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„Mann, Moritz, lass meinen iPod in Ruhe … Ähm, ja, hallo …“

„Hallololo, du Affenpo.“

„Äh, hallo, ist da Jan?“

„Neee.“ Kicher, kicher. „Hier is Max.“

„Hallo, Max. Kann ich bitte Jan sprechen?“

„Der kann gerade nicht.“

„Maaax. Gib das her.“

„Der haut gerade meinen Bruder. Wer bist du denn?“

„Ich heiße Fanny. Gibst du mir jetzt …“

„Jan, deine Fanny-Freundin ist dran. Fanny-Janny, Fanny-Janny. Fanny-…“

„Max, verdammt, das ist mein Handy.“

„Fang mich doch, du Eierloch.“

„Fanny?“, kam es nach einigem Gerenne und Gekreische leicht atemlos an mein Ohr. „Bleib dran. Ich will nur eben diese beiden Chaoten vor die Tür setzen.“

Ich hörte, wie polternd etwas umfiel, und dann ein zweistimmiges „Menno“, gefolgt von Türenknallen.

„Uff, bist du noch dran?“

„Klingt gemütlich bei dir.“

„Allerdings. Heute sind sie besonders ätzend. Wollen wir tauschen? Ich Frida und du Max und Moritz?“

„Nein danke. Lieber einmal zehn als zweimal fünf.“

Jan lachte. „Wie geht’s deinem Fuß?“

„Die lange Tour gestern war ein bisschen viel für ihn, aber er ist jetzt nur noch hellgelb und unter dem Knöchel etwas geschwollen.“

„Du willst dich also für den Seepferdchen-Kurs bei mir anmelden.“

„Nicht ganz“, sagte ich und machte eine Kunstpause. „Ich hab das Buch.“

Funkstille. „Bist du in die Bücherhalle eingebrochen?“

„War nicht nötig, stand bei Tante Hedi im Regal. Das heißt, es lag auf dem Fußboden davor.“

„Und?“

„Bingo. Steht ’ne Menge interessantes Zeug drin und Karten gibt es auch.“

„Was für Karten?“

„Landkarten, in denen die militärischen Stellungen eingezeichnet sind.“

„Wow! Wann zeigst du’s mir?“

„Heute, falls du die beiden kleinen Monster abschütteln kannst.“

„Um vier bei der Weststrandhalle?“

„Um vier bei der Weststrandhalle.“

„Lies mal. Seite 95, linke Spalte, zweitletzter Absatz.“ Ich legte meinen sandigen Zeigefinger auf die Stelle: „Einen großen Arbeits- und Materialaufwand erforderte der Stellungsbau der 14 in den Dünen der Westküste stationierten Flak- und Seezielbatterien der Kriegsmarine, für die Geschützbettungen, Leitstände, Wohn-, Munitions-, Funk- und Maschinenbunker sowie Fundamente für die Scheinwerfer und Horchgeräte in dickwandiger Betonbauweise errichtet wurden. Daneben mussten Zuwege gebaut und zahlreiche Baracken für die Unterkunft und Versorgung der Arbeiter und Soldaten erstellt werden.“

Karte Syltkrimi

Jan und ich saßen, mit dem Rücken an einen Strandkorb gelehnt, im Sand und blätterten in Tante Hedis Buch, dessen aufschlussreichste Stellen ich mit rosa Post-it-Zetteln gekennzeichnet hatte. „Die Karte hier habe ich größer kopiert, damit sie mit meiner Wanderkarte übereinstimmt. Wenn man sie übereinanderlegt, kann man erkennen, wo genau ich abgestürzt bin und wo eventuell der Haupteingang zu meinem Bunker liegt.“

„Da kommen eigentlich nur die Batterie ‚Scheer‘ und die Batterie ‚West-Ellenbogen‘ infrage, wenn ich das hier richtig sehe.“

„Genau. Die Batterie Scheer war ein Riesen-Trumm. Schau mal, auf Seite 103 ist ein Foto davon.“ Die Batteriestellung bestand aus einem gigantischen Kreisbau mit meterdicken Betonmauern.

