Mrs Bailey machte einen Riesenwirbel, als sie mich sah, lamentierte:

»Ja, beim Heiligen, man sehe sich doch nur mal Ihren Zustand an.«

Sie schlug vor, mich auf ein Zimmer im Parterre zu verlegen, wegen meines Beins, aber davon wollte ich nichts hören. Ich liebte mein Zimmer, sagte:

»Das Training ist gut. Ich brauche Bewegung.«

Janet, das Zimmermädchen, brach in Tränen aus, warf die Arme um mich, plärrte:

»Wir dachten, man hätte Sie umgebracht.«

Ich hielt mich an den alten Spruch meiner Jugend, mit dem man sich gegen Gefühl wappnet, sagte:

»Unkraut vergeht nicht.«

Ich konnte fühlen, wie ihre Tränen mir durch das Hemd weichten, und das rührte mich mehr, als ich je zugeben würde. Hier war, wenn auch nur bruchstückhaft und alt an Jahren, Familie.

Sie ließ mich endlich wieder los, sagte:

»Und was Sie an Gewicht verloren haben, Sie sind wie ein Biafra-Baby.«

Für eine gewisse Generation in Irland, egal, wie viele Hungersnöte die Welt seitdem erlebt hat, bleibt Biafra der Bezugspunkt, vielleicht weil wir zum ersten Mal das Wüten des Krieges in einem anderen Land aus solch unmittelbarer Nähe gesehen haben. Hungersnot ist die Wunde, die unsere Psyche geformt hat. Schließlich schaffte ich es auf mein Zimmer und schloss die Tür mit einem Seufzer der Erleichterung. Janet hatte einen Blumenstrauß auf mein Bücherregal und eine Schachtel Pralinen auf den Nachttisch gestellt.

Pralinen.

Da musste ich lächeln. Ich hätte für eine Flasche Jameson einen Mord begangen, und sie hatte mir Süßigkeiten geschenkt.

Der Kalender vom Allerheiligsten Herzen Jesu Christi war noch da, und so prüfte ich, welches Goldkorn der Weisheit im Angebot war, maulte:

»Nie lasse nach in der Ehrfurcht.«

Und:

»Herr, befreie mein Herz.«

Es stimmte also, Gott hatte Humor, nur Sein Timing haute nicht hin. Ich steckte mir eine Lulle an und knipste am Radio. Bush sagte, er musste wegen Daddy den Irak bombardieren, und John Major spielte die Enthüllung seiner vier Jahre währenden Affäre mit Edwina Currie herunter. Dann die Lokalnachrichten: Eine Schülerin war auf dem Schulweg attackiert worden. Sie war elf. Am helllichten Tage hatte ein Mann sie in eine Gasse gezerrt. Er befand sich immer noch auf freiem Fuße, aber er wurde massiv gesucht. Ich machte mir Kaffee und verpasste fast die nächste Meldung. Eine Studentin war eine Treppe hinuntergefallen, war sofort tot gewesen. Ich erstarrte, das Filterpapier in der Hand, sagte:

»Was?«

Es gab keine weiteren Einzelheiten. Der Wetterbericht sagte Regen mit der Möglichkeit von Gewittern voraus. Mein Knie tat weh, und ich überprüfte die Arznei, die sie mir im Krankenhaus mitgegeben hatten. Sechs Schmerzpillen. Heiland, drei davon hätte ich sofort wegschlabbern können, eintauchen in die Wolke gnäd’gen Vergessens. Nahm eine, spülte sie mit dem Kaffee herunter, griff mir mein Adressbuch, fand die Nummer, wählte, hörte:

»Hallo?«

»Bríd?«

»Wer ist da?«

»Jack Taylor.«

Meinen Namen zu hören machte sie nicht froh, und sie sagte:

»Sie haben mich mit meinem richtigen Vornamen angesprochen. Normalerweise sagen Sie ›Wellewulst‹, weil Sie wissen, dass ich die englische Version hasse.«

