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Eineinhalb Stunden später stiegen wir zusammen mit einer Gruppe Rucksackträger und einem jungen Paar mit Buggy plus vor sich hin nölendem Inhalt in Hörnum aus dem Bus. „Wieso glaubst du eigentlich, dass das der zweite Eingang zu deinem Dünenbunker sein könnte? Der ist doch meilenweit weg“, hatte Jan mich unterwegs gefragt.

„Wenn du einen hast, dann hast du sie alle“, erwiderte ich nur. „Das hat doch der ‚Doktor‘ in diesem Forum geschrieben.“

„Denkst du im Ernst, die haben damals einunddreißig Kilometer Schacht gebuddelt?“

„Die haben noch ganz andere Sachen gebuddelt.“ Ich musste an die unterirdischen Werksanlagen für Hitlers Geheimwaffe denken, die sogenannte V2. In dem berüchtigten Konzentrationslager Mittelbau-Dora in Thüringen hatten zehntausende Zwangsarbeiter zwanzig Kilometer Stollen graben müssen, zum Teil dreißig Meter hoch, und dabei unter grausamsten Bedingungen ihr Leben gelassen. In der Schule hatten wir mal einen Film darüber gesehen und der war so grauenhaft, dass wir hinterher alle heulten. Ich finde das ja auch wichtig, darüber Bescheid zu wissen, aber es ist ganz einfach schwer zu ertragen.

Wir gingen gleich zum Strand hinunter und dann nach rechts Richtung Hörnum Odde und Sansibar. An der Südspitze waren die riesigen Beton-Tetrapoden zu einer Art Damm aufgetürmt. Eigentlich wäre ich gern dazwischen herumgeklettert, aber ich war froh, dass ich überhaupt wieder einigermaßen gehen konnte, und wollte mein lädiertes Sprunggelenk nicht aufs Spiel setzen. Zwischen den Tetrapoden waren angeschwemmte Bretter verkeilt und jede Menge Tampen in allen Stärken und Farben. Britta hatte diese Dinger immer gesammelt und schräge Wandteppiche daraus hergestellt, von denen mehrere in unserem Wohnzimmer und der Diele hängen. Es schienen noch mehr Leute auf diesem Trip zu sein, denn bei dem Teil des Damms, der wie ein Stack Richtung Nordsee hinauslief, sah ich später eine junge Frau in einer Art Armeehose zwischen den martialisch wirkenden Betonriesen umherstreifen, die versuchte, die Tampen herauszuwinden. Wenn das nicht klappte, schnitt sie sie mit einem Taschenmesser einfach ab. Irgendwie sah sie nicht aus, als wolle sie daraus Wandteppiche weben. „Ah, Scheiße“, hörte ich sie fluchen, als eine etwas höhere Welle ihre schwarzen Schnürstiefel traf und den unteren Teil des rechten Hosenbeins dunkeloliv färbte. Während sie sich nach unten beugte, um sinnloserweise die jetzt sowieso nassen Hosenbeine hochzukrempeln, wandte sie den Kopf kurz Richtung Strand. Ein dick kajalumschatteter Blick traf mich, der mich an einen hungrigen Vampir denken ließ. Sie registrierte, dass ich zusammenzuckte, grinste verschlagen und hob wie Flügel beide Arme, die Finger zu Krallen verkrampft. Dabei ließ sie ein Fauchen hören wie eine lüsterne Hyäne und fing an zu lachen, als ich eilig wegsah.

„Was war das denn?“, fragte Jan verblüfft.

„Keine Ahnung. Wohl irgendwie durchgeknallt.“

„Sieht ganz so aus.“ Schweigend stapften wir weiter durch den Sand und wichen den Wellen aus, die vereinzelt über unsere Füße zu schwappen drohten.

„Kannst du noch?“, fragte Jan, nachdem wir bereits eine Stunde an der Wasserkante nach Norden gelaufen waren.

„Geht so. Aber besser hier am Wasser längs als in dem weichen, tiefen Sand.“ Ich deutete Richtung Dünen. „Also, was Bunkerähnliches kann ich hier weit und breit nicht erkennen.“

„Ich schon“, sagte Jan. „Da vorn bei dem Bohlenaufgang liegt das Sansibar.“

„Na und?“

„Da gehen wir jetzt was trinken.“

„In dieser Promibude?“

„Ach was. Da sitzen meistens ganz normale Leute und warten darauf, dass Boris Becker reinkommt. Mit einer seiner Milchkaffee-Miezen. Oder Dieter Bohlen.“

„Haben sie die Holzstufen nach dem benannt?“

„Garantiert.“ Jan grinste. „Kommst du jetzt?“

„Na gut.“ Ich war ehrlich gesagt ganz froh, meinem Fuß eine kleine Pause gönnen zu dürfen.

