23
„Zum Geier noch mal, Frida!“, schrie ich von der Badezimmertür Richtung Küche. „Was haben deine verdammten Schlangenbabys in der Badewanne zu suchen?“
„Rühr sie nicht an“, rief Frida und sprang die Treppe hoch. „Da ist es am wärmsten. Und am ruhigsten.“
Mit perfektem Timing hatte Marzipan unsere Abwesenheit und den häuslichen Frieden genutzt, um in aller Ruhe Mutter zu werden. Seither hing sie lasziv in ihrem Kletterbaum und betrachtete von oben gelangweilt ihre Brut. Sie bestand aus neun braun gesprenkelten weißen Eiern und erinnerte mich verschärft an eine Riesenladung Hühnerkacke. Frida hatte begeistert festgestellt, dass man durch die ledrig weiche Schale bereits die winzigen Reptilien hindurchschimmern sah. Beunruhigt von Marzipans Rabenmutter-Attitüde hatte sie fürsorglich das Unterhemd meines Vaters – es besaß mittlerweile die gleiche Farbe wie die Eier – um Marzipans kostbares Gelege drapiert und ihre Installation in der Badewanne untergebracht. Für Jasper hatte das immerhin den Vorteil, dass er endlich wieder in Zivil herumlaufen durfte, ansonsten war es einfach nur eklig.
„Das kann ja wohl nicht wahr sein.“ Angewidert zerrte ich den Chiquita-Bananenkarton mit seiner dicken Sandeinlage, Martins Ex-Unterhemd und den Hühnerkacke-Eiern aus der Wanne und drückte ihn Frida in die Arme.
„Menno, Fanny, die müssen doch schlüpfen.“
„Da soll sich gefälligst Marzipan drum kümmern und ihre Minimonster selbst warm halten.“
„Aber Kornnattern haben keinen Brutinstinkt. Die legen die Eier ab und fertig.“
„Wie praktisch. Und jetzt soll ich ihre Mutter spielen, wenn ich ein Bad nehmen möchte, oder was? Ich will dir mal was sagen: Ich hab auch keinen Brutinstinkt. Ich krieg nur einen Würg-Instinkt, wenn ich die Biester sehe.“
„Aber sie stören dich doch gar nicht. Die liegen da ganz friedlich und …“
„… ich steh hier ganz friedlich“, unterbrach Martin mit dem olivgrünen Telefonhörer an seiner vorsintflutlichen Strippe in der Hand von unten unser Wortgefecht. „Bitte tut mir nichts. Hier, für dich, Fanny.“
„Und ob die mich stören“, zischte ich Frida zu, trabte barfuß an ihr vorbei die Treppe hinunter und blökte einen Tick zu laut „Hallo“ in den Hörer.
„Polizeiwache Westerland“, blökte es zurück. „Spreche ich mit Helena Filius? Der jungen Dame, die die flüchtige Mia Sander gefunden hat?“ Ich verzog das Gesicht, verzichtete aber auf lange Erklärungen.
„Ja, hier ist Fanny Filius.“
„Moin, Frau Filius. Ich habe hier eine Handynummer für Sie. Ein junger Mann namens Lars Andresen bittet Sie um Rückruf. Wir konnten ihm nicht einfach Ihre Nummer überlassen. Datenschutz.“ Dann leierte mir die Frauenstimme eine zehnstellige Nummer ins Ohr, die ich mangels Alternative mit Sveas türkisem Kajalstift auf Tante Hedis halb erblindeten Flur-Spiegel schrieb. Lars Andresen? Was konnte Igel von mir wollen? Es war zwei Tage her, dass er mir sein „quitt“ aus dem Ambulanzwagen zugelächelt hatte.
„Wie geht’s Mia?“, fragte ich, als er nach sechsmal Klingeln abhob.
„Das kannst du sie selbst fragen“, erwiderte er. „Sie möchte dich und deinen Freund gern sehen.“
„Wo ist sie jetzt? In der Zeitung gab’s nur eine kurze Meldung.“
„Na, noch immer im Krankenhaus. Ihr linker Fuß ist gebrochen. Ansonsten hat sie zum Glück nur ein paar Kratzer und eine Gehirnerschütterung abbekommen. Ihre dicke Lederjacke hat das Schlimmste verhindert.“
„Okay“, sagte ich. „Wo genau finde ich sie da?“
Drei Stunden später betrat ich zum zweiten Mal in diesen Ferien die Nordsee-Klinik. Diesmal auf zwei Beinen und mit Jan an meiner Seite, aber kaum weniger angespannt.
