Berliner Express und würde Sie gerne etwas fragen.« Viktoria klang freundlich, harmlos, aber bestimmt.

Und die hagere Frau vor ihr blickte sie mit ihren seltsam traurigen Augen an und nickte ganz langsam. »Aha, Frau Latell! Seltsamer Name – war Ihr Vater Franzose?«

»Nein.« Kein Zeichen des Wiedererkennens. Wusste sie nicht mehr, dass sie gestern vor ihrem Haus gestanden hatte? Hatte sie vergessen, dass sie sich bei Viktorias Anblick vor lauter Entsetzen bekreuzigt hatte?

»Der Name stammt von den Hugenotten, und mein Vater war ein echter Berliner. Er ist allerdings später nach Frankreich ausgewandert. Insofern bin ich ja vielleicht doch so was wie eine Französin.« Viktoria versuchte ihr Victory-Lächeln. Die Geschichte sollte fröhlich klingen – nicht nach der Wahrheit. Denn die war traurig. Viktoria kannte ihren Vater nicht, obwohl sie seinen Namen trug. Er war ein egozentrischer, genialer Künstler gewesen, den ihre Mutter angeblich abgöttisch geliebt hatte. Als sie schwanger wurde, war es aus mit der Liebe. Sie heirateten dennoch, weil er dachte, er sei es ihr schuldig. Doch dann verschwand er. Viktoria lächelte.

Martha Lütkehaus blieb ernst. »Wieso wollen Sie ausgerechnet mich etwas fragen, junge Frau?« Sie klang misstrauisch.

»Weil es um Ihren Mann geht …« Viktoria ging aufs Ganze. Martha wich einen Schritt zurück, weiter in den Schatten der Buche. Viktoria gab ihrer Stimme einen beiläufigen Ton. »Wissen Sie, ich muss doch alles Mögliche aufschreiben und recherchieren über das ganze Schützenfest hier. Mein Chef ist da extrem anspruchsvoll. Und bei allen Schützenkönigen konnte ich schreiben, wie alt sie sind, wann sie verstorben sind, was sie heute so machen. Nur bei Ihrem Mann, da bin ich ratlos.«

Martha schaute immer noch misstrauisch. »Ist das so wichtig?«

»Vielleicht nicht«, sagte Viktoria leichthin. »Aber ich habe gerne meine Informationen vollständig. Was kann ich also bei Ihrem Mann schreiben? Bernhard Lütkehaus, Schützenkönig von 1976, ist jetzt …«

Der Zug um ihren Mund wurde plötzlich hart, die vorher so milchig schimmernden Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. »Er ist weg!«, presste sie zwischen ihren schmalen Lippen hervor.

Doch Viktoria setzte nach. »Es heißt, er sei ausgewandert, aber es gäbe kein Lebenszeichen mehr von ihm seit ungefähr dreißig Jahren – stimmt das? Kann ich das so schreiben?«

Martha Lütkehaus trat aus dem Schatten. Das Sonnenlicht ließ ihr Gesicht noch blasser wirken. Sie zischte: »Schreiben Sie doch, was Sie wollen. In Berlin verschwinden jeden Tag Menschen, da lassen Mütter ihre Kinder verhungern, da krepieren Drogensüchtige auf der Straße – fragen Sie doch da mal nach, aber das interessiert Sie ja nicht. Lieber wollen Sie uns hier fertigmachen, uns Provinzler, uns Dummköpfe. Ich weiß, was Leute wie Sie von uns denken. Sie lachen über uns. Langweilig finden Sie uns, altmodisch, beschränkt. Aber es ist mir schon lange egal. Hauen Sie doch einfach ab, stöckeln Sie in Ihren teuren Schuhen einfach wieder zurück und lassen Sie uns hier in Ruhe.«

Mit erstaunlich schnellen Schritten ging sie an Viktoria vorbei. Fast schon fürchtete sie, die Alte würde noch vor ihr ausspucken, doch sie schaute sie nur noch einmal eisig an und verschwand. Rosas Singsang-Stimme erklang, und Viktoria freute sich schon fast darüber.

