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Ausgerüstet mit einem stabilen s-förmigen Metallhaken, den ich in Martins Survival-Kit gefunden hatte, dem Seil von Tante Hedis Gummiboje und ihrer uralten XXL-Taschenlampe aus der Besenkammer machte ich mich zwanzig Minuten später auf den Weg. Hoffentlich funktionierte die noch. Vorsorglich hatte ich die restlichen von Fridas neuen Batterien eingesteckt, doch Tante Hedis Scheinwerfer tat mir den Gefallen und leuchtete auf Knopfdruck einwandfrei.
Mein Versuch, Martin zu erreichen, hatte lediglich dazu geführt, dass es im Badezimmer klingelte, wo sein Handy neben dem Seifenspender lag. Svea konnte ich auch vergessen, da ich idiotischerweise ihre Nummer aus meiner Kontaktliste gelöscht hatte, sobald ich wieder ohne Krücken laufen konnte. Auf die Idee, dass sie natürlich auf Martins Handy gespeichert sein musste, kam ich in der Eile nicht. Blieb nur Jan. Aber klar, „der Teilnehmer ist vorübergehend nicht zu erreichen“, quäkte es in mein Ohr. „Sie haben die Möglichkeit …“ Verdammter Mist! Wahrscheinlich hatten Max und Moritz das Ding im Planschbecken auf der Terrasse versenkt.
Mir blieb nichts anderes übrig, als Martins Handy auf dem Küchentisch zu deponieren, ihm und Jan eine SMS zu schicken und zu hoffen, dass sie sie bald entdecken würden. „Frida ist im Bunker. Ich hol sie da raus“, lautete meine Message. Ich gebe zu, der Wortlaut klang deutlich cooler, als mir beim Gedanken an den Bunker zumute war.
Der Strandbus fuhr natürlich nicht mehr um diese Uhrzeit. Und Fahrrad hatte ich hier keins. Also zurück durch die Heide. Es war nicht wirklich gemütlich, nach Sonnenuntergang dort herumzulaufen, mitten zwischen den gespenstischen Büschen, die Gnomen-gleich auf der Erde hockten. Wenn doch wenigstens Jan bei mir gewesen wäre. Oder Jasper. In Martins leuchtend weißem Feinripphemd hätte er mir in der Dämmerung super den Weg weisen können. Sonnenbrand! So ein Quatsch. Aber Svea hatte die Nummer problemlos geschluckt. Ohne den Hauch eines Zweifels; schließlich war sie Fridas schräge Ideen und Aktionen gewohnt.
Blöd war Frida wirklich nicht, das musste man ihr lassen. Die Kleine hatte ihre Mutter ganz lässig ausgetrickst. Der wahre Grund dafür, dass Jasper ein weißes Hemd tragen musste, lag auf der Hand: Frida brauchte ihn als Blindenhund da unten im Dunkeln. Oder besser gesagt, als Grubenhund. Aber ob das so schlau war? Wie wollte sie ihn eigentlich alleine wieder hochkriegen? Mir wurde schlecht bei dem Gedanken. Frida war vielleicht nicht blöd, aber auf jeden Fall so leichtsinnig, dass es an Blödheit grenzte. Und vor allem hatte sie nicht die geringste Ahnung, was da unten sonst noch los war. Von den unheimlichen Geräuschen und dem mutmaßlichen Schuss, den ich gehört hatte, hatte ich ihr schließlich nichts erzählt.
Allem Anschein nach hatte sie sich ausstaffiert wie für eine Höhlenexpedition. Ihr roter Rucksack fehlte, wie ich bei einer genaueren Inspektion noch gemerkt hatte, und neben Martins Taschenlampe auch Sveas Taschenmesser, auf dessen Hülle ich neben dem Mülleimer in der Küche getreten war. Außer den Batterien hatte ich noch den Rest von einem stabilen Nylonseil entdeckt, in das ein doppelter Knoten geknüpft war, und einen Sack mit alten Wollknäueln aus Tante Hedis Beständen. Was Frida wohl damit wollte? Ein neues Hundehalsband häkeln? Oder geringelte Pampers für die Schlangenbabys?