Sie wollte mich examinieren, also bereitete ich meine Reaktionen gut vor, sagte:

»Okay, fangen wir noch mal von vorne an, Nic an Iomaire. Na, habe ich jetzt gepunktet?«

Lange Pause. Ich debattierte mit mir, ob ich sie frage sollte, wie es Margaret, ihrer »Freundin«, geht, hatte aber den Eindruck, es würde meinem Anliegen nicht förderlich sein, und wartete bis:

»Sind Sie noch im Krankenhaus?«

»Ich bin draußen, was zu hören Sie freuen wird, zwar nicht so gut wie neu, aber immerhin voller Glut. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich zu besuchen. Woher haben Sie’s gewusst?«

Ich malte mir aus, wie sie böse guckt, hatte es oft genug gesehen. Sie schien eine Ewigkeit darauf zu lauern, mich auszuknocken, und mir, Gott vergebe mir, machte es Spaß, sie zu piesacken. Sie war das, was die Amerikaner einen zugekniffenen Arsch nennen. Jetzt sagte sie:

»Ein Polizist bringt einen Expolizisten halb um, und Sie glauben, das weiß nicht jeder Polizist im Lande?«

Jetzt war ich mit Bösegucken an der Reihe, fragte:

»Warum machten dann Ihre Kollegen, die mich befragt haben, so einen überraschten Eindruck?«

Sie zögerte nicht:

»Wachen Sie auf, der Kaffee duftet.«

Wenn mich das irritieren sollte, hat es geklappt. Zähne zusammengebissen, bis zehn gezählt, dann:

»Ich wette, das wollten Sie schon lange sagen.«

Jetzt machte sie auf ungeduldig.

»Wollten Sie etwas Bestimmtes? Sie rufen ja wohl kaum privat an.«

»Die Studentin, die die Treppe runtergefallen ist, wissen Sie da irgendwelche Details?«

Sie war zornig, ihr Atem kam schnell, fragte:

»Versuchen Sie wieder, Privatdetektiv zu spielen? Sie haben aber hoffentlich inzwischen Ihre Lektion gelernt?«

Ich wollte ihre übliche Predigt nicht, unterbrach:

»Ich muss nur ein Detail wissen, können Sie das herausfinden?«

»Los.«

»Als das Mädchen gefunden wurde, war da irgendwas unter ihrer Leiche?«

Ich konnte hören, wie sie einatmete, und hakte nach:

»Da war doch was, Heiland …, etwa nicht?«

Eine Ewigkeit, bevor sie antwortete, dann:

»Es ist kompliziert.«

»Mit kompliziert kann ich, probieren Sie’s.«

»Wenn das rauskommt … Okay, ich verstehe mich ganz gut mit einem der uniformierten Kollegen, der als Erster vor Ort war. Er hat ein Buch aufgehoben …«

»Das dämliche Arschloch.«

Ich konnte hören, wie sie die Angelschnur einrollte, versuchte, wieder Oberwasser zu kriegen. Den Ort gleich unter dem Oberwasser kenne ich gut. Das ist praktisch mein Zuhause. Das Radio spielte immer noch, und ich hörte den DJ einen Song von Elvis Costello ansagen, »I Want You«, von seinem Album Blood and Chocolate. Der Titel war eklig, gemein, brutal, kam aber im leichten Gewand daher. Wie man es von einem weißen geschiedenen Endvierziger erwartet. Der Song schien alle Luft aus dem Zimmer abzusaugen. Wellewulst sagte:

»Er weiß, dass er Mist gebaut hat.«

»Besorgen Sie das Buch.«

»Was?«

»Besorgen Sie sich von ihm das gottverdammte Buch. Sind Sie schwerhörig?«

»Ist das ein Befehl?«

»Es ist absolut lebenswichtig.«

Und ich legte auf.

