14. Kapitel

 

Tim Möcke fasste einen Entschluss. Er hatte sich die Sache gut überlegt und sich einen richtigen Plan ausgedacht. Als Mama die leere Filmdose in den Gelben Sack geworfen hatte, fischte er sie wieder heraus. Heimlich natürlich. Dann ging er in sein Zimmer. Er zog die mittlere Schublade seines blauen Schranks auf. Ganz hinten lag die kleine Kiste. »Rauchen gefährdet die Gesundheit«, stand darauf, und man sah einen Mann, der eine Zigarre rauchte. So wie Opa das immer getan hatte, als er noch lebte. Tim mochte den Geruch der Zigarre von Opa und der Kiste, die er von ihm bekommen hatte. Es war noch alles drin. Der Zauberstein, sein Detektivausweis und die kleinen Dinger, von denen er nun wusste, dass es Munition war. Echte Munition für echte Gewehre. Lina, die in der Schule hinter ihm saß und die, wenn sie kein Mädchen gewesen wäre, sein bester Freund gewesen wäre, hatte ihm geholfen. Ihr Vater war Jäger. Tiere zu erschießen interessierte ihn aber kaum, er liebte nur seine Gewehre. Er putzte sie oft und benutzte sie wenig. Lina fand das gut, weil sie Tiere mochte. Tim fand das blöd, weil Schießen doch bestimmt Spaß machte. Zum Glück war Linas Vater ein etwas zerstreuter Mann, und er wunderte sich gar nicht, als Lina ihm die Kugeln zeigte. Sie behauptete einfach, sie habe die Dinger in seinem Keller gefunden und wollte nun ganz genau wissen, was das ist. Ihr Vater schüttelte daraufhin den Kopf und schwor sich, ordentlicher mit Waffen und Munition umzugehen. Gleichzeitig dankte er Gott, dass seine Tochter so ein vernünftiges, ehrliches Mädchen war. »Nun sag schon, Papa. Was sind das für Patronen?« Mit seinem geübten Auge und seiner Erfahrung erkannte er das Schrot-Kaliber 12/70 und die Munition für eine Kugelwaffe vom Kaliber 7 x 64. Lina schrieb die seltsamen Zahlen auf ihren Prinzessin-Lillifee-Block und präsentierte Tim den rosa Zettel am nächsten Schultag. Am Nachmittag hockten die beiden dann über einem mächtig dicken Waffenkatalog von Linas Vater. Lina hatte ihn vom Coachtisch genommen und mit in ihr Zimmer geschmuggelt. Jetzt verglichen sie den rosa Zettel von Lina mit einem Artikel aus den Telgter Nachrichten. Tim hatte ihn am Tag zuvor ausgerissen. Es war eine kleine Meldung gewesen.

Untersuchungen eingestellt: Die Polizei stellt die Ermittlungen gegen Elisabeth U., die eine Schützenversammlung mit zwei Jagdgewehren bedroht hatte und dann bewusstlos zusammengebrochen war, wegen versuchten mehrfachen Mordes ein. Die Doppelflinte der Marke Merkel 202 und die Büchse der Marke Sauer 80 waren nicht geladen, so der Pressesprecher der Polizei Warendorf. Es sei auch keine Munition bei der Beschuldigten gefunden worden. Zu keiner Zeit habe also tatsächlich eine Gefahr bestanden, heißt es in der Pressemitteilung. Ihr Mann musste eine Geldstrafe in Höhe von zweihundert Euro bezahlen, so die Polizei weiter. Dass der Schlüssel für seinen Waffenschrank für die Frau zugänglich gewesen wäre, sei eine Ordnungswidrigkeit. Die Gewehre wurden ihm jetzt zurückgegeben. Elisabeth U. muss mit einer Strafe wegen Nötigung und Erregung öffentlichen Ärgernisses rechnen.

Tim Möcke hatte Sauer 80 und Merkel 202 mit seinem roten Filzstift eingekreist.

Plötzlich quietschte Lina: »Da, Tim, da!« Im Waffenkatalog stand, welche Munition zu den Waffen gehörte.

Tim hielt die Luft an: Die kleinen Bleidinger, die er am Tag nach der aufregenden Nacht neben dem Gullydeckel vor seinem Haus gefunden hatte, passten in die Waffen, die Elisabeth Upphoff auf die Männer gerichtet hatte. Und auch wenn er in Mathe und Englisch nicht besonders gut, sondern eher befriedigend minus stand: Ihm war in diesem Moment sonnenklar, dass das sehr wichtig war.

