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Das Bild, das sich mir am Morgen bot, als ich Tante Hedis Blümchentuch von meinem Fuß wickelte, erinnerte an eine der depressiveren Varianten von Monets Seerosen. Das Lila hatte sich großflächig ins Dunkelgrüne verflüchtigt und war nur noch in vereinzelten Tupfern zu erkennen. Die Schwellung schien leicht zurückgegangen, aber ich zog es trotzdem vor, wieder in meine Shorts zu steigen statt in irgendwas Langbeiniges. Obwohl der Himmel heute dunkel verhangen war, sodass mir die Sonne von gestern nachträglich wie eine Fata Morgana vorkam. Hatte ich etwa den letzten schönen Tag der Ferien unter der Erde verbracht? So ein Schiet. Den heutigen würde ich zumindest teilweise in der Notaufnahme des Krankenhauses verbringen, davon konnte ich schon mal ausgehen. Dr. Lessings Praxis hatte nämlich heute keine Sprechstunde.
Als ich, auf dem Rücken liegend, den obersten Knopf der Jeans schloss, fiel mir Jans „Brief“ wieder ein, dessen eine Hälfte noch in der rechten hinteren Hosentasche stecken musste. Hoffentlich war es wenigstens die aufschlussreichere von beiden. Vorsichtig fummelte ich sie heraus. „Hey, Miss Graffiti“, stand da in windschiefen Buchstaben, „habe heute schon den ganzen Strand nach dir abgesucht. Entweder bist du abgereist oder wegen Kindesmisshandlung eingebuchtet worden. Oder kannst du etwa bloß nicht schwimmen? Ich bringe es dir bei, wenn du magst. Seepferdchen-Grundkurs Montag bis Freitag von 14.00 bis 15.00 Uhr vor der …“ Dann war da nur noch der Rest einer Handynummer zu erkennen, die mit 0172 anfing. Sich die Unterschrift dazu zu denken, war kein Problem, aber viel brennender hätte mich interessiert, wie die Handynummer weiterging. Die Antwort darauf befand sich in der Tasche von Jans Badehose, was ziemlich sinnlos war, da er sie ja ohnehin kannte. Ich dagegen würde sie wohl nie zu sehen bekommen. Mist! Trotzdem hatte ich ein breites Grinsen im Gesicht, als ich auf einem Bein zur Tür hüpfte, um dann, das andere gerade nach vorne gestreckt, auf dem Po Stufe für Stufe Richtung Frühstück die Treppe hinunterzurutschen.
Was ich stattdessen eine Stunde später zu sehen bekam, das war ein Zeitungsartikel auf Seite 4 (tetra!) der Holsteinischen Post, mit der ich mir im Wartezimmer der Notaufnahme die Zeit vertrieb. Neben dem Foto einer unter ihrer Punkmähne trotzig in die Kamera blickenden 17-Jährigen mit Nasenpiercing standen zwei Spalten Text über die verschwundene Mia Sander. „Die Polizei schließt inzwischen ein Verbrechen nicht mehr aus“, lautete der letzte Satz.
Mir fiel die flapsige Vermisstenanzeige aus dem Bunker wieder ein, die ich in Gedanken für mich selbst aufgesetzt hatte. Vielleicht war Mia Sander nicht einfach nur von zu Hause abgehauen. Womöglich wurde sie irgendwo gefangen gehalten und fühlte sich so wie ich gestern. Nur dass ihr niemand half, da rauszukommen, wo sie war. Vielleicht hatte sie die Hoffnung, dass man sie finden würde, schon aufgegeben. Oder sie war bereits tot. Sie brauchte doch Medikamente. Was für welche, das hatte in dem Artikel nicht gestanden.
Ich musste an den Schuss denken, den ich in meinem Verlies unter der Erde gehört zu haben glaubte. Vielleicht sollte ich Martin ja doch … Aber wahrscheinlich würde er sich nur über meine „blühende Fantasie“ lustig machen.