»Ja, Rosa, ich will was trinken. Ein Cola bitte. Eiskalt.«

»Wodka Red Bull!« Nico nuschelte seine Bestellung, ohne aufzuschauen. Links neben ihm saß Nele. Die Jungs nannten sie immer Nice-Nele, weil sie so hübsch war. Jetzt streichelte sie seine Hand. Nico spürte nichts, doch er ließ seine Hand auf dem Kneipentisch liegen. An seiner anderen Seite hockte Robin. Er lallte ihm etwas ins Ohr, was Nico nicht verstand. War aber auch egal, er nickte einfach mechanisch. Er trank sein gerade gebrachtes Glas in einem Zug leer. Ihm war längst schwindelig, er hätte aufhören sollen mit dem Trinken. Gleich würde er sich wieder übergeben müssen. Er würde es wieder kaum nach Hause schaffen. Doch Nele, Nice-Nele, hatte einen kleinen Fiat Panda. Ein lächerliches Auto, aber egal. Sie würde ihn schon bringen. Sie kümmerte sich. Dabei hat sie ihn früher nicht mal angeschaut. Doch seit Sarahs Tod hatte sich alles verändert.

Seine Mutter hätte ihm keinen Entschuldigungszettel für die zwei ersten Wochen im Januar schreiben müssen. Die Lehrer wussten ja auch so Bescheid. Der Mord an Sarah war in jeder Zeitung das große Thema, jeder Radiosender berichtete zu jeder vollen Stunde davon. Ein Mädchen sei erschlagen worden. Mal nannten sie sie Sarah K., mal die Achtzehnjährige, mal Schneewittchen. Nico las nichts davon, er hörte nicht zu, wenn die Nachrichtensprecher über sie sprachen. Er ertrug es nicht. Sarah war nicht tot, noch nicht. Sein Gehirn konnte diese Nachricht noch nicht aufnehmen. Also sah und hörte und empfand er nichts. Und er sagte nichts. Als die Polizei herausgefunden hatte, dass er der Freund des toten Mädchens war, kamen sie natürlich. Er versuchte nicht zu hören, was sie sagten, denn sonst hätte er ja begriffen, dass Sarah nie mehr seine Sarah sein würde. Sie würde zerfallen zu Staub und Asche, doch nicht für Nico. Also schaute er durch die Polizisten hindurch, und ihre Stimmen hörten sich an wie ein Rauschen. Wie hätte er da antworten können oder weinen. Er war tatverdächtig, doch er wusste es nicht. Sarah war tot – und er wollte es nicht wissen.

Dann sollte er etwas auf einen Zettel schreiben. Er tat es. Es war, als könne er nicht mehr schreiben, so schwer fühlte sich der Kugelschreiber in seiner Hand an. Er zitterte, als er immer wieder Worte mit einem E am Anfang auf den Zettel kritzelte. Er versuchte ja, sich zu konzentrieren. E, E, E. Wie sah eigentlich ein E aus? Er malte Kringel, Kreise, Schleifen, geschwungene wunderschöne Es. Was das sollte, begriff er erst später.

Seine Mutter hatte ihn dann an einem Morgen geweckt und ihm gesagt, er müsse jetzt zur Schule gehen. »Der Alltag lenkt dich ab«, sagte sie. Er wusste nicht so recht, was sie meinte, doch er ging. Vielleicht würde er ja in der großen Pause Sarah treffen. Sie würde an der kleinen Mauer auf ihn warten. Sie würde auf ihr sitzen und die Beine herunterhängen lassen. Die schwarzen Chucks würden abwechselnd gegen den Stein stoßen, Sarah konnte schlecht ruhig sitzen. Sie war immer in Bewegung.