Vorsichtig packte er die Kugeln in die Filmdose und steckte sie in sein Umhängeportemonnaie. Daneben lag der Zettel mit seiner Zeugenaussage. Mit Bleistift hatte er noch ein PS angefügt. »Ich, Tim Möcke, gebe hiermit zu Protokoll, dass ich am Tag nach der seltsamen Nacht Munition gefunden habe, die in die Jagdwaffen gepasst hat. Ich glaube, der Mann, der so lange bei der bewusstlosen Frau Upphoff gehockt hat, wollte sie wegwerfen, doch ein paar fielen neben den Gullydeckel.«

Tim stieg auf sein Fahrrad und fuhr los. Er wusste, dass er den seltsamen Typen mit dem gelben Auto und den langen Haaren auf dem Schützenplatz treffen würde. Er hatte ihn öfter zusammen mit der schwarzhaarigen Frau gesehen. Der Mann hatte einen Fotoapparat, und die Frau schrieb immer alles Mögliche auf. Er hatte sie über die Nacht reden hören und die Worte »Amokfrau« und »Blutbad« gehört. Er war sich sicher, dass sich die beiden für seine Informationen interessieren würden. Und er hatte mal gehört, dass Leute, die für eine Zeitung arbeiten, ihn nicht an die Polizei verraten würden. Tim Möcke wollte nicht, dass eine Mörderin frei herumlief, die nur durch Zufall niemanden erschossen hatte. Aber er wollte ebenso wenig, dass seine Eltern ihm Fernsehverbot erteilten, weil er nachts aus seinem Zimmer geschlichen war, um die seltsame Schützenversammlung gegenüber zu beobachten.

»So, schöne Stadtfrau. Jetzt gibt’s Bier.«

Viktoria zuckte zusammen. »Mann, du hast mich erschreckt!«

Kai lachte und reichte ihr das Glas.

Sie nahm es zögernd. Das Bier lag kühl in ihrer Hand.

Er stieß mit seinem Glas an ihres, es klirrte, und er fragte fröhlich: »Auf was wollen wir trinken?« Kai klang nett, vollkommen harmlos. Was für ein Teufel!

Viktoria spielte mit. Sie sagte nicht: »Wir trinken auf einen miesen Typen, der mich gestern Nacht packen wollte, der aus irgendwelchen Gründen durch die Gegend geschlichen ist und mich belügt. Der den großen Tröster spielt, mich betrunken macht und dann so küsst, wie man nur küssen darf, wenn es einem ernst ist. Wir trinken auf einen Dreckskerl! Auf einen miesen Dreckskerl. Auf Kai Westmark, den größten aller Dreckskerle, der nur durch den Dreck unter seinen Schuhen verraten wurde.« Nein, Viktoria lächelte geheimnisvoll und schwieg.

»Prost!«, sagte Kai. Da segelte der Holzrumpf nach unten. Viktoria sah nur den Schatten herabfallen, drückte Kai das Glas in die Hand und rannte los. Wer hatte dem Vogel den Gnadenschuss gegeben? Hat Ferdinand ihn runtergeholt? Sie war schließlich Profi. Sie durfte nicht verpassen, wenn der König auf die Schultern seiner Kameraden gehoben wird. Mario durfte es nicht verpassen. Sie sah einen Pulk Männer, einige lachten, alle klatschten, grölten. Sie sah Ferdinand Upphoff am Rand stehen, ein wenig abseits. Er war es also nicht. Mario, verdammt noch mal, wo steckte er? Das Foto, das Schulterfoto! »MARIO!« Viktoria wurde nervös. Wenn sie dem Chef das Siegerfoto nicht liefern würden, wären sie geliefert. Nix mehr mit Victory, der Recherche-Königin vom Express. Sie rief lauter. »M-a-r-i-o!!!« In der Mitte des Schützenbrüder-Pulks wurde es eng, einige bückten sich, um mit einem lauten »Hoch soll er leben« den Schützenkönig auf ihren Schultern nach oben zu heben. Viktoria sah die grüne Jacke von hinten, die Gesäßtaschen der schwarzen Hose. »MARIO, wo steckst du?!!!« Dem Mann auf den Schultern fiel der Hut herunter, halblange Haare kamen zum Vorschein. Mein Gott, was für ein schönes Bild wäre das gewesen. »Mario, verdammt noch mal, wo bist du?!« Der Schützenkönig drehte sich um, sie sah das Siegerlachen, sie hörte die Stimme, sie kapierte es nicht.

»Hey, Victory, ich hab ihn einfach abgeschossen.« Mario Siewers, Fotograf für den Berliner Express, ihr Teamkollege, der Desinfektionsfetischist, der arroganteste Barchetta-Fahrer unter der Sonne – er war Schützenkönig von Westbevern.