So schnell war ich wirklich noch nie durch die Heide gestapft. Mir war zwar mulmig zumute, aber dafür war mein Adrenalinpegel extrem hoch. Kurz vorm Überschwappen sozusagen.
Dahinten lag schon die Jugendherberge. Und als ich endlich die Strandhalle erreichte, schoben sie dort gerade die Terrassenmöbel zusammen. Am Strand waren nur noch sehr vereinzelt Leute zu sehen. Möglichst unauffällig schlenderte ich hinter der letzten Strandkorbreihe vor den Dünen entlang, um diskret bei Standkorb Nummer 207 nach links zum Dünenkamm abzubiegen. Dort sprang ich mit einem Satz in die nächstgelegene Sandkuhle und duckte mich. Hatte jemand mich gesehen? Nö. Zumindest glaubte ich das. Der Strandhafer mit seinen spitzen blonden Stängeln kitzelte mich im Gesicht und an den Händen, aber niemand kam mir hinterher.
Ich sollte mich täuschen. Und mehr als ein Mal.
Ich atmete tief durch, als ich es plötzlich rascheln hörte. Wie aus dem Nichts blies mir ein warmer Hauch in den Nacken. Ich fuhr schneller herum, als sich die Härchen an meinen Unterarmen aufstellen konnten. Und dann erstarrte ich zu Eis. Hinter mir stand ein Gespenst, das mir mit glühenden Augen und schwarzen Lefzen ins Gesicht blickte. Das Gespenst bellte kurz. Dann begann es freudig mit den Winzohren zu wackeln und mich abzuschlecken. „Jasper … Jasper! Oh, Gott sei Dank. Du bist hier? Wo hast du Frida gelassen?“ Zum Glück war Frida doch so schlau gewesen, Jasper nicht in den Schacht abzuseilen. Vielleicht hatte sie ihn ja nur für den Rückweg als Unterwäsche-Model verkleidet.
Erleichtert rappelte ich mich hoch. Nach drei Minuten hatte ich mit Jaspers Hilfe die Stelle gefunden, wo ich durch die Decke des unterirdischen Stollens gebrochen war. Hätten wir damals Frida bloß gleich einen Blick hineinwerfen lassen, dann müsste ich jetzt nicht hier durch die Dämmerung schleichen. Wenigstens hatte ich nun Jasper bei mir, aber auch ich konnte ihn nicht mit nach unten nehmen.
„Warte hier auf uns, Jasper“, schärfte ich ihm ein. „Nicht weglaufen. Frida und ich sind bald wieder da.“ Folgsam legte Jasper sich neben den dicken Findling, an dem Frida nach Jans Vorbild das Seil befestigt hatte. Gut. Wie erhofft, brauchte ich das marode Tau von Tante Hedis Boje nicht zu benutzen. Ich setzte mich an den Rand der Öffnung im Boden, klemmte mir die Taschenlampe zwischen die Zähne und ließ mich Knoten für Knoten in die Tiefe hinab. Beim letzten Knoten angekommen begegnete ich auch einem von Tante Hedis Wollknäueln wieder, einem grünen, das Frida an dem nach unten hängenden Nylonseil festgebunden hatte. Der Faden der Ariadne! Nicht schlecht. Durch ihr Geschenk an Theseus hatte Ariadne dafür gesorgt, dass der sich in das Labyrinth mit dem fiesen Stiermenschen Minotaurus wagen und ihn ein für alle Mal zur Strecke bringen konnte. Diese alten griechischen Mythen haute mein Vater mir bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten um die Ohren. Ob das bei Frida auch so war? Oder hatte sie den Trick aus der Sendung mit der Maus? Egal. Ich konnte jedenfalls nur hoffen, dass kein Jungfrauen verspeisendes Ungeheuer im Bunker saß und sich schon die Lippen leckte.
Mit klammen Fingern prüfte ich, ob mein Handy noch in der Hosentasche saß, auch wenn es mir hier unten nicht viel nützen würde. Zumal wenn meine potenziellen Gesprächspartner sämtlich nicht zu erreichen waren. Entschlossen straffte ich die Schultern und umfasste den dicken Hals der Stabtaschenlampe mit beiden Händen. Und go!