„Und außerdem hab ich eine Überraschung für dich.“

„Lass mich raten: Dieter Bohlen ist da und weiht seine Treppe ein?“

„Wart’s ab.“

Wir kletterten die paar Holzstufen an den Dünen hinauf, an der kleinen Hütte vorbei, in der Sansibar-Souvenirs von der Bonbondose bis zur Magnumflasche Champagner verkauft wurden, und an der schwarzen Piratenflagge mit den gekreuzten Säbeln, die stramm im Wind wehte. Vor dem Restaurant ließen wir uns auf der Terrasse mit den großen Holztischen nieder. Eine Portion Sonne auf der Nase hätte ich jetzt gut gebrauchen können, aber der Himmel blieb trüb und man durfte bereits froh sein, dass es nicht von oben pieselte. „Ich muss mal für große Jungs“, sagte Jan, nachdem wir jeder ein kleines Alsterwasser getrunken hatten. „Kommst du mit?“

„Wie bitte? Kannst du das noch nicht alleine?“

„Doch, aber ich will dir was zeigen.“

„Auf dem Männerklo?“

„Keine Panik. Komm einfach mit.“

Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu, stand aber trotzdem auf.

„Warte hier auf mich.“ Gleich nach der gläsernen Eingangstür bog Jan rechts ab und folgte den WC-Pfeilen den schmalen Gang entlang bis zu den Toiletten, während ich mir die Zeit damit vertrieb, die XXL-Champagnerflaschen mit der Aufschrift Sansibar zu zählen, die an der rechten Wand Spalier standen. Als Jan wiederkam, nahm er mich bei der Hand und zog mich hinter sich her ins Restaurant, wo er schnurstracks auf den Tresen zusteuerte. Er sprach kurz mit der Bedienung und fünf Minuten später erschien ein junger Mann, der uns freundlich bat, ihm hinter den Tresen und die Treppe hinunter zu folgen. Was sollte das?

Unten angekommen, bogen wir links ab und standen mitten in einem Weinkeller, der bis unter die Decke mit Flaschen gefüllt war. „In diesem Raum werden die Flaschen vorgekühlt und kommen später in die Temperierkammer“, erklärte der junge Mann. „Hier herrscht eine konstante Temperatur von 17 Grad Celsius. Dort lagern die Rotweine und hier …“ Ich hörte nicht mehr zu, sondern starrte fasziniert an die wellenförmige Decke, die meterdick schien. „Insgesamt lagern hier 30.000 Flaschen“, war die letzte Information, die meine Festplatte abspeicherte. Und dann begriff ich es:

Wir befanden uns mitten in einem unterirdischen Bunker.

„Woher wusstest du das?“ Jan und ich saßen nebeneinander auf dem Asphalt an der Sansibar-Bushaltestelle und lehnten uns an das hässliche Nato-olivfarbene Plastikgehäuse.

„Na, von dieser Bunker-Website. Da steht außerdem, dass es noch mehr Bunker gibt, die erhalten sind und zu einem Restaurant oder so umfunktioniert wurden. Kennst du die Kupferkanne in Kampen?“

„Da war ich nur einmal. Im Kaffeegarten. Aber nachdem der Kellner zwanzig Minuten brauchte, um sich herabzulassen, uns auch nur die Speisekarte vorbeizubringen, hatte Britta die Nase voll und wir gingen wieder.“

„Britta?“

„Meine Mutter.“

„Lebst du sonst mit ihr zusammen?“

„Das hab ich. Bis vor ein paar Monaten. Da ist sie mit ihrem Freund nach Berlin gezogen. Prenzlauer Berg. Und mein Vater musste aufhören, in der ägyptischen Wüste Sandkörner zu zählen, und nach Deutschland zurückkehren. Meinetwegen.“

„Siehst du deine Mutter gar nicht mehr?“, fragte Jan und ich meinte eine gewisse Besorgnis aus seiner Stimme herauszuhören.

„Doch, klar. Ich besuche sie alle paar Wochen in Berlin. Sonst skypen wir. Aber nur, wenn ich gut drauf bin. Wenn’s mir blöd geht, will ich nicht, dass sie’s mir ansieht. Sonst kriegt sie ein schlechtes Gewissen und das ist einfach bloß anstrengend.“

„Kenn ich. Erst bauen sie Scheiße und dann sollst du die Scheiße auch noch absegnen. Und wenn du’s nicht tust, jammern sie dir die Ohren voll, warum sie es mit deinem Vater, Schrägstrich: Mutter, nicht mehr aushalten. Und dass du das doch verstehen musst. Sie wollen immer deine Absolution. Und wenn du gar nichts dazu sagst und einfach gehst, fangen sie an rumzuheulen.“

„Deine Eltern sind auch getrennt?“

„Gegenfrage: Kennst du noch Leute mit Familie? Mama, Papa, Kind? Zwischen zehn und achtzehn, meine ich?“

„Wenige. Irgendwie ist Patchwork heute das gängige Muster.“

„Mainstream sozusagen. Aber ich finde Patchwork einfach nur zum Kotzen“, sagte Jan.

