5
Ich bin kein Fan von Patchwork. Weder in Form von bunten Tagesdecken noch von bunt durcheinandergemixten Familienbestandteilen. Es sah allerdings danach aus, als müsste ich mich mittelfristig mit beiden Phänomenen abfinden. Frida hatte sich in dem kleinen Raum neben Tante Hedis Wohnzimmer eingerichtet. Dort schlief sie auf einer Matratze am Boden, die sie tagsüber unter einer aus bunten Stoffresten zusammengesetzten Steppdecke versteckte. Als Nachttisch diente ihr Tante Hedis kleiner weißer Hocker mit den schwarzen Füßen. Ansonsten lebte sie aus ihrem Rucksack.
Es war mir ein Rätsel, wie sie und ihre Mutter es geschafft hatten, ihren kompletten Klamottenbedarf für zwei Wochen plus eine schwangere Kornnatter samt Behausung in den Gepäcktaschen der Harley Davidson unterzubringen, die jetzt ziemlich cool vor unserem Haus parkte. Wenn auch mit Beiwagen. „Wenn du für die Wüste packst, dann bist du es gewohnt, mit wenig Platz auszukommen, und beschränkst dich auf das Nötigste“, hatte Svea erklärt und binnen einer Minute die Harley entladen. Das Nötigste bestand in ihrem Fall aus zwei äußerst knappen Bikinis sowie diversen eng sitzenden Kleidern, wie sich im Laufe des Urlaubs herausstellte. Ansonsten trug sie Martins Oberhemden und eine kurze Jeans. Wusste gar nicht, dass Martin auf so was steht.
Nach einer unbequemen Nacht im Vogelzimmer und Wand an Wand mit Frida hatten er und Svea Tante Hedis Dachboden inspiziert und, oh Wunder, welche Freude, hochkant an die Wand gelehnt und hinter einem Vorhang verborgen ein altmodisches Doppelbettgestell entdeckt. „Wunderschön.“ Verzückt strich Svea über den geschwungenen dunkelbraunen Rahmen mit dem Wiener Geflecht, auf dem ihre Finger eine glänzende Spur im Staub hinterließen. Nachdem wir zu viert das gute Stück zerlegt und die enge Bodentreppe hinunterbugsiert hatten, stellte sich heraus, dass Tante Hedi sich wohl doch nicht ausschließlich für den Schilfrohrsänger und den dunklen Wasserläufer interessiert hatte. Eingeritzt ins Holz entdeckten wir am Fußende ein angestaubtes Graffito: „H + P“, umrandet von einem dicken Herz, das einem Hintern ähnelte. „Wie romantisch.“ Svea war begeistert.
„Voll die coole Socke, deine Tante“, erklärte Frida, während Martin sinnierte.
„Sie mal einer an. Die gute Tante Hedi. Wer hätte das gedacht.“ Er schüttelte ein paar Staubflocken aus seinen Haaren. „Wer wohl P war? Ich kann mich an keinen Peter oder Paul hier erinnern.“
„Vielleicht ja auch Pauline?“, grinste Svea und Martin warf ihr einen gespielt pikierten Blick zu. „Hast du was dagegen, wenn ich es weiß lasiere? Dann bleibt die Inschrift erhalten.“ Martin hatte nichts dagegen und so zogen die beiden zwei Tage später in Tante Hedis Schlafzimmer ein – Wand an Wand mit mir! – und das alte Singlebett verschwand unzeremoniell auf dem Dachboden.
Wie ich es geahnt hatte, wurden Frida und ich am nächsten Tag in die XXL-Sandkiste am Lister Strand verfrachtet. Allerdings zum Glück nicht gemeinsam wie befürchtet. Martin fuhr uns zwar zusammen und mit vielen Belehrungen gegen halb elf hin, Frida erklärte aber zu meiner Erleichterung, sobald die Jeeptür mit einem blechernen Klicken hinter ihr zugefallen war, dass sie kein Kindermädchen brauche. „Ich bin schon groß und schwimmen kann ich wie ein Fisch.“
„Umso besser. Ich leide nicht am Mary-Poppins-Syndrom.“
Frida schob sich eine weiß umrandete Sonnenbrille auf die Nase, die einen Großteil ihrer Nutellasprossen bedeckte, klemmte sich die Taucherflossen unter den Arm und marschierte entschlossen auf die Bohlentreppe zu, die an der Strandhalle vorbei zum Strand führte. Es ist das Letzte. Frida ist wirklich fast so groß wie ich und hat die gleiche Schuhgröße (auch ohne Taucherflossen). Mit zehn! Das ist unfair hoch fünf. Und zu verstehen schon mal gar nicht. Die mendelschen Erb-Regeln, mit denen uns Öko-Rebhuhn in den letzten Wochen vor den Ferien ausgiebig genervt hat, hatten in meinem Fall offensichtlich gerade Pause. Martin misst 1,85 Meter und Britta 1,64. Warum, bitte schön, hat es dann bei mir nicht zu mehr gereicht als deprimierenden 158einhalb Zentimetern? Das ist einfach nur ein mieser Witz, für den kollektiv meine Großeltern verantwortlich sein müssen. Auch wenn Martin sagt, es kommt auf den Inhalt an, nicht auf die Verpackung. Haha! Sieht man ja an seiner langbeinigen Svea. Wenn ich daran denke, dass Frida in spätestens zwei Jahren meinen Scheitel von oben betrachten kann, krieg ich jetzt schon die Krätze. Aber vielleicht sind die zwei bis dahin ja wieder weg vom Fenster.