Einmal Röntgen später wusste ich, dass ich mir weder etwas gebrochen noch gerissen hatte. „Das ist eine satte Bänderdehnung im Sprunggelenk“, sagte der junge Doktor mit dem spärlichen Haarwuchs, der das an eine helle Leuchttafel geklemmte Röntgenbild interpretierte. „Damit wirst du wohl eine Weile zu tun haben, aber alles in allem hast du noch Glück gehabt.“
Glück? Und wie fühlt sich dann Pech an?
Der orthopädische Dienst im Souterrain verpasste mir eine Art hautfarbenen Stützstrumpf mit zwei Gelpads rechts und links im Fußteil, und eine Viertelstunde darauf stand ich mit zwei blauen Krücken unter den Armen vor der Drehtür der Klinik und überlegte, wie ich jetzt mit den Dingern die Treppe hinunterkommen sollte. Verdammter Mist. So hatte ich mir die Ferien nicht vorgestellt. Und das Fechtturnier in sechs Wochen konnte ich wohl auch vergessen. Martin hätte sich sein Bunkerverbot schenken können. Das hier sah ziemlich nach selbst gemachtem Hausarrest aus.
„Alles Scheiße, deine Fanny“, schrieb ich an meine Mutter in Berlin, die wahrscheinlich gerade quietschvergnügt mit Benno-Bär im Café saß oder im Bett lag und sich jünger fühlte als ich mit meiner Gehhilfe. Auf der Vorderseite der Postkarte vom Klinikkiosk war eine fette weiße Möwe zu sehen, die konzentriert einem Seestern eines seiner fünf Beine ausriss. Oder Arme. Martin warf sie für mich in den Briefkasten am Ortsausgang und den Rest des Tages textete Frida mich zu Hause zu, bis sie die Lust an meiner Einsilbigkeit verlor und sich mit meinem Florett Richtung Boje trollte. Nun konnte ich mir wenigstens in Ruhe den Kopf zerbrechen über Martins Bunker-Story.
Von einem Labyrinth hatte er gesprochen. Damit konnte er nur meinen, dass die Bunker unter der Erde miteinander verbunden waren. Wie bei einem unterirdischen Kanalsystem. Womöglich waren die Dünen und die gesamte Insel von einem regelrechten Netz von unterirdischen Gängen durchzogen. Und irgendwo musste es einen offiziellen Eingang geben. Oder mehrere. Die Vorstellung ließ mir keine Ruhe, und da mein Fuß und ich ohnehin zum Stillhalten verdammt waren, beschloss ich, die Zwangspause zu nutzen und mich virtuell auf den Weg in die Sylter Unterwelt zu machen. Mithilfe dieses anderen Netzwerks, genannt World Wide Web, das per Satellit quasi kosmischen Zugang zu Informationen versprach. Vielleicht auch zu welchen, die lange verschüttet waren.
Tante Hedi war fast achtzig, als ihr das Zilpzalpnest (so heißt dieser Piepmatz wirklich) auf der Kiefer in ihrem Garten zum Verhängnis wurde. Aber sie war eine fortschrittliche Frau gewesen und hatte sich wegen ihres Vogelfimmels mit schlappen zweiundsiebzig Jahren noch in das Thema Internet eingearbeitet. „Echt cool von dir, Hedi“, sagte ich laut, als ich, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf meinem Bett den Laptop aufklappte. „Danke.“ Es gab einen funkgesteuerten Internet-Anschluss inklusive Flatrate im Haus, sodass ich mich nicht in eins der Fremdnetze einloggen musste, die garantiert auch in der jodhaltigen Sylter Luft herumschwirrten.
„Bunker, List, Sylt“ gab ich bei Google ein, nachdem sich die Seite endlich aufgebaut hatte, und binnen Sekunden spuckte mir das World Wide Web eine Liste von 20.200 potenziellen Informationsquellen aus. Die Interessanteste war neben Wikipedia eine Website, auf deren Forum sich Bunkerfreaks aller Art über ihre neuesten, teils auf illegalem Weg erworbenen Erkenntnisse austauschten. Sie nannten sich „Der Doktor“ oder „Offiziersanwärter“ und ihr Lieblingsutensil schien der Klappspaten (KS) zu sein, mit dem sie sogenannte „Expeditionen“ zu den unterirdischen Objekten ihrer Begierde unternahmen. Dort stocherten sie dann verbotenerweise im Boden herum. Wonach eigentlich? Das wurde mir nicht ganz klar.
