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„Sag mal, Martin“, fragte ich so beiläufig wie möglich beim Abendessen, für das ich mich nach unten begeben hatte, „hast du schon mal was vom Lister Urwald gehört?“
„Klar hab ich das. Den habe ich zusammen mit der Dorfjugend unsicher gemacht. Früher, als ich in den Sommerferien bei Tante Hedi zu Besuch war. Liegt ganz hier in der Nähe.“
„Und wie sieht es da aus?“
„Nach grüner Hölle“, sagte Martin und riss die Augen hinter seinen Brillengläsern auf. „Schuhuu, Schuhuu … Meterhohe Urwaldriesen, die von Lianen überwuchert sind, glucksende Mangrovensümpfe und jede Menge wilder Tiere und Monsterspinnen, die sich im dichten Unterholz tummeln.“ Er hatte ein todernstes Gesicht aufgesetzt.
„Und gelegentlich kommt ein Mammut des Wegs und macht vorwitzigen Archäologen Beine“, sagte Svea trocken und angelte sich noch einen Matjes von dem Teller in der Mitte.
„Genau.“ Martin grinste. „Der Lister Urwald heißt so, weil er im Vergleich zur übrigen Heide- und Dünenlandschaft geradezu ein Dickicht ist, vor allem jetzt im Sommer. Eigentlich ist es nur ein kleiner Laubwald am Ortsrand Richtung Königshafen.“
„Gibt es da Gebäude drin?“, fragte ich.
„Vielleicht den einen oder anderen Schuppen. Und den Rest von einem Luftschutzraum, glaube ich.“ Dabei zog er die Augenbrauen hoch und blickte mir über den Rand seiner Brille tief in die Augen. „So genau weiß ich das nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass das Gelände nicht gerade krückentauglich ist. Vielleicht solltest du mit einem Besuch warten, bis du wieder ohne gehen kannst.“
„Na, das kann dauern“, erwiderte ich muffig.
Susanne? Bist du wach? Kannst du genauso schlecht schlafen wie ich? Sorry, aber selber schuld. Im Gegensatz zu mir. Ich bin nicht selber schuld, aber ich kann trotzdem nicht schlafen. Verdammt unfair, oder?
Weißt du was? Ich hab überhaupt keine Lust, mit dir zu reden. Aber ich kann nicht damit aufhören. Jede Nacht sitze ich mit dir in der Küche oder auf meinem Bett unter dem Glasscherben-Mobile, das du mir zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hast. Manchmal auch im Garten unterm Apfelbaum und ich rede, rede, rede mit dir. Aber ich kriege keine Antwort.
ICH WILL ENDLICH EINE ANTWORT VON DIR. BITTE …
Unter dem Vorwand, frischen Lesestoff zu benötigen, ließ ich mich von Martin am nächsten Vormittag zur Lister Bücherhalle fahren. „Kann ein bisschen dauern“, sagte ich zu ihm, als er mich an dem Plattenweg absetzte, der zur Eingangstür führte, und dort auf mich warten wollte. „Vielleicht kannst du mich in einer Stunde abholen?“
„Okay“, sagte er, erstaunt über meinen vermeintlichen literarischen Eifer. „Geht klar.“ Ich blickte ihm nach, bis er mit dem Jeep um die Ecke verschwunden war. Dann drehte ich mich um und humpelte Richtung Eingang.
„Geöffnet: mittwochs 15.30–18.30 Uhr“, stand in aufgeklebten Folienbuchstaben an der Glastür, was ich erst bemerkte, als sie sich partout nicht öffnen ließ. Mist, damit hatte ich nicht gerechnet und heute war natürlich Donnerstag. Am liebsten hätte ich der Tür einen Tritt versetzt, bloß mit welchem Bein? Das eine war schon verletzt und das andere brauchte ich, um darauf zu stehen. Aber wozu hatte ich schließlich meine Krücken … Tja, bis nächste Woche dann, Herr Voigt, falls es dich hier überhaupt gibt.