Mia lag allein in einem Zweibettzimmer in der dritten Etage mit Balkon und Blick aufs Meer. Als wir eintraten, saß sie im Bett und war damit beschäftigt, systematisch einen eng beschriebenen Karoblock erst in schmale Streifen und dann zu Vierecken zu zerreißen. „Hi“, sagte sie und blickte von ihrem Zerstörungswerk auf.
„Hi.“
Hätte ich nicht gewusst, dass es sich um Mia handelte, hätte ich sie nicht erkannt. Michael-Jackson-bleich schaute sie unter ihrem pechschwarz gefärbten Haarschopf hervor, der in alle Richtungen abstand. Ohne ihr Gothic-Vampir-Make-up und das martialische Nasenpiercing sah sie viel jünger aus als auf dem Foto in der Zeitung. Irgendwie verletzlich und kein bisschen gefährlich, wie auch Frida sie geschildert hatte. Das einzige bisschen Farbe in ihrem Gesicht, außer den dunklen Augen, war die Schramme, die sich von der linken Schläfe bis über den Wangenknochen zog. Am meisten aber überraschte mich der langohrige Kuschelhase, der auf ihrem Nachttisch an einer Flasche O-Saft lehnte, neben einer siebenschwänzigen Rattenbrosche, die ich aus der Zeitung kannte.
Mia hatte mein Erstaunen bemerkt. „Das ist Tick“, sagte sie und grinste schief. „Ersatz für Muffin. Die wollten sie hier nicht haben.“ Sie wischte sich eine ihrer Rabenflusen aus dem Gesicht. „Höchstens als Laborratte, aber das wollte ich nicht.“ Mit einer energischen Bewegung schredderte sie die letzten beiden Karoseiten. „Bin gleich fertig“, sagte sie, während sie akribisch die Papierfetzen herauszupfte, die prinzipiell in der Spiralbindung hängen bleiben.
Mit dem rechten Fuß schob sie die Bettdecke ans Fußende, vorsichtig, damit das Papierpuzzle nicht auf dem hellgrauen Linoleumboden landete. Ihre kalkweißen Beine steckten in der gleichen karierten Boxershorts aus der Herrenabteilung von H&M, die ich auch hatte. Der kalkige Gips unterhalb des Knies fiel optisch kaum auf.
„Tut’s sehr weh?“
„Könntet ihr mir vielleicht ein Gefäß besorgen für das Zeugs da?“ Mit dem Kinn wies Mia Richtung Papierschnipsel, ohne auf meine Frage einzugehen. „Aber keine von den ekligen Kotzschalen aus Recycling-Pappe. Von dieser Haferschleimfarbe muss man ja schon spucken, wenn einem gar nicht schlecht ist.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich brauch was Feuerfestes. Schließlich will ich nicht das ganze Krankenhaus abfackeln.“ Ich drehte mich zu Jan und zog eine Augenbraue hoch, was er zum Glück sofort kapierte.
„Feuerfest? Warum nicht gleich atombombensicher“, hörte ich ihn murmeln, während er sich zum Ausgang wandte. „Ich guck mal, was ich finde“, sagte er laut und verschwand durch die pistaziengrüne Tür, die sich mit einem metallischen Klick automatisch hinter ihm schloss.
„Was hast du vor?“ Mia ignorierte auch diese Frage. Hallo? Saß sie auf ihren Ohren oder was? „Wie geht’s dir?“, versuchte ich es ein drittes Mal und reichte ihr die Riesenbox Meeresfrüchte aus Schokolade, die ich in Westerland für sie erstanden hatte.