Um die Ecke von da, wo ich auf der alten Armeedecke gesessen hatte, bog, wie Jan gesagt hatte, ein schnurgerader, lichtloser Gang ab. Ich ließ den scharfen Strahl der Taschenlampe an seinen nackten, schartigen Betonwänden entlanggleiten und folgte Fridas Ariadnefaden. An einigen Stellen ragte ein scharfkantiges Stück Beton in den höchstens eineinhalb Meter breiten Gang, umgeben von hellem Dünensand, der durch irgendeine Lücke gerieselt oder geweht sein musste. An anderen stolperte man über dicke Feldsteine oder Kiesel.
Das hier war mit Abstand der unheimlichste Ort, an dem ich je war. Beim Gehen hatte ich das Gefühl, der Tunnel würde immer schmaler. Die Decke und die rissigen Wände rückten mir immer näher auf die Pelle und das undurchdringliche Dunkel in meinem Rücken griff nach mir und beschleunigte meine Schritte. Wie ein Automat setzte ich einen Fuß vor den anderen und versuchte, nicht zu denken. Doch das war unmöglich. Wie spät war es? Wie lange war ich schon so gegangen? Hier drin verlor man sofort jegliches Zeitgefühl. Der Tunnel schien einen weiten Bogen zu machen und führte stetig abwärts. Hier war Frida alleine reinmarschiert? Respekt. Aber natürlich auch vollkommen bescheuert. Und dann noch, ohne jemandem einen Piep davon zu sagen. Andererseits: Hätte ich auch nicht gemacht.
Meine Ohren waren im Hab-Acht-Modus, bereit, auch noch das kleinste Geräusch aufzufangen. Aber alles, was ich hörte, war einmal das Fiepen einer Maus bei einem der hellen Sandhaufen sowie das Echo meiner eigenen Schritte, das unheimlich von den Wänden zu tropfen schien. Das grüne Wollband hatte ich vom Boden aufgehoben und ließ es durch meine Hände gleiten, bis ich schließlich mit angstschweißfeuchten Fingern einen Knoten in dem Wollfaden ertastete. Ich richtete den Lichtkegel der Taschenlampe gerade nach vorn. Irgendwie sah es aus, als würde der Gang dort in etwas anderes münden. Ich konnte nicht erkennen, was das war. Aber genau an dieser Stelle musste auch Frida innegehalten haben, um ein zweites Wollknäuel ans Ende des ersten zu knoten. Ich rieb den kleinen Knubbel zwischen meinen Fingern. Ob es noch weit war? 130 Meter Lauflänge stand auf der schwarz-weißen Banderole, die ich kurz darauf auf dem Boden fand. Ich begann, meine Schritte zu zählen.
Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen. Nach etwa hundert Metern stieß ich auf Fridas roten Rucksack, der mitten im Stollen bäuchlings auf dem Boden lag. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Was Gutes oder eher das Gegenteil? Ich bückte mich und hob ihn auf. Im Schneckentempo schlich ich weiter. Kurz darauf knickte der Gang leicht nach rechts ab und verbreiterte sich zu einem etwa vier mal fünf Meter großen Raum, dessen niedrige Decke ich problemlos mit der Hand berühren konnte. Sie war eiskalt.
Der Raum schien leer bis auf eine Ecke, in der sich eine seltsame Ansammlung von Gegenständen häufte. Auf einer Unterlage aus mehreren großen Pappen, die offensichtlich aus zerlegten Supermarktkartons hervorgegangen waren, lag ein dunkler Daunenschlafsack, dessen Kunststoffoberfläche im Schein der Taschenlampe glänzte. Daneben stand eine noch heile Obstkiste aus Pappe, in der sich ein dichtes Wooling aus Schiffstauen unterschiedlicher Dicke und Länge ringelte. Obendrauf lagen eine aufgerissene Tüte mit Fast-Food-Resten und eine weiße Parfumflasche mit orangefarbener Schrift. Auf einem Stück Beton ruhte eine dicke pistazienfarbene Kerze mit drei Dochten, wie sie bei Tchibo in Westerland herumstanden. Ein grüner Trekkingrucksack lehnte an der Wand beim Kopfende des Schlafsacks. An dessen Fußende war ein DIN-A4-Karoblock zu Boden gerutscht, der eng mit krakeligen Buchstaben beschrieben schien und teilweise von einer dicken roten Wollsocke bedeckt wurde.
