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„Da sollte wohl mal ein Arzt draufgucken.“ Eingehend begutachtete Jan meinen von der Form her an ein kleines Tiefkühlhähnchen erinnernden linken Fuß. Das TK-Hähnchen lag bewegungslos auf der ausgezogenen Strandkorbschublade und hob sich dekorativ in allen Schattierungen von Lila vom rot-weiß gestreiften Untergrund ab.

„Sieht ganz so aus.“ Meine ausgefransten Jeans-Shorts hatte ich gerade noch über die Füße bekommen, aber an Schuhe war unter diesen Umständen nicht zu denken. „Wie kommt es eigentlich, dass du ausgerechnet Jan mitgebracht hast, um mich aus dem Loch zu retten?“, fragte ich Frida. „Jan ist ungefähr die einzige Person, die ich außer dir und meinem Lieblingsstrandkorbwärter hier kenne.“

Frida wischte sich das schweißfeucht glänzende Gesicht. Tapfer hatte sie als menschliche Krücke hergehalten, um mich zusammen mit Jan von meinem Fundort über die Düne zurück zum Strandkorb zu bugsieren. „Ich wusste nicht, dass du den kennst. Er war gerade dabei, dir einen Brief zu schreiben, als ich hierher zurückkam. Da hab ich ihn gleich als Retter engagiert.“ Sie grinste, stolz auf ihren Geniestreich, und ihre Sommersprossen glühten rötlich im Abendlicht.

„Einen Brief?“

Jan lächelte leicht verlegen, wie mir schien. „Ich hab deine Flipflops vorm Strandkorb erkannt und natürlich die Idioten-Nummer hintendrauf. Und da hab ich dir ’ne kleine Message hinterlassen.“ Jetzt sah ich das weiße Stück Papier, das unter meinen Gummilatschen klemmte, die vor mir im Sand lagen. Gleichzeitig griffen wir nach dem Papier, er ganz offensichtlich in der Absicht, es zusammenzuknüllen, und dann hatte plötzlich jeder von uns eine Hälfte davon in der Hand. Meine stopfte ich in die hintere Tasche meiner Jeans, worauf das Tiefkühl-Hähnchen schmerzhaft zusammenzuckte. „Der Text ist inzwischen überholt“, sagte Jan.

„Macht nix. Ich lese gern Geschichten, die in der Vergangenheit spielen.“

„Guck mal, da kommt Martin“, unterbrach Frida unser Geplänkel und rannte ihm entgegen. „Fanny ist in ein gaaanz tiefes Loch gefallen und ich habe sie gerettet“, rief sie ihm zu, bevor ich sie davon abhalten konnte. Na super. Eigentlich hatte ich was von „auf so ’ner blöden Bohle ausgerutscht“ erzählen wollen, um nicht erklären zu müssen, warum ich mich verbotenerweise in den Dünen aufgehalten hatte. Aber dafür war es jetzt zu spät.

„Loch“, sagte Martin. „Hier am Strand. Da wollte sich wohl jemand nach Neuseeland durchbuddeln.“

„Nein, nicht am Strand“, erklärte Frida eifrig. „Hinter der Düne. Da war so ein blöder Typ, vor dem Fanny abhauen musste. Und da …“ Am liebsten hätte ich dieser sommersprossigen Sabbeltasche den Hals umgedreht, auch wenn ich im Schacht gerade erst das Gegenteil gelobt hatte.

„Aha“, sagte Martin. „Und deshalb sitz ich mir seit einer Dreiviertelstunde an der Strandhalle den Hintern platt. Weil meine Tochter sich im Naturschutzgebiet rumtreibt und nicht an ihr Handy geht. Das kann verdammt teuer werden, meine Liebe. Ist dir das eigentlich klar?“ Als er schließlich vor mir stand und meines Fußes ansichtig wurde sowie des Strickleiter-Fahne-Seil-Haufens, der zu einem abenteuerlichen Wooling verdichtet neben dem Strandkorb lag, warf er mir einen langen Blick zu. „Sieht mir eher nach einer gescheiterten Matterhorn-Besteigung aus … Ist das der Typ, vor dem du abhauen musstest?“ Er musterte Jan von den blonden Locken bis zur Schuhsohle und bückte sich dann zu meinem Fuß herab, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Nein“, erklärte Frida. „Das ist ein Freund von Fanny. Er hat mir geholfen, sie und Jasper aus dem Schacht zu ziehen.“

„Und? Kann wenigstens Jasper noch laufen oder müssen wir amputieren?“ Martin war megasauer. Andernfalls wäre er niemals so sarkastisch gewesen.