„Oh, danke. Die hatte ich lange nicht.“ Mia riss die Folie um die Schachtel ab und zog die dunkelbraune Form heraus, in der die Schoko-Seesterne, -Schnecken und -Muscheln in ihren Plastikhöhlen der Kernschmelze entgegendämmerten. Sie nahm sich eine Schnecke und hielt mir dann die Packung hin. „Und danke überhaupt.“ Ihre Lider mit den langen dunklen Wimpern flatterten ein wenig, als sie mir in die Augen sah. „Für alles. Mir geht’s viel besser“, setzte sie hinzu, „und das mit dem Bein hier ist nicht so schlimm.“ Sie machte eine Pause. „Wenn ihr nicht gekommen wärt …“
Ich entspannte mich und setzte mich auf den Stuhl neben ihrem Bett. „Aber wir sind ja gekommen.“
„Woher wusstet ihr, wo ihr mich suchen müsst?“
„Als wir aus dem Bunker kamen, fiel mir ein, dass wir dich da schon mal gesehen hatten. Nach einem anderen Apothekeneinbruch. Durch die Taue in der Kiste neben deinem Lager bin ich drauf gekommen.“ Ich biss einen Arm von meinem Seestern ab. „Wozu brauchtest du die eigentlich?“
„Um die Gänge zu erkunden. Ich wusste ja nicht, wie viele Abzweigungen es gibt. Ich hab sie aneinandergeknotet und später dann die Strickleiter gemacht, für den zweiten Eingang.“
„Hmm. Aus Fridas Nylonseil.“
„Frida? Ist das die Kleine mit dem Weichei von Hund im Minikleid, die …“
„… die du in das Loch zurückgeschubst hast, ja. Und Jasper ist kein Weichei!“
„Sorry.“ Mia guckte zerknirscht. „Ist sie deine Schwester?“
„Nee.“ Ich verzog das Gesicht. „Jedenfalls noch nicht, soviel ich weiß.“
„Aha.“ Mia warf mir einen neugierigen Blick zu.
„Du hast mit deinem Onkel Igel gesprochen?“
„Ja, er saß an meinem Bett, als ich aufwachte. Und ist die ganze Zeit über bei mir geblieben. Bis gestern … als meine Mutter kam.“
„Die war bestimmt überglücklich, dich gesund wiederzuhaben. Einigermaßen jedenfalls“, sagte ich mit Blick auf Mias Gipsfuß. Mia ließ ihre Schokoschnecke auf das weiße Betttuch fallen und stopfte sie dann schnell in den Mund. Verlegen spielte sie mit der silbernen Drahtspirale aus ihrem Block.
„Schon“, sagte sie vage. „Igel hat mir erzählt, was im Bunker passiert ist, als ich nicht da war. Da hab ich ja wohl noch mal Glück gehabt, dass ich den beiden Typen nicht in die Arme gelaufen bin.“
„Sieht ganz so aus. Was wollten die eigentlich von dir? Habt ihr das inzwischen rausgekriegt?“
„Mich zum Schweigen bringen. Ein für alle Mal“, erwiderte Mia düster, um dann zufrieden fortzufahren. „Hat ja bekanntlich nicht geklappt.“
„War aber verdammt knapp“, sagte Jan, der, ohne zu klopfen, zur Tür hereinkam. Umständlich zog er ein rundes Edelstahlgefäß mit Deckel unter seinem über die Jeans hängenden Hemd hervor und hielt es ihr hin. „Das hab ich aus dem Schwesternzimmer geklaut“, erklärte er. „Meinst du, das geht?“
„’ne Petrischale.“ Mia fing an zu kichern. „Wie passend. So ähnlich fing das Ganze auch an.“
Verständnislos sah Jan mich an. „Hast du eine Ahnung, wovon sie redet?“
Ich zuckte die Schultern. „Ich passe.“
Mia schien nicht die Absicht zu haben, uns aufzuklären. Stattdessen reichte sie mir die glänzende Schale. „Kannst du die Schnipsel bitte da reintun?“ Danach halfen wir ihr aus dem Bett und zum Balkon, wo ich die Schale auf einem kleinen Tisch abstellte. Mia fummelte ein Feuerzeug aus dem hellbraunen Lederbeutel, den sie um den Hals trug, hob den Deckel ab und warf die Drahtspirale zum Papier. Dann zündete sie das Ganze an. Zögerlich fingen die Schnipsel Feuer und krümmten sich zusammen, als würden sie den Bauch einziehen, um der Hitze zu entgehen. Sie loderten kurz und heftig auf und sanken schließlich zu einem schwarzgrauen Aschehäufchen zusammen, von dem der stramme Nordwestwind von Zeit zu Zeit eine Prise mitnahm. Zuletzt war nur noch die rußgeschwärzte Spirale übrig. Ich fühlte mich wie auf einer Beerdigung.
„So“, sagte Mia. „Das war das.“ Dabei wischte sie sich etwas Feuchtes aus den Augen und verschmierte es über die Wangen, die inzwischen einen etwas lebendigeren Farbton angenommen hatten. „Igel hat mir erzählt, dass du das warst, die vor zehn Tagen in das Loch in den Dünen gefallen ist und so den Hinterausgang von meinem Bunker entdeckt hat“, sagte sie, als sie wieder in ihrem Bett saß.