Ich drehte mich um, hoppelte zur Straße zurück und ließ mich umständlich auf dem niedrigen Metallzaun nieder, der das Gelände einrahmte. Großartig. Martin war weg und ich konnte mich jetzt entweder zu Fuß auf den Heimweg machen oder ihn gleich wieder anrufen. Ich entschied mich für anrufen, aber es war nur die Mailbox dran. „Der gewünschte Teilnehmer ist …“, äffte ich die Frauenstimme nach, die mit aufreizender Sachlichkeit in mein Ohr blökte, und würgte sie ab. Wahrscheinlich lag Martins Handy noch neben dem Bett, wo es als Wecker Dienst tat. Oder es steckte in einer Jacke, die er gerade nicht anhatte.
Drei Minuten lang hackte ich mit meiner Krücke auf einem Fetzen Kaugummipapier herum, der auf dem Gehweg lag. Dann beschloss ich widerwillig, Svea anzurufen. Nach meinem Bunker-Unfall hatte sie mir ihre Handynummer gegeben. „Sicherheitshalber“, wie sie sagte.
Beinahe hätte ich es übersehen, als ich mich zum Buchstaben S auf meinem Display durchfummelte. Doch mein Unterbewusstsein schrie „Stopp. Zurück!“, als ich gerade bei „Svea“ angelangt war. Eine Zehntelsekunde später fokussierten sich meine Augen auf einen Eintrag, der mir komplett unbekannt war. Unmittelbar vor Svea stand: Schwimmkurs Jan. Und die dazugehörige Mobilnummer lautete 0172/611… Grins. Da hatte sich dieser Kerl doch glatt erlaubt, seine Nummer in mein Handy zu tackern, während ich quasi schockgefrostet im Bunker saß. Ganz schön dreist. Aber auch irgendwie süß.
Während ich noch darüber nachdachte, ob ich ihm vielleicht eine kleine SMS schicken sollte – „Seepferdchen sucht Schwimmflügel“ – oder so, bremste dicht vor meinen Füßen ein Fahrrad scharf ab. „Mann, geht’s noch?“ Mit gerunzelter Stirn blickte ich auf, um den Fahrer zusammenzufalten. Aber das Wort blieb mir im Hals stecken, was relativ selten vorkommt.
„Statt Rollator?“, frotzelte Jan, ganz ungewohnt in Jeans und Sweatshirt, und stupste mit dem Vorderreifen eine der Krücken an, die vom Geländer gerutscht war. „Eigentlich wollte ich dir nur das Schwimmen beibringen. Aber wie’s aussieht, musst du erst mal wieder laufen lernen.“
„Ja“, sagte das Seepferdchen und ärgerte sich, weil ihm so schnell keine geistreichere Antwort einfiel.
„Was machst du denn hier? Arglosen Passanten mit deinen Krücken ein Bein stellen? Oder bist du auf der Suche nach einem neuen Loch, in das du fallen könntest?“
„Sehr komisch. Ich wollte mir ein Buch ausleihen, aber diese blöde Bücherei hat nur an einem einzigen Tag in der Woche geöffnet. Und der war gestern.“
„Soll ich dich zur Alten Tonnenhalle am Hafen bringen? Vielleicht findest du dort was im Buchladen.“
„Nein, ich such was ganz Bestimmtes. Über Sylt. Das haben die nicht.“
„Na, klar haben die das. Da liegen stapelweise Syltbücher rum.“
„Aber mein Buch ist von 1992. Und schon lange vergriffen.“
„Und warum willst du so einen alten Schinken lesen?“
„Weil … weil …“ Ich kämpfte mit mir. Sollte ich ihm von den unheimlichen Geräuschen im Bunker erzählen auf die Gefahr hin, dass er mich für leicht gestört halten würde?
„Weil?“ Sein eines Grübchen lächelte mich fragend an.
„Weil ich wissen möchte, ob dieser Bunker unter den Dünen noch einen zweiten Ausgang oder vielmehr Eingang hat. Und wenn ja, wo der liegt.“
„Das Gemäuer, aus dem ich dich gezogen habe, soll ein alter Bunker gewesen sein?“
„Ja, sagt jedenfalls mein Vater. Und die meterdicken Betonmauern sprechen auch dafür.“
„Wow.“
„Außerdem: Diese Muffdecke, auf der ich gesessen habe, hatte so einen Rest von einem rötlichen Emblem in einer Ecke. Vielleicht ein Hakenkreuz.“
„Krass.“ Jan stieg vom Rad und setzte sich neben mich auf die Metallstange. Ich erzählte ihm, was mein Vater mir erklärt hatte. Von der Invasion, die dann woanders stattfand. Und von den labyrinthartigen Bunkeranlagen, mit denen im Zweiten Weltkrieg halb Sylt untertunnelt war. Von den mysteriösen Internet-Seiten erzählte ich erst mal noch nichts. Auch nicht von dem Schuss unter Tage.