„Ich auch, egal ob Mainstream oder nicht.“

„Nur dass du ’ne Mutter in Berlin hast, ist echt cool.“ Jan lächelte mich an und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus und schien mir bis in die Wangen zu kriechen. Offenbar tickte er ganz ähnlich wie ich. Fühlte sich gut an. Nach mehr, aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.

„Und was ist nun mit der Kupferkanne?“, fragte ich, um mich selbst abzulenken. „Ist das auch ein alter Bunker?“

„Exakt“, sagte Jan. Wir erhoben uns, als wir endlich den Bus zurück nach List um die Kurve biegen sahen. „Aber der liegt nur halb unter der Erde und war früher eine Mannschaftsbaracke. Nach dem Krieg hat ein Künstler sein Atelier in dem labyrinthartigen Gemäuer eingerichtet.“

„Mannschaftsbaracke?“

„Das heißt, dort haben Soldaten gewohnt. Oder gehaust. Keine Ahnung, wie man sich das vorstellen muss.“

„Bestimmt eher ungemütlich.“ Ich spürte wieder die kratzige alte Armeedecke an meinen Beinen und mir schauderte. „Aber wenigstens waren die nicht allein da unten.“

„Du ja vielleicht auch nicht.“

„Aber was kann da heute sein? Der Zweite Weltkrieg ist seit fast siebzig Jahren vorbei.“

„Geister.“

„Quatsch.“

„Wer weiß, vielleicht spukt da noch die Seele vom Obergefreiten Hermann herum. Oder Schütze Willi sucht in den alten Stollen seinen Stahlhelm. Den mit dem dunkelrot schimmernden Loch an der Schläfe.“

„Mann, jetzt hör schon auf. Das ist ja scheußlich.“

„Tja, dann gibt’s wohl nur eine Möglichkeit herauszufinden, wer da heutzutage rumspukt. Jedenfalls solange du den zweiten Ausgang nicht kennst.“

„Du meinst, ich soll da noch mal rein?“

„Du sollst gar nichts. Aber wenn du nicht mehr schlafen kannst, weil dich das Thema so brennend interessiert, dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig. Es sei denn …“

„Es sei denn?“

„… du treibst einen Sylter Ureinwohner auf, der als Kind womöglich in alten Bombentrichtern oder auf Bunkerschutt gespielt hat und sich in den Gängen auskennt.“

„Tante Hedi ist leider tot. Die hätte ich nach so was bestimmt fragen können. Wie’s aussieht, kannte sie jedes Vogelnest auf der Insel.“

„Soviel ich weiß, wachsen Vogelnester aber eher in Bäumen als in unterirdischen Gängen. Und es war garantiert verboten, sich dort herumzutreiben.“

„Hm.“ Ich musste an die oder den unbekannten P denken. Den von Tante Hedis Bettgestell. Der könnte mir bestimmt auch helfen, wenn er denn noch am Leben wäre. Und wenn ich wüsste, wer er war. Oder sie.


Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh? Schläfst du schon? Oder stehst du noch im OP und brauchst nicht nachzudenken? Im Gegensatz zu mir. Leider.

Aber weißt du was? Ich steh neben dir. Spürst du’s? Ich streiche dir gerade eine deiner braunen Locken aus dem Gesicht, die aus der grünen OP-Haube entwischt ist und dir schweißnass an der Schläfe klebt. Kannst du dabei noch die Haken ruhig halten? Scheißjob. Bisschen wie Schlachthof, oder? Immer in offene Wunden zu gucken. Jede Menge Gedärm, Geschwulst und Geschwür. Und überall Blut, Blut, Blut. Aber wie gesagt, ich bin an deiner Seite.

Wie fühlst du dich so am Tatort? Vielleicht sollte ich den Plural verwenden: Tatorte! Wo hast du’s denn damals mit dem Herrn Doktor getrieben? Auf dem OP-Tisch? In einem leeren Krankenzimmer, wo gerade einer frisch verstorben war? Ein neues Leben für ein vergangenes, sozusagen? Oder vielleicht in einer Petrischale — in Vorwegnahme der modernen Reproduktionsmedizin, wo bald schon mehr Kinder künstlich gezeugt werden als auf natürlichem Wege. Haha, ich bin doch echt kreativ, oder?

Ich seh schon den Bildzeitungstext unter meinem Foto: Mia S. aus der Petrischale vom Kreiskrankenhaus Husum. Aber ich wette, ich bin auf natürlichem Wege entstanden. Macht einfach mehr Spaß, was? Vor allem, wenn’s verboten ist. Schließlich hatte mein Herr Doktorvater schon einen Stall voll Kinder. Eins davon ist in der Klasse über mir. Alex. Kennst du den? Hat gerade Abi gemacht. Den fand ich mal cool, aber er mich nicht. Was für ein Glück, was? Wäre schließlich halber Inzest gewesen, obwohl wir das damals nicht wussten. Eigentlich zum Totlachen.

Nicht dass du denkst, ich heule, die Tinte hat Muffin verwischt. Ist mit nassen Pfoten drübergelatscht … Ich gönne dir keine Träne. Keine einzige, hörst du: KEINE EINZIGE …