„Stimmt. Danach haben sie mir die gleichen Krücken verpasst wie dir. Nur in Blau.“ Mia wandte den Kopf. Ein Paar Krücken mit gelben Griffen lehnte am Kopfende ihres Betts.
„Ich kann Gelb nicht ausstehen“, sagte sie.
„Ich auch nicht.“ Ich sog meine Lippen nach innen. Das war die Gelegenheit, Mia endlich die Frage zu stellen, die mich so lange beschäftigt hatte. „Was waren das eigentlich für Schüsse, die ich damals gehört habe? Waren die Kerle da auch schon hinter dir her?“
„Nee.“ Mia grinste. „Das war ich selbst. Mit dem Luftgewehr von meinem kleinen Bruder. Da war ’ne fremde Ratte im Bunker, die Muffin gebissen hatte und sich an unserem Proviant vergreifen wollte.“
„Und ich dachte schon, da liegt ’ne Leiche.“
„Das hätten die gern gehabt.“
„Warum denn? Warum wollten sie dich loswerden?“
Mia seufzte und ließ sich in ihr Kissen auf dem schräg gestellten Kopfende sinken.
„Ich hatte etwas gehört, was ich nicht hören sollte. Nach meinem letzten Anfall. Ich lag in der Notaufnahme von dem Krankenhaus, in dem meine Mutter arbeitet. Meine Mutter war bei mir – und einer von den Typen. Der ist ein Kollege von ihr. War …“, fügte sie hinzu, griff sich ihren Hasen und begann, seine langen Ohren zu kneten. „Keiner hatte gemerkt, dass ich wieder bei Bewusstsein war. Die zwei haben gestritten. ‚Wenn du nicht mitspielst, Susanne, dann erfährt die Kleine hier, wer ihr wahrer Vater ist‘, hat der Glatzkopf gesagt.“ Mias Stimme war ganz heiser geworden. Und Tick hatte einen knallharten Knoten im Ohr. „Sie haben sie erpresst. Zu irgendwelchen krummen Medikamenten-Deals. Mama half, sie zu klauen, und die Kerle haben sie meistbietend weiterverkauft.“
„Drogenhandel.“ Jan pfiff durch die Zähne.
„Und dein Vater ist nicht dein Vater?“ Gebannt von Mias Geschichte nahm ich mir eine Miesmuschel aus dem Schoko-Karton.
„Für mich war er immer mein Vater. Und ich war seine Tochter.“ Mia schniefte. „Als Mama gestern da war, hat sie mir alles erzählt. Wie es damals wirklich war. Achim wusste von Anfang an, dass er nicht mein Erzeuger ist. Er hat meiner Mutter geholfen, als sie schwanger war und verzweifelt, weil die Affäre mit diesem Oberarzt zu Ende war und der nichts von mir wissen wollte. Sie wusste nicht, ob sie mich behalten sollte oder nicht. Sie hatte Angst vor einem Leben allein mit Kind. Angst, dass sie es nicht schaffen würde. Im Grunde verdanke ich Achim, dass ich überhaupt da bin.“
„Und der Glatzkopf wusste das alles auch?“
„Ja, er ist selber Arzt. Anästhesist und war früher mit dem Mann befreundet, der nicht mein Vater sein wollte.“
„Und woher wussten die beiden, wo du steckst, nachdem du verschwunden warst?“
„Ich hatte Mama einen Zettel hinterlassen. ‚Such mich nicht‘, stand drauf. ‚Ich weiß alles.‘“ Mia kratzte sich ausgiebig am Rand ihres Gipsbeins. „Den hat sie natürlich nicht der Polizei gezeigt, als sie mich vermisst gemeldet hat. Sie hatte Angst, sich dadurch selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Und beim Suchen geholfen hätte der Zettel auch nicht.“
„Aber die zwei Typen …“, warf Jan ein. Er saß auf dem anderen Stuhl, die Ellbogen auf seinen Knien, und lauschte ebenso gebannt wie ich.