„Darf ich vielleicht jetzt auch mal was sagen“, zischte ich, während Jan meinem Vater die Hand reichte und sich vorstellte.

„Ich höre“, knurrte Martin.

„Ich glaub, ich muss zum Arzt“, sagte ich lahm.

Es war Dienstagabend, kurz vor sieben, und Dr. Lessings Praxis war seit fast einer Stunde geschlossen, als wir endlich zum Priel Nr. 11 zurückkamen. Also musste der Arztbesuch wohl warten.

„Hallo, Fanny, warst du auf Grabung?“ Svea ließ den Salat stehen, den sie gerade mit Radieschen aus Tante Hedis Garten garnierte, reichte mir ein feuchtes Tuch für mein Gesicht und besah sich fachmännisch meinen Fuß. Eine halbe Stunde später lag ich im Bett mit einem großen Biene-Maja-Kinderpflaster auf dem desinfizierten Unterarm sowie einer dicken Schicht Ibuprofen Schmerzsalbe plus einem rosa-grün geblümten Tante-Hedi-Handtuch um mein linkes unteres Ende. Darunter pochte es heiß, während ich mit einem Tablett auf dem Bauch eine Riesenportion Salat vertilgte. Als Sanitäterin war Svea gar nicht übel. Hätte Martin sich um meinen Fuß kümmern müssen, würde mein Bein jetzt wahrscheinlich aussehen wie ein Haufen gebündelter Karotten. Er saß am Fußende meines Betts und blickte jetzt doch ein wenig besorgt. „Was war das denn für ein Schacht, in den du da gefallen bist?“

„Wenn ich das wüsste.“

Nachdem Jasper und ich glücklich wieder oben gelandet waren, war Jan noch mal mit Taschenlampe hinuntergestiegen und Frida hatte sich nur mit Mühe davon abhalten lassen, hinterherzuklettern. „Die Betonwände sind fast einen Meter dick“, hatte er berichtet, als er wieder hochkam. „Und um die Ecke von da, wo du gelegen hast, ging so was wie ein unterirdischer Gang ab. Richtung Wanderdüne, wenn ich das richtig sehe.“

Die Wanderdüne. Dieser Riesenhaufen Sand, den der Wind immer weiter nach Osten, Richtung Ellenbogen blies. Der Ellenbogen war der sandige Haken am nördlichen Ende von Sylt, der auf seiner Ostseite den sogenannten Königshafen einrahmte. Einen Naturhafen, wo sich ab April gern die Surfer tummelten. In ein paar hundert Jahren würde die Düne dort drin verschwunden sein und mit ihr auch der Königshafen, wenn bis dahin im Rahmen des Klimawandels nicht sowieso die gesamte Insel abgesoffen und in einem riesigen Nordmeer aufgegangen wäre. Wieso sollte ein Gang zur Wanderdüne führen?

„Da war überall dicker Beton und Jan sagt, dass um die Ecke ein unterirdischer Gang abzweigt.“ Ich zog es vor, Martin nichts von den unheimlichen Geräuschen im Schacht zu erzählen. Ich hatte nämlich keine Lust, mir anzuhören, ich hätte zu viele Fantasy-Romane gelesen. Denn dass es sich bei den Geräuschen nicht um Halluzinationen gehandelt hatte, dessen war ich mir sicher. Todsicher.

„Muss einer von den alten Bunkern oder eine der Geschützbatterien sein, die über die ganze Westseite der Insel verteilt waren“, sagte Martin zu meiner Verblüffung, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.

„Ein alter Bunker?“

„Ja. Die hat man im Zweiten Weltkrieg dort angelegt, weil man vermutete, über die Nordsee könne die Invasion der alliierten Streitkräfte erfolgen.“

Invasion? Alliierte Streitkräfte?