Was war das? Wohnte hier etwa jemand? In dieser Gruft? Und wenn ja, wo hielt der sich jetzt auf? Ganz in der Nähe vielleicht? Mir wurde kalt bei dem Gedanken, nicht nur wegen Frida. Wer immer hier freiwillig hauste, schien einen guten Grund zu haben, sich zu verbergen. Und was war überhaupt mit dem Schuss von neulich? Saß Frida am Ende irgendwo neben einer Leiche? Mein Blick fiel auf die Fresstüte. Eher nicht. Tote essen schließlich kein Fast Food.
Ich schnüffelte, aber außer Feuchtigkeit und Moder roch ich nichts, jedenfalls keine Spur von Verwesung. Ich wünschte, Jasper wäre bei mir. Bei uns. Aber wo zum Teufel steckte Frida? Irgendwo in diesen unterirdischen Gefilden musste sie sich doch aufhalten. Ich konnte unmöglich die einzige lebende Kreatur hier sein. An der Stelle fiel mir dämlicherweise wieder Gollum ein. Mir schauderte.
In der Ecke schräg gegenüber dem Schlafsacklager war eine Öffnung in der Wand. Der Gang, dem Frida bis dahin gefolgt war, ging offenbar dort weiter. Ob der etwa zu der Falltür beim Königshafen führte? Mir schien nichts anderes übrig zu bleiben, als weiterzusuchen – und womöglich demjenigen zu begegnen, der sich an diesem unwirtlichen Ort versteckte. Am Ende lauerte der nur darauf, dass ihm unverhofft junge Mädchen ins Netz gingen.
„Verdammt, Frida“, schimpfte ich leise. „Verdammt! Was mache ich hier eigentlich? Musste das wirklich sein?“ Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als ein schwaches Geräusch mich zusammenfahren ließ. Kam das aus dem zweiten Gang? Im selben Moment sah ich aus dem Augenwinkel, wie sich im Schlafsack etwas zu regen begann. Gleichzeitig löste sich in Zeitlupe der grüne Trekkingrucksack von der Wand und kippte nach vorn auf den Schlafsack. Und auf das, was sich darin bewegt hatte.
„Hey“, sagte eine erstickte Stimme. „Hey, was soll das?“ Hinter dem Schlafsack glitt langsam ein langes Stück Metall zu Boden, das mit einem dunklen Klirren auf einen Stein schlug. Es war ein Gewehr, und dieses Gewehr in Kombination mit der Stimme aus dem Schlafsack war zu viel für meine Nerven. Ich schnellte herum, ließ den Rest der grünen Wolle fallen, den ich in der Hand hielt, und lief panisch Richtung Loch zurück. Meine Taschenlampe warf hektische Flecken an die Betonwände. Jetzt bloß nicht stolpern oder an den Betonabbrüchen hängen bleiben, die drohend in den Gang ragten.
„Fanny!!! Bleib stehen, Fanny! Ich bin’s doch bloß“, schrie da eine mir wohlvertraute Stimme hinter mir her. Ich strauchelte und kam atemlos zum Stehen. Als ich es endlich schaffte, mich umzudrehen, erblickte ich eine völlig verwuschelte Frida, die mir ihren dreckigen Zeigefinger entgegenstreckte. „Du hast so unheimliche Geräusche gemacht in dem Gang“, sagte sie vorwurfsvoll. „Da hab ich mich versteckt.“
„Aha“, sagte ich und zählte langsam bis zehn, bis mein tief in die Hose gerutschtes Herz wieder halbwegs an Ort und Stelle saß. Und mein Impuls verflogen war, Frida auf der Stelle eine zu scheuern. „Da kannst du ja froh sein, dass ich es bin, die dich überraschend hier unten besucht.“ Ich holte Luft. „Sag mal, tickst du eigentlich noch ganz klar, alleine hier abzutauchen?“
„Aber ich wollte doch nur …“, fing Frida an.