„Das ist ja der Wahnsinn. So ein Koloss. Und das soll hier alles immer noch herumliegen?“

„Sieht so aus. Herr Voigt schreibt aber, die Stellung sei nie mit Geschützen bestückt worden. Und dass hier beim Königshafen, nördlich der Wanderdüne, noch zwei leichte Flakstellungen waren. Vielleicht gibt es da eine Verbindung, die nicht gesprengt wurde. Die beiden Standorte liegen jedenfalls höchstens ein paar hundert Meter auseinander, wenn ich den Maßstab hier richtig interpretiere.“

„Komm, das sehen wir uns an.“ Jan sprang auf und reichte mir die Hand, um mich nach oben zu ziehen. Er hielt sie einen Tick länger fest als unbedingt nötig.


Moin, moin, liebste Mami, oder ist es Nacht? Krieg ich nicht mit hier unten in meinem Bau. Bis auf meine Kerze ist es stockdunkel. Und ich bin mitten im Sommer so leichenblass wie Gollum in seiner Höhle unter der Erde. Du kennst doch Gollum, oder? Haben wir zusammen im Kino gesehen. Der Herr der Ringe, weißt du noch? Du hast dir immer die Augen zugehalten, wenn Gollum auftauchte. Und die Orks. Eigentlich hast du dir die meiste Zeit über die Augen zugehalten. Ob du mich noch wiedererkennen würdest mit meiner Gollum-Haut? Vielleicht würdest du dir ja auch vor mir die Augen zuhalten wollen.

Ich würde dich immer wiedererkennen. Blind und taub. Du riechst so gut. Jil Sander Sun. Wenn ich das rieche, fühl ich mich immer zu Hause. Soll ich dir was sagen? Ich hab ein Fläschchen davon hier. Von Douglas in Westerland. Geklaut natürlich. Solchen Luxus kann ich mir sonst nicht leisten. Ist mir bisschen peinlich, das zuzugeben, ausgerechnet vor dir, aber das ist die einzige Art, auf die ich einschlafen kann. Bisschen Sun-Light auf mein Sweatshirt, und schon eine halbe Stunde später kann ich endlich schlafen. Muffin, mein Kuscheltier, hat auch schon eine Ladung abgekriegt. Aber sein Fell ist immer noch so weiß wie Schnee.


Wir nahmen den Strandübergang an der Weststrandhalle, liefen quer über den brechend vollen Parkplatz, ließen den Abzweig zur Mautstraße Richtung Ellenbogen links liegen und folgten der Asphaltstraße nach List, bis der Königshafen querab zu uns lag. „Siehst du was?“, fragte ich, während ich die Augen mit beiden Händen gegen die Sonne abschirmte und meinen Blick über das Weideland schweifen ließ, das den Königshafen einrahmte.

„Du meinst, abgesehen von den Surfern und den Schafen?“

„Ja, irgendwas, das nach Bunkereingang aussieht.“

„Nee, nicht wirklich.“ Vor uns lag nichts als plattes Land.

„Darf man da überhaupt drauf? Es ist keine Menschenseele zu sehen.“

„Na, bei dem Wetter sind natürlich alle am Strand. Aber ich glaube, bis da vorne zu dem Zaun darf man gehen. Vom Ellenbogen aus. Hier auf unserer Seite ist womöglich wieder Vogelschutzgebiet oder Heideschutzgebiet oder Lämmer-Zoo.“ Ich musste lachen. Bis ich aus dem Augenwinkel unerwartet eine Bewegung wahrnahm. Ich hob meinen Arm und zeigte in die Richtung. „Schau mal, da. Wo kommt der denn her?“

Wie aus dem Nichts war eine hagere Gestalt aus dem Boden gewachsen, die sich hinter etwas Buschwerk an einer Art Brett zu schaffen machte. Dann fummelte sie etwas aus ihrer Jackentasche, ließ sich auf dem Brett nieder und blickte Richtung Wasser. Wir konnten nur noch ihre Knie sehen und die Füße, die seitlich neben dem Busch hervorragten.

„Sieht jedenfalls nicht nach Schaf aus“, sagte Jan, ging in die Hocke und zog mich zu sich herunter. „Und nach Surfer auch nicht.“ Wir beobachteten die Gestalt, bis sie nach fünf Minuten aufstand und zur Mautstraße hin davonging.

„Ist das ein Mann oder eine Frau?“

„Eher Mann“, sagte Jan. „Aber meine Hand würde ich nicht dafür ins Feuer legen.“ Irgendwas an dem Mann kam mir selbst aus dieser Entfernung bekannt vor. Aber noch wusste ich nicht, was oder warum.