„Ich bin im Internet auf dieses Buch gestoßen. ‚Die Festung Sylt‘. Da soll was über die Bunker drinstehen. Aber jetzt komm ich da nicht ran bis nächsten Mittwoch.“
„Aber wieso ist das denn so wichtig, ob das Ding noch einen zweiten Eingang hat? Oder Ausgang. Hast du die Absicht, noch mal reinzufallen? Und dann zu gucken, ob du alleine wieder rauskommst? So ’ne Art Survival-Training?“
„Quatsch.“ Ich kämpfte mit mir. „Du hast doch selbst gesagt, dass da ein unterirdischer Gang abging. Richtung Wanderdüne.“
„Mhmm.“
„Als ich da unten in dem Loch saß, hab ich Geräusche gehört.“
„Was für Geräusche?“
„Wie eine Art Echo von etwas.“
„Und von was genau?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin wohl eingedöst und von den Geräuschen wieder aufgewacht. Aber ich war so neben mir, dass ich sie nicht richtig einordnen konnte. Es klang wie ein Schaben. Als würde was am Boden oder an der Wand längsrutschen. Und dann …“
„Und dann?“
„… war da was wie ein Schuss“, sagte ich leise.
„Und du bist sicher, dass du das nicht geträumt hast?“, fragte Jan vorsichtig.
„Das hab ich mir gedacht“, fauchte ich, griff mir die rechte Krücke und mühte mich aufzustehen. „Dass du mir nicht glaubst.“
„Ich glaub dir ja“, sagte Jan und zog mich wieder runter. „Aber du musst zugeben, dass du es genauso gut geträumt haben könntest. Du hast doch selbst gesagt, du warst eingeschlafen.“
„Nur ein bisschen.“ Ich schob mir eine Haarsträhne hinters Ohr und sah ihn an. „Aber Jasper hat nicht geschlafen. Er hat geknurrt. Ganz leise, als sei ihm unheimlich zumute. Als sei da was Gefährliches, Fremdes, vor dem er sich nicht outen wollte. Deshalb weiß ich hundertprozentig, dass ich nicht geträumt habe. Er hat es auch gehört. Und seine Haare haben sich dabei aufgestellt.“
„Da kann ich ja froh sein, dass du mir das erst jetzt erzählst“, sagte Jan, „und nicht schon, als ich bei dir im Bunker war.“ Um seine Mundwinkel zuckte es. „Sonst hätte ich dich womöglich da unten deinem Schicksal überlassen müssen.“ Ich starrte ihn an. Hatte ich das gerade richtig verstanden? „Hey, Fanny, das war’n Scherz“, grinste er da. „Aber jetzt im Ernst: Meine Taschenlampe hatte keine große Reichweite, aber das Stück von dem Gang, das ich sehen konnte, war okay. Keine mordlüsternen Augen, die mich aus der Dunkelheit anglotzten oder so.“
Jetzt stellten sich mir die Nackenhaare auf, und die an den Unterarmen, obwohl ich mitten am Tag vor einem unverdächtigen Gebäude auf einem Zaun saß. „Ich finde das nicht komisch“, sagte ich. „Wer weiß, was da unten los ist.“ Jan blickte mich skeptisch an. „Sobald ich diese Dinger los bin“, mit meiner rechten Krücke fuchtelte ich in der Luft herum, „geh ich jedenfalls in den Lister Urwald. Dort gibt es einen alten Luftschutzraum, sagt mein Vater. Vielleicht ist das ja der Eingang zur Unterwelt.“
„Wo ist das?“, fragte Jan.
„Muss ich auch noch rauskriegen“, erwiderte ich. Dann nahm ich mitsamt den Krücken auf seinem Gepäckträger Platz und wir fuhren zum Hafen. Eis essen. Und reden. Das war viel besser, als über muffige Bunker zu recherchieren.
Anschließend brachte er mich zur Bücherei zurück, wo Martin mich pünktlich wie vereinbart abholte. Die Ferien waren eigentlich doch gar nicht so schlecht …