Halb tat es mir leid, dass ich die Schlagzeile vom Sentinel nicht erwähnt hatte:

BISCHOF VERBIETET HOMO-HOCHZEITEN

In der protestantischen St.-Nikolai-Kirche hatte eine schwule Hochzeit stattgefunden. Jetzt schritt deren Bischof ein. Als Kinder, so sehr waren wir vom Katholizismus konditioniert, haben wir immer gemacht, dass wir schnell an St. Nikolai vorbeikamen, damit die Kirche nicht ihre Tentakel ausfährt und uns schnappt. Sogar jetzt, wenn ich dort langgehe, beschleunige ich meine Schritte.

Das Zimmer war eng geworden, und ich musste vor die Tür. Eine Jameson-Besessenheit hatte sich in meinem Hirn eingenistet. Ich ging die Treppe hinunter, und mit dem Stock war das ein langsames, mühseliges Geschäft.

Mrs Bailey schien beunruhigt, sagte:

»Sollten Sie sich nicht ausruhen?«

»Bewegung ist das Beste.«

Sie dolchte mit dem Finger auf die Zeitung, die sie vor sich hatte. Ich wusste, dass es der Irish Independent war – es war zeit ihres Lebens der Irish Independent gewesen. Er trug die politischen Farben seiner Leser vor sich her wie ein Banner. Sie sagte:

»Das Nizza-Referendum, was hat sich die Regierung bloß dabei gedacht? Immer wieder Volksabstimmung, bis sie das Resultat kriegt, das sie will?«

Politik machte mir im Augenblick die allerwenigsten Sorgen, aber ich musste ein bisschen Mumm zeigen, versuchte es mit:

»Dem entnehme ich, dass Sie mit ›Nein‹ stimmen werden?«

Wie es irische Art ist, wechselte sie sofort das Thema:

»Die Oranier-Schweinehunde haben Sinn Féin aufgemischt, haben die Büros im Stormont überfallen.«

Ich war irritiert, staunte über ihre Wortwahl. Sie war über achtzig, gehörte zu Galway wie der Spanish Arch. Ich fragte:

»Aufgemischt? Grundgütiger, wo haben Sie das gelernt?«

»Ich sehe The Bill und Eastenders.«

»Ich dachte, Sie wären Coronation Street-Fan?«

»Seit Hilda Ogden raus ist, nicht mehr.«

Damit kann man jedes Gespräch abwürgen. Ich nickte und sagte:

»Man sieht sich.«

Es war seltsam, wieder draußen, in der Öffentlichkeit zu sein. Das Krankenhaus bot seine eigene abgeschlossene Welt, und ich bin nicht sicher, ob ich die nicht ansprechender fand.

Ein Priester überquerte die Straße, sagte:

»Was ist mit Ihnen passiert?«

»Ein Rugby-Unfall.«

Was sollte es, er war sowieso GAA … Waren sie alle. Er schien verwirrt, machte sich dann seinen Reim, sagte:

»Ach, ich verstehe. Ich meinte eigentlich die Messe, Ihre Anwesenheit bei der Messe. Ich habe Sie längere Zeit nicht gesehen.«

Das Wort »Anwesenheit« schätzte ich ganz besonders. Schon als Polizist war ich schlecht in Vorschriften gewesen. Ich fragte:

»Wie, kriege ich einen Vermerk in der Akte?«

Er war irritiert und versuchte es mit neuem Schwung:

»Herrgott, ich habe mich schlecht ausgedrückt. Was ich gemeint habe: Wir haben Sie vermisst.«

Ich wollte ihn beim Kragen packen, schütteln und »Aufwachen!« schreien. Ich sagte:

»Davon gehe ich aus.«

Er zog die religiöse Nummer mit der anderen Wange ab, ignorierte meinen Ton und sagte:

»Wir werden Sie doch gewiss am Sonntag sehen?«

»Und die Schweine lernen fliegen.«

Ich machte auf dem Absatz kehrt und humpelte davon.