„Wie konnte der so plötzlich da auftauchen?“, fragte ich mich laut. „Da ist doch weit und breit nichts. Noch nicht mal ein Schuppen oder ein Hügel oder so was.“ Ich stand auf und sah Jan an. „Lämmer-Zoo hin oder her, wir gehen da jetzt hin. Kommst du mit?“

„Klar, Miss Marple.“

Wir warteten, bis der oder die Unbekannte aus unserem Blickfeld verschwunden war beziehungsweise wir aus seinem, falls er sich noch einmal umdrehen würde. Ein paar Minuten später standen wir an der Stelle, wo er aufgetaucht war. Die sah zunächst ebenso nach nichts aus wie die gesamte Umgebung. Das vermeintliche Brett entpuppte sich als ein Stück Dachpappe, das auf eine alte Spanplatte genagelt und scheinbar achtlos auf den Boden geworfen worden war. Doch dann entdeckte Jan drei frisch gerauchte Zigarettenkippen auf dem Boden. „Nil“, sagte er.

„Nil?“ Als ich mich abrupt zu ihm umdrehte und einen Schritt auf ihn zumachte, blieb ich an etwas hängen, das fest im Boden zu sitzen schien. Jan fing mich gerade noch rechtzeitig auf, bevor meinen Fuß das nächste Unglück ereilen konnte, und ich kam mir vor wie im Film, wo die romantische Heldin in ihrem gerüschten Scarlett-O’Hara-Kleid dem Retter in die Arme sinkt. Nur dass ich kein Scarlett-O’Hara-Kleid anhatte, sondern eine graue Sweat-Jacke mit Kapuze aus der Jungs-Abteilung von H&M und eine abgeschrabbelte Jeans. Gut fühlte es sich trotzdem an.

„Fanny, du stürzt öfters ab als mein Laptop, und das will wirklich was heißen. Ich glaub, ich muss dich anbinden, damit dir nicht dauernd was passiert.“ Jans Gesicht war höchstens zwanzig Zentimeter von meinem entfernt und ich konnte die goldenen Sprenkel in seinen braunen Augen erkennen.

„Ich … weiß auch nicht“, stotterte ich, während ich die Balance auf meinen eigenen Beinen wiederzufinden versuchte. „Ich bin an irgendwas hängen geblieben.“ Ich bückte mich, um mir den Stein des Anstoßes näher anzusehen. Aber es war kein Stein. Es war ein beweglicher eiserner Ring, der uns zwischen den Zweigen und Büscheln von vertrocknetem Standhafer auf der Erde nicht aufgefallen war. „Was ist das denn?“

Um meine Achterbahn-Gefühle zu überspielen, untersuchte ich die Stelle mit dem Ring näher. Er war in eine Betonplatte eingelassen, etwa einen halben Quadratmeter groß und doppelt so lang wie breit. Seine eine Längskante wurde exakt von der Längsseite der Spanplatte verdeckt.

„Sieht aus wie ’ne Falltür, würde ich sagen. Aber was die mitten in der Landschaft soll, keine Ahnung.“ Wir blickten uns an.

„Dafür fällt mir nur eine Erklärung ein“, sagte ich leise.

„Mir auch.“

Jan zögerte. Dann ging er in die Knie und zog er an dem eisernen Ring. Nichts passierte. Erst als er ihn um neunzig Grad drehte, hörten wir das Knirschen von Sand, der zwischen die Fugen fiel und zwischen der Betontür und ihrer Einfassung zermahlen wurde. Sekundenbruchteile später gab die Falltür überraschend leicht nach und ließ sich nach oben öffnen. Sie gab den Blick frei auf eine schlüpfrig grüne steinerne Treppe, die zwei Meter steil in die Tiefe führte und an einer schweren rostigen Metalltür endete, die einen Spaltbreit offen stand.


Sie suchen mich, wie ich höre. Und lese. Heißt das, DU suchst mich? Geschieht dir recht. Bin ich entführt worden — oder schon tot? Sag ich dir nicht. Du sollst auch leiden. Und zwar, wenn’s geht, mehr als ich. Geht aber nicht. Geht nicht. ES KANN DIR NICHT WEHER TUN ALS MIR.

Was meinst du, soll ich dir meine Gedankenfetzen per Mail schicken? Meine zerfetzten Gefühle. Meine Bruchstücke. Oder meine Überreste? Du ahnst nicht, wie zerstört man sich fühlen kann, auch wenn die äußere Hülle — noch — intakt ist. Es wird nicht schön werden, mich zu finden. So oder so, glaub mir.