In den ersten beiden Stunden hatten sie Mathe. Nicht gerade Nicos Lieblingsfach. Er war irritiert, dass der Lehrer ihn nicht aufrief, nicht nach seinen Hausaufgaben fragte, ihn nicht an die Tafel bat wie sonst. Seine Klassenkameraden hatten aufgehört zu reden, als er hereingekommen war und sich hingesetzt hatte. Sie schauten ihn an. Alle. Er schaute niemanden an. Es klingelte, und Nico ging zur Mauer. Alleine. Und er blieb an der Mauer alleine. Sarah war nicht da. Und plötzlich knallte eine Faust in seinen Magen. Nico krümmte sich. Er bekam keine Luft mehr, ihm wurde schwindelig, seine Beine knickten weg, und er lag auf dem Pflaster vor der Mauer. Sarah würde nie wieder auf dieser Mauer sitzen und auf ihn warten. Nie wieder. Er hatte es begriffen und war zu Boden gegangen, und fünfhundertvierzig Schüler des Erich-Kästner-Gymnasiums sahen, wie er k.o. ging, ohne dass ihn jemand geschlagen hätte.

Als Nico wieder Luft bekam, stand er auf. Er sah in die neugierigen Gesichter seiner Mitschüler. Er verzog keine Miene, doch diejenigen, die er mit seinem Blick fixierte, wichen einen Schritt zurück. Hatten sie gerade in die Augen eines Mörders geschaut?

Jeder sprach über den Mord. Die, die ihn für unschuldig hielten, und die, die ihn schon immer seltsam fanden. Nico sah, wie sie ihn ansahen. Es war eine Mischung aus Angst und Neugierde. So oder so, er war auf einmal interessant. Bislang war er maximal ganz okay gewesen oder nett. Doch das jetzt fühlte sich an, als sei er größer geworden. Wichtiger. Die cooleren Jungs zeigten sich plötzlich in seiner Nähe. Die harten Mädels blinzelten ihm zu. Und dann entdeckte Nele seine andere Seite.

Seine sanfte, traurige. Sie hatte ihn weinen gesehen. Auf einer Parkbank auf dem Traveplatz in Friedrichshain. Sie wollte nur schnell mit dem Hund raus. Da saß er völlig verheult und betrunken auf dem ranzigen Holz. Sie setzte sich neben ihn. Und streichelte seine Hand. »Traurig?«, fragte sie. Und: »Ist es wegen Sarah?«

Er nickte und versuchte, die Tränen wegzuwischen, doch es kamen neue. Nicht zu fassen, dass Nele sich neben ihn gesetzt hatte. Das hübscheste Mädchen der Schule, und er heulte wie ein Baby. Nele fühlte sich großartig als Trösterin. Und sie war genauso neugierig wie alle anderen. Sie hörte ihm also zu, als er von Sarah erzählte. Und dass es ihm leidtäte, dass er ihr nicht oft genug gesagt hätte, wie lieb er sie gehabt hätte. Und jetzt sei sie tot.

Nele konnte nicht anders, sie weinte mit ihm. Und sie war glücklich. Endlich mal ein Junge mit Tiefgang, dachte sie. Endlich mal einer mit echten Gefühlen. Und einer, vor dem die anderen Angst hatten. Sie hörte seitdem nicht mehr auf, seine Hand zu streicheln. Nur manchmal stellte sie sich vor, dass in dieser schönen Hand ein Stein lag. Ein schwerer Stein.

Zum Abschied hatte sie ihm einen Kuss gegeben. Keinen Tantenkuss. Einen richtigen. Und gewehrt hat sich der Kleine nicht gerade, dachte Marie Latell mit einer gewissen Genugtuung. Michael war süß und klug und nett – und ein bisschen willig. Aber es war Zeit zu gehen. Sie wollte aufräumen. Die Wohnung, die Fotos, ihren Kopf. Sie begann mit den drei großen Kartons voller Akten und Bilder. Sie hatte genug leere Ordner und Fotoalben, doch sie hatte es nie geschafft, sie zu füllen und dem Chaos ein Ende zu machen. Jetzt musste sie es tun. Für sich. Für Viktoria.