„Aber sie fand dann ja bekanntlich …“ – an der Stelle blickte er mich forschend über den Rand seiner Lesebrille an, in der Hoffnung, ein Zeichen dafür in meinen Augen zu erkennen, dass der Geschichtsunterricht nicht spurlos an mir vorbeigegangen war – „… am 6. Juni 1944 in der Normandie statt.“

„Ach so: D-Day.“

„Ja, so heißt das wohl in der anglo-amerikanischen Terminologie. Kennst du die aus irgendeinem Hollywood-Streifen oder gar aus einer ZDF-Dokumentation von Guido Knopp?“

„Der Soldat James Ryan“, antwortete ich. „Nicht von Guido Knopp, sondern von Steven Spielberg.“ Mit Grauen erinnerte ich mich an das entsetzliche Gemetzel am Strand unterhalb der nordfranzösischen Steilküste, das Spielberg so unerträglich authentisch in Szene gesetzt hatte. Ich hatte es auf Pro7 gesehen und war heilfroh gewesen, dass es keine Werbeunterbrechungen gab. Wie sollte man Cornflakes-Werbung ertragen, wenn fünf Sekunden zuvor tausende von jungen Männern in einem apokalyptischen Geschützhagel gefallen waren? Von einer morbiden Faszination aufs Sofa gefesselt, hatte ich trotzdem nicht abgeschaltet, bevor der Soldat James Ryan, der jüngste und einzige Überlebende von vier Brüdern, als alter Mann mit seiner Familie in die Normandie zurückgekehrt war und seinem Retter an dessen Grab die letzte Ehre erwiesen hatte.

„Und die sollte hier stattfinden, die Invasion? Auf Sylt?“

„Das war eine Vermutung der deutschen Heeresleitung, dass sie über die Nordsee stattfinden würde. Im Vergleich zu der bis zu dreißig Meter hohen Felsenküste der Normandie ist die Steilküste hier lächerlich niedrig. Und außerdem aus Sand. Eine alliierte Landung wäre viel einfacher gewesen. Aber das Gleiche haben sich wohl die Westalliierten gedacht und es vorgezogen, nicht das zu tun, was man von ihnen erwartete. Der Überraschungsangriff in Frankreich an dieser unwahrscheinlichen Stelle hat dann ja auch Erfolg gehabt, selbst wenn er mit dem Tod von weit über zehntausend Soldaten an einem einzigen Tag erkauft wurde.“

„Und wir liegen jetzt hier in der Sonne und lassen uns brutzeln – mit einer Batterie von Bunkern im Rücken.“

„Fast alle wurden in den 50er- und 60er-Jahren gesprengt oder sind inzwischen versandet. Heute dienen sie dem Küstenschutz. Ebenso wie die Tetrapoden aus Beton, die an verschiedenen Strandabschnitten aufgestapelt sind. Du kennst doch die Steinwälle im Meer vor Hörnum oder zwischen Westerland und Wenningstedt.“

„Das sind diese Dinger mit den vier dicken Betonarmen, die sich im Sand und miteinander verhaken, oder?“ Als Kind war ich mal mit meiner Cousine Nora zwischen denen herumgeklettert. Wer dabei mit den Füßen oder den Händen auf den Sand kam, hatte verloren.

„Richtig. Tetra ist das griechische 4 und podes ist lateinisch und bedeutet ‚Füße‘.“

Danach hatte ich gar nicht gefragt. Aber wenn Martin die Chance auf eine Lektion in Sachen Geschichte oder tote Sprachen bekam, ergriff er sie ebenso begeistert wie hemmungslos. „Sie dienen in erster Linie als Wellenbrecher und sollen die Wucht der Nordsee eindämmen, vor allem während der Herbst- und Frühjahrsstürme, wenn sie in die Steilufer beißt. Jedes von den Teilen wiegt sechs Tonnen.“

„Wie praktisch, dass die Bunker sowieso schon da waren.“

„Im Prinzip ja. Die gesamten Dünen sind unterbunkert. Vom Ellenbogen bis runter nach Hörnum. Bis in die 90er- Jahre hinein war der Ellenbogen sogar noch militärisches Sperrgebiet, weil dort Schießübungen stattfanden. Irgendwann nach der Wende hat das dann aufgehört und heute kannst du dort herumspazieren, als wäre es nie anders gewesen. Die meisten Touristen wissen nichts von den Bunkern. Und schon gar nicht, wo sie liegen.“

„Weißt du das denn?“

„Ein paar von ihnen kenne ich noch von früher. Da war noch nicht alles so streng geregelt auf der Insel.“

„Werden die Bunker heute noch benutzt? Ich meine, sind da Leute drin?“ Ich musste an die muffige Filzdecke mit dem vergammelten rötlichen Abzeichen darauf denken, auf der ich den Nachmittag verbracht hatte. Womöglich eine alte Armeedecke. Aber was hatte die knapp siebzig Jahre nach dem Krieg noch dort zu suchen?