Mit meinem von Britta aus einem alten Segel gefertigten Seesack über der Schulter angelte ich nach meinen Flipflops, die neben Martins Vorderreifen auf dem heißen Asphalt lagen, und tappte hinter ihr her.
Sobald wir unseren Strandkorb bezogen hatten, diesmal vollkommen korrekt und mit Ticket, verschwand Frida mit Jasper Richtung Wasserkante, auf dem Kopf einen wagenradgroßen Strohhut, der aus Tante Hedis Beständen stammen musste. Darunter hatte sie einen quietschgrünen Neckholder-Badeanzug an, dessen weiß eingefasste Beine bis fast zur Mitte ihrer dünnen Oberschenkel reichten. Noch nie hatte ich eine derart selbstsichere Zehnjährige getroffen. Für wen hielt sie sich eigentlich? Sie sah aus, als sei sie einem dieser hundert Jahre alten Fotos entsprungen, auf denen stramme Schnurrbarttypen am Strand turnten. Wo hatte sie dieses Retro-Teil bloß aufgetrieben? Zu übersehen war sie darin jedenfalls nicht.
Umso besser. Die Nordsee schwappte in aller Unschuld vor sich hin, sodass Frida außer Feuerquallen und Seeigeln keine akuten Gefahren für Leib und Leben drohten. Außerdem waren genügend andere Leute am Strand, die ein Auge auf sie haben konnten. Jasper nicht zu vergessen. Ich konnte es mir also in aller Ruhe bequem machen, und das tat ich auch. Bikini an, Kopf aus, Sonnenbrille und Wasserflasche auf Standby, Kopfhörer in die Ohren, Strandkorb in den richtigen Winkel zur Sonne, Rückenlehne auf Kipp und eine der Schubladen für die Füße raus. Jetzt nur noch hinlegen und Meeresrauschen „go“. Perfekt. So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt, wenn auch eher mit ein paar Palmen im Rücken als mit Dünengras. Und vielleicht einem Sex-on-the-Beach-Cocktail statt Mineralwasser von Lidl. Wenn dann noch ein gewisser Jan aufgetaucht wäre statt einmal pro Stunde eine gewisse Frida …
Chauffeur-mäßig holte Martin uns am Abend wieder ab. Bis zum Ende der Ferien hätte das von mir aus so weitergehen können, aber schon zwei Tage später passierte etwas, das alles änderte. Und es fing ganz harmlos an. Kaum eine halbe Stunde hatte ich es mir im Strandkorb gemütlich gemacht, wobei penetrant ein einzelnes Grübchen durch meine Gehirnwindungen geisterte, als ein Schatten auf mein sonniges Dasein fiel. Leider kein Schatten mit Grübchen und meinetwegen auch mit Max und Moritz im Schlepp, sondern einer mit Stachelhaaren und Schultertasche.
„Ist das dein Hund?“
Jasper lag friedlich im Schatten des Strandkorbs, Kopf auf den sandigen Pfoten, und hechelte vor sich hin, während seine neue Freundin sich auf der Suche nach dem Eisverkäufer befand. Um den Hals hatte Jasper einen dicken türkisgrünen Tampen, den Frida am Strand gefunden hatte und dessen zweites Ende am Seitenbügel des Strandkorbs festgebunden war. Ich nahm die Kopfhörer aus den Ohren und richtete mich auf. „Wie bitte?“
„Ist das dein Hund?“
„Ja. Stimmt was nicht mit ihm?“
„Das kann ich nicht beurteilen. Aber mit seinem Standort stimmt was nicht.“
„Und was?“
„Das hier ist ein Badestrand und kein Hundestrand. Der Hund hat hier nichts zu suchen.“
„Soll ich ihm jetzt eine Badehose anziehen?“ Ich musste grinsen. „Oder vielleicht eine Boxer-Shorts?“ Der stachelige Schatten verzog keine Miene.