„Die Polizei hat zu Hause alles nach meinem Notebook durchsucht. In der Hoffnung, vielleicht dort einen Hinweis auf meinen Verbleib zu finden. Aber das hatte ich gründlich versteckt, damit sie nicht Igels Bunker-Website finden würden.“ Mia musste lächeln. „Im Vogelhäuschen auf dem Dachboden. Das hat Achim selbst gebaut und er holt es immer nur vorm Winter runter. Ich hab die komplette Ladung Vogelfutter drübergekippt, die vom letzten Winter übrig war. Bis sie das finden würden, wäre ich schon …“ Mia vollendete ihren Satz nicht. „Jedenfalls … dieser Dösbaddel von meinem Bruder ist drüber gestolpert, auf der Suche nach seinem Indianerzelt. Dabei hat er es umgestoßen. Es regnete Vogelfutter – und dazu mein Notebook.“
„Aber …“
„Susanne war so blöd, das bei der Arbeit zu erzählen, und Glatzen-Peter und sein Kumpel waren leider schneller als die Polizei. Sie haben Susannes Auto aufgebrochen und das Notebook gestohlen. Da hat meine Mutter sie endlich angezeigt. Sie und sich selbst.“ Mia schwieg. „Noch nicht mal Achim hatte sie gesagt, dass sie jahrelang erpresst wurde.“
„Warum hat sie dir denn nicht viel früher die Wahrheit erzählt – über deinen Vater?“
„Das wollte sie immer, aber sie hatte auch immer Angst davor, wie ich reagieren würde. Außerdem hatte mein feiner Arzt-Erzeuger selber Familie und keinen Bock darauf, dass die dahinterkommen.“
„Wie, sie hat den auch noch in Schutz genommen?“
„Sie hat wohl Angst gehabt, ich geh dahin und stelle den zur Rede. Das hätte sie mir jedenfalls zugetraut. Zu Recht“, fügte Mia nach einer kurzen Pause hinzu.
„Das hätte natürlich einen Skandal verursacht in deinem Friedrichstadt“, dachte ich laut nach.
„Tja, und darauf hatte sie wohl keine Lust.“ Mia pustete eine lange Ponysträhne aus ihrer Stirn. „Irgendwann war wohl auch einfach der richtige Zeitpunkt verpasst, es mir zu sagen.“
„Hmm. Und jetzt?“
„Sie hat sich einen Anwalt genommen und hofft, dass sie mildernde Umstände kriegt, weil sie erpresst wurde. Ich hoffe, wir kommen gleichzeitig raus. Ich aus meinem Gips … und sie aus dem … Knast.“
„Mann, was für eine Geschichte.“ Jan fuhr sich mit allen zehn Fingern durch seine Locken. „Bestimmt kriegt sie nur eine Bewährungsstrafe und muss gar nicht ins Gefängnis.“ Mir fiel etwas ein.
„Sitzt Muffin noch im Bunker?“, fragte ich.
„Nein, Igel hat sie mit ihrem Lieblingsfutter rausgelockt und meinen ganzen Kram abgeholt. Und die Gemeinde List will das Bunkerloch bei den Dünen zuschütten lassen und die Falltür beim Königshafen ein für alle Mal dichtmachen.“
„Das wird Frida gar nicht gefallen“, sagte ich, als Jan und ich mit unseren Rädern über die alte Eisenbahntrasse zurückfuhren nach List. Meines sah ziemlich schrottig aus und hatte nur drei Gänge, aber auf die Dauer war es einfach unpraktisch, nicht selbst mobil zu sein. Tags zuvor war mir das Teil sozusagen zugelaufen. Beim Königshafen, wo es ganz offensichtlich herrenlos an einem Gatter lehnte.
„Wieso wird das Frida nicht gefallen?“
„Sie sucht noch eine passende Wohnung für ihre Schlangenzucht auf Sylt.“
„Da wäre die Stelle bei der Falltür natürlich ideal gewesen“, grinste Jan. „Und dein geklautes Rad hättest du bei der Gelegenheit auch gleich wieder da abstellen können.“
„Geklaut? Wieso geklaut? Ich bin sicher, das hat Tante Hedi dort extra für mich geparkt.“
„Du meinst, deine Tante Hedi schaut dir vom Himmel aus zu?“
„Na sicher. Für alle Fälle. Falls mein Berliner Schutzengel mal gerade keine Zeit hat, weil er andere Leute babysitten muss.“ Mit einem wilden Schlenker wich ich einem gehbehinderten Mops aus, der mich mit seiner Leine um ein Haar zu Fall gebracht hätte.
„Du hast recht“, sagte Jan. „Kann gar nicht anders sein. Ein einziger Schutzengel ist mit dir nämlich komplett überfordert.“
Ich gab Gas.