„Nicht dass ich wüsste. Wieso fragst du?“

„Ooch, nur so.“

„Eigentlich müsste man das den Behörden melden, dass da offensichtlich ungesicherte unterirdische Gebäude in den Dünen sind. Das sind ja regelrechte Fallen. Aber damit würde man natürlich zugeben, dass man sich im Naturschutzgebiet herumgetrieben hat.“

„Nee, lass man lieber“, sagte ich. „Jetzt weiß ich ja, wo dieses Loch ist.“

„Du hast hoffentlich nicht die Absicht, dir das noch mal näher anzusehen“, sagte Martin und sah mich durchdringend an. „Das ist ein Labyrinth da unten und ich möchte nicht, dass du darin verloren gehst. Also: ab sofort striktes Bunkerverbot!“ Er erhob sich. „Du hast mich doch verstanden, Helena“, fügte er überflüssigerweise hinzu. „Oder?“, insistierte er, als ich keine Antwort gab.

„Ja, Papa“, erwiderte ich mit Kleinmädchenstimme und drückte ihm das Tablett mit der leeren Salatschüssel in die Hand. „Erst mal muss ich überhaupt wieder gehen können.“ Ich rutschte nach unten und versuchte, es mir unter der Bettdecke so bequem zu machen, wie es mit dem dicken Handtuch um den Fuß ging. Aber es ging nicht wirklich. Auf die Seite drehen konnte ich mich auch nicht und so starrte ich, nachdem Martin im Gehen das Licht hinter sich ausgemacht hatte, im Dunkeln an die Decke und versuchte, dabei nicht an die unheimlichen Stunden im Bunker zu denken. Lieber noch ein bisschen an Jan.

In dieser Nacht träumte ich von Soldat Ryan und erwachte gegen drei Uhr morgens schweißgebadet, weil mir ein Sanitäter der Wehrmacht in den Fuß geschossen hatte. Die Wirkung des Schmerzmittels musste nachgelassen haben und ich brauchte über eine Stunde, um wieder in einen unruhigen Schlaf zu fallen.


Hey, Mom, Susanne S., Verräterin,

na, wie geht’s? Froh, dass du mich los bist? Macht das Leben einfacher, was? Ehrlich gesagt, wär ich mich selbst gern los. Kann mich nicht mehr sehen. Riechen auch nicht. Zum Glück gibt’s hier keinen Spiegel und mein kleiner Freund stinkt selbst ein bisschen. Aber vielleicht bin ich mich ja bald los. Und du mich auch. Dann hast du endlich deine Ruhe mit Achim. Und er kann diese dämliche Heuchelei sein lassen: „Kommst du mit, Lieblingstochter? Spaghetti-Eis bei Gino? “ Dabei hab ich sie ihm echt geglaubt, die „Lieblingstochter“.

Eigentlich hab ich Schwein gehabt mit ihm als Ersatz-Daddy, findest du nicht? Oder hat der Gute am Ende keine Ahnung von dem Kuckucksei in seinem Nest? Weil du ihm mich untergejubelt hast, als ich gerade mal zwei Zentimeter vom Nirwana entfernt war und ebenso ahnungs- wie vaterlos in deinem Uterus herumpaddelte. Wieso hast du mich eigentlich nicht abgetrieben und gleich ein Englein aus mir gemacht? Später tut’s mehr weh, kann ich dir sagen.

Ihr zwei hättet Schauspieler werden sollen. Bis vor Kurzem hab ich euch die Show echt abgenommen. Fast schade, dass plötzlich die Regie gewechselt hat. Ob da der liebe Gott die Finger im Spiel hatte? Womöglich wollte er mir endlich die Augen öffnen. Ich wollte, ich könnte sie für immer zulassen. Na ja, vielleicht …