„Ist schon klar, was du wolltest.“ Ich war wirklich sauer. „Mann, Frida, das ist hier kein Abenteuerspielplatz. Wie konntest du einfach allein hier reinmarschieren, ohne irgendwem Bescheid zu sagen? Svea ist schon ganz verrückt vor Sorge.“
„Ist ja schon gut“, erwiderte Frida, jetzt doch etwas kleinlaut. „Aber ich fand das einfach gemein von dir und Jan. Dass ihr den ganzen Spaß alleine haben solltet, obwohl ich es war, die dich damals gerettet hat. Ich bin schließlich kein Kleinkind mehr. Und auch kein Weichei. Außerdem wollte ich gar nicht so lange hier unten bleiben, aber …“
„Das hat auch kein Mensch behauptet“, unterbrach ich sie schroff. „Los, komm jetzt mit. Mir reicht’s hier für heute.“
„Aber“, Frida schälte sich aus dem fremden Schlafsack und sprang auf, „ich musste noch mal hierher zurück, weil ich meinen Rucksack vergessen hatte. Dabei war ich schon fast wieder bei meinem Seil. Dann hab ich mich beim Schlafsack noch mal kurz ausgeruht und bin wohl eingeschlafen.“
„Eingeschlafen! Hier unten! Na, du hast Nerven.“
„Wie Drahtseile“, strahlte Frida. „Sagt Mama auch immer.“
„Und warum lag dann dein Rucksack mitten im Gang, als wärst du in Panik vor irgendwas geflohen?“, fragte ich und warf ihn ihr zu.
„Na, deinetwegen. Weil du doch so gruselige Geräusche gemacht hast.“ Nachdenklich rieb Frida sich das Ohrläppchen. „Da waren übrigens noch mehr Töne“, erklärte sie plötzlich. „Ganz vorhin. Und nicht von da, wo du hergekommen bist.“ Sie schob sich ihre Wuselhaare aus dem Gesicht. „Die kamen von der anderen Seite.“
„Aus dem Gang da?“ Frida nickte.
„Das waren dann wohl Jan und ich. Wahrscheinlich jedenfalls. Wir haben einen zweiten Eingang entdeckt. ’ne Falltür beim Königshafen. Die Metalltür am Ende der Stufen nach unten hat tierisch laut geknallt von dem Luftzug, als wir die Falltür wieder zugemacht haben.“ Von dem Typen, den wir bei der Falltür gesehen hatten, erwähnte ich nichts.
„Einen zweiten Eingang? Wow!“ Frida klang schon wieder unternehmungslustig. „Gehen wir da jetzt raus?“, fragte sie, während sie sich in ihren Rucksack wurstelte. „Ich meine, zeigst du mir den?“
„Eher nicht“, erwiderte ich ärgerlich. „Oder hast du etwa immer noch nicht genug? Die Person, die hier wohnt, scheint den Vordereingang zu bevorzugen. Ich hab nicht die geringste Lust, ihr dort über den Weg zu laufen. Außerdem wartet Jasper am anderen Ende auf uns. Schon vergessen?“ Frida machte ein beleidigtes Gesicht, schnappte sich ihre Taschenlampe und lief mir voraus.
Ich atmete erst wieder auf, als wir endlich das Knotenseil erreicht hatten und Frida flink wie ein Äffchen vor mir hochkletterte.
Aber zu früh. Ich hatte zu früh aufgeatmet. Nicht Jasper wartete neben dem Findling auf uns, sondern jemand ganz anderes. Jemand, der mir vom Strand aus gefolgt sein musste. „Aua!“ Als Frida halb aus dem Loch heraus war, wurde sie brutal an den Schultern gepackt und zu Boden geworfen. Ich zuckte zurück, als hätte mich ein Stromschlag getroffen.