Ihre Chat-Einträge waren nur teilweise zugänglich und ich spielte kurz mit dem Gedanken, mich unter Pseudonym – vielleicht „Bunker-Girl“ oder „Klappspaten-Susie“ – einzuloggen, traute mich dann aber doch nicht. Wer weiß, was das für Typen waren. Am Ende würde ich auf irgend so eine Neonazi-Seite geraten. Besten Dank. Aber ihre Einträge waren auch so recht aufschlussreich. „Wachhund“ zum Beispiel berichtete von der 1,80 Meter dicken Bodenplatte eines Hörnumer Bunkers: „Boah, ey!“ „No Risk No Fun“ hatte eine Karte vom Sylter Weststrand ins Netz gestellt, auf der fünf vermeintliche Bunkerstandorte eingetragen waren, die er entdeckt zu haben glaubte. Einer davon lag ganz in der Nähe von da, wo ich abgestürzt war.
Der „Doktor“ schrieb: „Wenn du einen hast, dann hast du sie alle.“ Was meine Theorie bestätigte, dass sie durch unterirdische Gänge miteinander verbunden sein mussten. Abwechselnd schwadronierten sie über ihre Heldentaten beim Aufspüren verfallener Gemäuer und Ruinen und über ihre Klappspaten-Aktionen. Das Ganze kam mir vor wie ein Abenteuerspielplatz für große Jungs. Ich schien weit und breit das einzige weibliche Wesen zu sein, das sich in diesen Sphären tummelte. Es sei denn, der „Doktor“ war in Wirklichkeit eine Frau.
Immer wieder tauchte der Verweis auf ein ganz bestimmtes Buch auf: „Die Festung Sylt: Geschichte und Entwicklung der Insel Sylt unter militärischem Einfluss 1894–1945“ von einem gewissen Harald Voigt, einem pensionierten Lehrer, der bis zu seinem Tod im Jahr 2005 auf Sylt gelebt hatte. Das Ding stammte von 1992 und war natürlich vergriffen. Antiquarisch wurde es ab 178 Euro aufwärts gehandelt, wie ich nach diversen Recherchen feststellte, was leider den Rahmen meines Taschengelds um den Faktor 3,5 sprengte. Aber vielleicht würde es ja in der örtlichen Bibliothek zu finden sein.
Gerade wollte ich meinen Forschungstrip zu den Bunkern schon beenden, als ich auf einen Eintrag stieß, der mich elektrisierte. Er bestand aus drei Fotos. „Eingang zum Bunker im Lister Urwald“, stand da. Und: „Der Zugang ist natürlich verboten, aber möglich. Jedenfalls war er das letzten November.“
Zu sehen war auf den Schwarz-Weiß-Fotos eine schlichte rostige Metalltür in einer Graffiti-verschmierten Wand, nicht viel breiter als Tante Hedis Kellertür. Schräg davor geschraubt war eine breite Holzlatte, aber es sah aus, als sei die Tür dahinter einen Spalt weit offen. „Rein kommt ihr über …“
Den Rest kriegte ich nicht mehr mit, denn in diesem Augenblick implodierte die Seite und die Ansage „Niedriger Batteriestatus. Wechseln Sie sofort die Batterie oder stellen Sie auf externe Stromversorgung um, um Datenverlust zu verhindern“ schob sich in Polizeisirenenblau quer über den Bildschirm.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ Musste das ausgerechnet jetzt sein? Bis ich mit meinen Krücken nach unten gekrochen wäre und das Anschlusskabel gefunden und installiert hätte, wäre der angedrohte Datenverlust eingetreten und das Teil hier in aller Ruhe abgekackt. Ich knallte den Deckel zu und gab einer der Krücken einen Tritt, dass sie bis vors Fenster rutschte.