Sie war noch da. Die Heiratsurkunde. Dabei hatte sie nie heiraten wollen. Zu spießig, zu langweilig. Doch da war das Kind gewesen und diese Verantwortung. Sie schaffte es einfach nicht mehr alleine. Also war sie froh, als Bruno Latell sie fragte, obwohl sie wusste, dass es nicht gehen würde. Vielleicht hat sie auch nur Ja gesagt, weil es nicht gehen würde. Er war aufregend wie ein Pulverfass. Eine große Portion Alain Delon und Picasso, gemixt mit Che Guevara. Er malte sie, er begehrte sie, er liebte sie – genau in dieser Reihenfolge. Er schenkte ihr seinen wunderschönen Nachnamen und legte ihr Berlin zu Füßen, dann verschwand er wieder. Wenn Viktoria älter ist, wenn sie in die Schule kommt, dann werde ich ihr von ihrem Vater erzählen, nahm sie sich vor. Alles werde ich ihr erzählen. Doch es blieb bei dem Wenigen. Wenigstens hatte das Kind jetzt einen wunderschönen Namen.

Der Sommerwind wehte Jubel und Applaus über den Festplatz. Viktoria hatte ihre Cola gierig ausgetrunken und ging gestärkt über die nach Heu duftende Wiese zur Vogelstange. Mario lächelte sie breit an, in der linken Hand hielt er ein Bier, rechts die Nikon, sein Gesicht war leicht gerötet. »Hast nix verpasst. Das war nur der Flügel«, erklärte er wie ein kleiner Streber. Dann flüsterte er: »Das dauert hier noch eine Ewigkeit, die kriegen das einfach nicht hin. Sind wirklich zu blöde.« Dem jungen Mann, der sich gerade auf Kimme und Korn konzentrierte, rief er zu: »Jetzt ziel doch mal!« Offensichtlich waren die Schützenbrüder schon so betrunken, dass sie sich von Marios neunmalkluger Art nicht aus der Ruhe bringen ließen. Im Gegenteil. Ludger, der Würfler, steuerte mit einer Handvoll gefüllter Gläser auf Mario zu. »Hier, Meister. Zieh leer.« Zu ihrem Erstaunen tat Mario, was sein neuer Freund ihm gesagt hatte, und griff glücklich nach dem nächsten Bier. »Is aber auch was warm hier«, sagte er und machte einhändig ein Foto vom nächsten Schützen. Die Kugel blieb mit einem »Flopp« im Bauch des Holzvogels stecken, es war inzwischen 13.46 Uhr.