Sie trugen Mario über den Schützenplatz Richtung Bierwagen, und Rosa strahlte hinter ihrem Zapfhahn. »Ein Bierchen für den König!«, sagte sie und reichte dem Fotografen das Glas.

Viktoria sah fassungslos zu. Dann endlich setzten ihn die zwei stämmigen Burschen, die als Träger fungiert hatten, auf den Wiesenboden. Mario war umringt von Gratulanten, Viktoria drängelte sich durch. »Mario!« Mehr fiel ihr nicht ein. Sein Gesicht war von Alkohol und Sonne leicht gerötet. Seine Hose hatte Hochwasser. »Wo hast du die Klamotten her?« Noch während sie fragte, wusste sie die Antwort. Etwa fünfzehn Schritte entfernt schlief ein Schützenbruder ohne Uniformjacke in Marios Boss-Jeans an einem Biertisch seinen Rausch aus.

»Na, das ist ja mal eine Überraschung.« Kai war inzwischen nachgekommen. Er grinste fröhlich vor sich hin.

Viktoria stammelte: »Aber wie konnte das denn … Er ist doch gar nicht Mitglied.«

Ein kleiner Mann neben ihr stieß ihr in die Seite. Er war vielleicht sechzig Jahre alt, höchstens einen Meter sechzig groß und offensichtlich vollkommen im Bilde. »Ganz einfach, Frau Reporterin. Er hat uns genervt.«

Sie verstand nichts. »Genervt?«

»Ja«, das Männchen neben ihr glühte geradezu vor Vergnügen, ihr alles erklären zu können. Sein Hut wippte fröhlich auf und ab. »Ja, dieser Mario ist schon eine Nervensäge. Sie wissen das wahrscheinlich besser als wir, Sie müssen ja schließlich mit ihm zusammenarbeiten. Und eingebildet isser.«

»O ja«, versuchte sie ihren Beitrag zum Gespräch zu leisten.

»Die ganze Zeit hat er da mit seiner dicken Kamera gesessen und uns blöde angequatscht. Wir könnten nicht treffen, sollten mal ordentlich zielen, wir hätten ja nix drauf. Das wurde uns irgendwann zu dumm. Schieß doch selber, du Besserwisser, hat der Hugo dann zu ihm gesagt. Am Anfang natürlich nur so aus Spaß, doch Ihr Kollege hat es wohl ernst genommen. ›Nur her mit dem Schießeisen‹, hat er getönt. Das wollten wir sehen. Also habe ich Matthias da drüben überredet, seine Schützentracht zu verleihen. Und wir haben Mario schnell zum Vereinsmitglied gemacht. Das Formular haben wir auf einer Serviette, sagen wir mal, ›nachempfunden‹, die Unterschrift sehen Sie hier.« Stolz wedelte er mit einem Fetzen weißen Serviettenpapier.

»Ja, geht das denn so schnell?«

»Wenn man Bürgen vorweisen kann, schon. Also Kameraden, die für das neue Mitglied die Hand ins Feuer legen.« Das Männchen machte eine gewichtige Pause.

»Einer der Bürgen bin ich, das Risiko war es mir wert. Die anderen beiden sind Ludger und Alfred.« Ludger und Alfred tanzten gerade Arm in Arm mit Mario eine Art Ringelreihen. Viktoria konnte nicht anders, sie musste lachen.

Kai hielt ihr das kühle Bier vor die Nase. »Na, das brauchst du doch jetzt?«

Sie nickte und sagte: »Armer Ferdinand Upphoff. Der wollte doch so gerne König werden. Wo ist der eigentlich?«

»Da drüben«, Kai zeigte mit der rechten Hand Richtung Wäldchen.

»Wo?« Sie sah ihn nicht.

»Na, da ganz hinten, direkt neben …«

»… dem Nepomuk.« Viktoria stockte der Atem.

»Hey, du kennst dich aus mit Heiligen?«

»Mit was?« Sie stand ganz steif da.

Kai sprach weiter: »Na, die Statue da neben dem Upphoff, das ist der heilige Nepomuk. Eigentlich stehen die Nepomuks dieser Welt immer an Brücken. Dieser ist aber eine Ausnahme. Das Emshochwasser hat ihn vor zig Jahren mal weggespült, da wurde er einfach versetzt. Hier, an den Rand des Schützenplatzes.«

»Ich weiß.« Ihre Stimme war rau. Flatternde Fahnen. Marschmusik, sie hörte und sah davon nichts.

»Gut recherchiert!«, lobte Kai sie.

Sie schüttelte nur ganz langsam den Kopf. »Nein, nicht recherchiert. Ich weiß es. Ich war dabei.«