„Was hast du hier zu suchen?“ Reflexartig konnte ich gerade noch meinen Kopf zurückziehen und mich auf einem der Knoten unter dem Rand der Öffnung zusammenducken. War das die Person, die da unten ihr Lager hatte?
„Hey. Du tust mir weh.“ Am Seil baumelnd linste ich vorsichtig hinaus. Frida blinzelte in das kalte Licht einer LED-Leuchte. Der Kerl stand zum Glück mit dem Rücken zu mir. Mein Blick wanderte nach oben, von seinen dreckigen Timberlands mit den offenen Schnürsenkeln, von denen einer aussah wie abgebissen, über die enge schwarze Jeans und die dunkle ledern schimmernde Jacke. Jasper! Wo, verdammt, war dieser Hund, wenn man ihn brauchte? So wie jetzt zum Beispiel.
Vor Frida stand eine dünne Gestalt, nicht sehr groß und das Haar unter einer Kapuze verborgen. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber auf ihrer Schulter bewegte sich etwas. In dem winzigen Rest von Tageslicht glaubte ich einen schuppigen Schwanz vor mir zu sehen.
„Wer bist du?“, fragte Frida jetzt forsch.
„Das wüsste ich selbst gern“, bekam sie zur Antwort. „Aber selbst wenn ich’s wüsste: Das geht dich nichts an.“ Die Stimme war rau. Und jung, Aber ich hätte nicht sagen können, ob sie einem Mann gehörte oder einer Frau. „So. Genug Luft geschnappt jetzt, runter mit dir“, herrschte die Stimme.
„Was?“
„Bist du taub? Du verschwindest jetzt wieder dahin, wo du hergekommen bist. Eine Etage tiefer.“
„Aber …“, protestierte Frida zaghaft, doch der oder die Unbekannte machte drohend einen Schritt auf sie zu. Sand knirschte unter schweren Schuhen.
„Mach schon, ich hab nicht ewig Zeit.“
Ich offenbar auch nicht. Fridas dünne Beine mit den pinken Chucks tauchten in dem Loch auf, das sie gerade erst verlassen hatte, und angelten nach dem Nylonseil. Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich nach unten ablassen und in einer Nische hinter einem Mauervorsprung verbergen. Sekunden später landete Frida wieder auf der Armeedecke unten im Schacht. Die Taschenlampe zitterte in ihrer Hand. Wenigstens war sie nicht einfach in das Loch zurückgeschubst worden, sondern durfte Knoten für Knoten hinunterklettern.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Frida mich an, als der zitternde Lichtkegel ihrer Lampe mich traf. Ich legte meinen Finger vor den Mund zum Zeichen, dass sie mein Versteck nicht preisgeben sollte. Ich durfte nicht auch noch geschnappt werden. Auf gar keinen Fall. Das war unsere einzige Chance, hier je wieder rauszukommen. Der Kerl da oben ahnte nicht, dass wir zu zweit waren.
Einen Atemzug danach konnte ich nur noch zusehen, wie die schlanke dunkle Gestalt lässig auf den Boden sprang, Frida an der Schulter packte und sie vor sich her ins Innere des Bunkers schob. „Wir beide machen jetzt einen kleinen Spaziergang“, sagte sie. „Dann sehen wir weiter.“
Frida fing an zu weinen.
April, April. Geht gar nicht. Ich kann mich dir nicht als Mail schicken, sondern muss zu archaischen Kulturtechniken wie Schreiber und Papier greifen. Hab natürlich kein Internet hier unten. Und ins Internet-Café kann ich nicht so einfach. Keinen Bock darauf, dass mich jemand erkennt. Aber die Gedanken sind frei. Leider. Dabei würde ich die wirklich gern einsperren. Und anbinden, in der hintersten Ecke meiner Gehirnwindungen an die Abteilung für Gefühle und dann knebeln, bis es sie würgt. Sie sollen die Klappe halten und nicht pausenlos mit ihren Monstrositäten auf mich einstürmen. Wieso gibt es eigentlich keinen Aus-Knopf für dieses mörderische Karussell im Kopf? Irgendwann muss doch mal Ruhe sein.
Kennst du das? Ich bin sicher, du kennst es.