»Mario, du kommst alleine klar?«

»Klar, Chefin!«

»Ich schau mir mal an, was im Wäldchen los ist.«

Viktoria hatte Kinderstimmen und Pferdewiehern gehört. Sie ging zurück Richtung Zelt, durch den schmalen Pfad in die Schonung, in der am Abend vorher noch das Feuer Schatten geworfen hatte. Zwischen den Bäumen flatterten bunte Fähnchen, zwei Kinder saßen auf einem Pony, das ein alter Mann hin und her führte, und lachten. Viktoria hörte das Scheppern vom Dosenwerfen, sie sah Kletterstangen, an denen kleine Jungs hochkrabbelten, um an die Süßigkeiten zu gelangen, die ganz oben an einem sich drehenden Rad aufgehängt waren. Mütter standen mit Kinderwagen im Kreis, redeten, schwiegen, tranken Alsterwasser. Mädchen spielten Fangen. Viktoria dachte gerade an die TV-Serie Unsere kleine Farm, sie schmunzelte und erschrak. Direkt vor ihr stolperte ein kleines Mädchen mit Zopf und fiel hin. Unglücklicherweise stieß sie mit der Nase gegen eine harte Baumwurzel, sodass sie allen Grund hatte aufzuheulen. Das Brüllen des Kindes ging durch Mark und Bein. Unbeholfen stand Viktoria da und spürte die Blicke der Leute. Sie musste etwas tun. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein freundlich aussehender Schützenbruder gerade seine Nase schnäuzen wollte. Sie rief: »Halt, können wir tauschen?«, und hielt ihm eine Packung Tempos hin. Er schaute verdutzt erst sie und dann sein frisch gebügeltes Stofftaschentuch an und lachte. »Na gut«, sagte er und reichte ihr das Tuch. Viktoria ging in die Knie und sprach ganz ruhig zu dem Mädchen: »Pass auf, ich habe da was, was sofort macht, dass das Aua weg ist.« Ach du Scheiße, ich spreche in Babysprache, dachte Viktoria. Aber egal, das Geheule war ja nicht auszuhalten. Sie nahm das Taschentuch, machte ein Dreieck daraus, legte die Ecken übereinander und verdrehte es so, dass es am Ende aussah wie ein Zylinder mit einem Schwanz daran. Mit viel Fantasie – und die sollten Kinder ja haben – war es eine Maus. »Sieh mal, was ich hier habe.« Aus dem Kreischen wurde ein Schluchzen, das Kind schaute neugierig auf das wurstige Taschentuch. Viktoria klang jetzt wie eine Märchentante. »Das ist eine Maus.« Die Kleine zog ihren Rotz hoch, sie kam näher. Viktoria beugte ihren linken Arm, als läge er in einer Schlinge, ihre Hand formte sie zu einem Nest, sie legte die Taschentuchmaus vorsichtig hinein. Mit der rechten Hand streichelte sie das Tier und das Mädchen wollte auch. Ganz sanft berührte es den Stoff. Es lächelte. Und Viktoria kickte die Maus mit ihrem linken Mittelfinger aus dem Handnest. Das Tierchen flog im hohen Bogen auf den Waldboden.

Das Mädchen kreischte. Aber dieses Mal vor Vergnügen. Flink rannte sie zur geflüchteten Maus, hob sie auf, kam zurück und hielt sie ihr entgegen. »Noch mal.« Ihr Gesicht war von den Tränen noch ganz nass.

Viktoria war stolz auf sich. Sie wiederholte den Maustrick. Zack den Finger vorgestoßen, das Tier flog durch die Luft, das Kind lachte, das Tier landete auf dem Boden.

Im Schatten der großen Buche stand Martha Lütkehaus. Ihre Lippen bebten. Dabei war ihr Blick starr auf das Mädchen und das Stofftier gerichtet. Dann sah sie Viktoria an. Direkt, klar und irgendwie weich. Fast schien es, als wolle sie auf sie zugehen. Doch sie drehte sich um und verschwand sehr langsam im Dunkel des Waldes.

»Woher können Sie das?« Eine freundliche junge Frau sprach Viktoria an. Die Mutter des Mädchens. Sie streichelte zärtlich den Zopf ihrer Tochter.

Viktoria blickte auf. »Was?«

»Na, diesen Trick mit dem Taschentuch. Woher können Sie das?«

Viktoria zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kann’s einfach.«

Wie lange hatte sie nicht mehr daran gedacht. An die Mäusearmee in ihrem Kinderzimmer. Sie hatten überall gehockt: auf ihrem Fensterbrett, in ihrem Puppenhäuschen und in ihrem Bett. Sie streichelte sie, stopfte sie unter ihr Kopfkissen und erzählte ihnen vor dem Einschlafen Geschichten von wasserspuckenden Drachen und im Feuer badenden Wassermännern. Wenn eine ihrer Zuhörerinnen zerknautscht war, fummelte sie das verknotete Taschentuch auseinander, und ihre Mutter musste es bügeln. Doch falten musste Viktoria die Mäuse selbst. Das konnte Mama nicht. Sie war stolz darauf gewesen, die kleine Tori mit den geschickten Händen! Es war ganz alleine ihr Geheimnis, das Mäuse-Faltgeheimnis. Ich kann Mäuse zaubern, hat sie damals gedacht. Ich kann Mäuse zaubern, dachte sie jetzt, als sie dem getrösteten Mädchen und seiner Mutter nachblickte. Aber wer war mein Zauberlehrer?