„Da vorn steht das Schild ‚Hundestrand‘. Der beginnt zwanzig Meter weiter.“
„Mein Hund kann aber nicht lesen.“
„Du offensichtlich auch nicht. Noch nicht mal ein Piktogramm.“
Pikto-was?
„Bilddarstellung statt Text“, sagte er, nachdem er meinen analphabetischen Blick aufgefangen hatte. „Deshalb lese ich es dir jetzt vor. Also, der Hund muss hier weg. Es gibt Menschen, die mögen es nicht, wenn sie oder ihre Kinder barfuß in Hundekacke treten.“
„Das geht aber nicht. Ich hab extra diesen Strandkorb hier gemietet. In der Hundeabteilung war keiner mehr frei. Und außerdem kackt Jasper nicht an den Strand.“ Unser Strandkorb – der mit meinem roten Anti-Smiley beziehungsweise: Piktogramm! auf dem Rücken – war der letzte vor der imaginären Grenze zum Hundestrand. Niemand konnte etwas gegen Jaspers Anwesenheit haben, es sei denn, er war mit dem Zentimetermaß unterwegs. Oder mit dem Gängelband, wie dieser miesepetrige Pedant.
„Und wenn er doch kackt“, kam in diesem Augenblick eine Stimme um die Ecke, „dann pack ich seine Würstchen mit meiner Schaufel in eine von diesen kleinen schwarzen Tüten.“ Frida hatte den Eismann offensichtlich gefunden, denn von ihrem T-Shirt tropfte eine rosafarbene Cornetto-Erdbeer-Spur in den Sand, als sie sich energisch vor dem Schattenmann aufbaute und ein schwarzes Plastikknäuel aus der Tasche ihrer Shorts zog. „So eine.“
„Und die Schaufel machst du dann im Meer sauber, stimmt’s?“, sagte er.
„Klar“, antwortete Frida liebenswürdig, bevor ich es verhindern konnte. „Wo denn sonst?“
Der Schattenmann hatte jetzt selbst den Standort gewechselt und sich so in die Sonne gedreht, dass ich sein Gesicht erkennen konnte. „Dann machen wir jetzt mal Nägel mit Köpfen, die Damen“, sagte er und seine grünen Katzenaugen blitzten mich kalt an. Er hatte einen schmalen Mund ohne jede Farbe und die intensive Sonneneinstrahlung der letzten Tage hatte sein Gesicht eher gerötet als gebräunt. So unfroh, wie er seinen Job versah, war das Zur-Strecke-Bringen von Touris wohl das Einzige, was ihm Spaß machte im Leben. „Ihr bringt jetzt diesen Hund hier weg oder ihr bekommt eine Anzeige. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.“
„Bisher sind Sie der Einzige, der sich öffentlich ärgert“, gab ich zurück. „Und wie erregt Sie dabei sind, kann ich nicht beurteilen.“
Mister Shadow schnappte nach Luft. Okay, der Spruch war ganz schön dreist. Und hätte ich gewusst, was ich damit lostrat, hätte ich mir lieber dreimal auf die Zunge gebissen und Jasper mit eingekniffenem Schwanz nach Hause gebracht. Hab ich aber nicht.
Jedenfalls war’s das dann. Der Schattenmann machte einen Schritt auf mich zu und packte mich am Arm, was bestimmt nicht in seiner Arbeitsplatzbeschreibung stand. Sein Blick brannte in meinem Gesicht wie tiefgekühltes Trockeneis auf der Haut. Statt zu meiner Verteidigung aufzuspringen und wenigstens der Show halber ein Knurren hören zu lassen, legte Jasper die Stirn in Kummerfalten und blickte ihn treu aus seinen braunen Augen an. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich selbst zu verteidigen.
Mit einer plötzlichen Bewegung aus meinem Fecht-Training riss ich mich los und rannte, so schnell das in dem tiefen Sand möglich war, über die Düne Richtung Inselinneres. Was mindestens ebenso verboten war, wie nackt am Textilstrand herumzulaufen oder mit Hasso oder Waldi in der Null-Hund-Zone. Ich war schon aus der Puste, als ich auf dem Dünenkamm ankam. Aber der Schatten schien mir nicht zu folgen. Das Einzige, was ich zwei Minuten später hinter der Düne auftauchen sah, als ich mich kurz umdrehte, war Tante Hedis Hut.
Eine Zehntelsekunde darauf verschwand auch er aus meinem Blickfeld. Zusammen mit mir selbst. Ich war noch keine hundert Meter weit gekommen, als sich unter mir der Boden auftat. Das heißt: Da war gar kein Boden. Der kam erst zweieinhalb Meter tiefer. Er war aus Beton und verdammt hart und verdammt kalt.
zu liebe M. kann ich mich nicht überwinden – und vielleicht ist ja sogar das Mama gelogen und ich sollte dich mit hallo Susanne anreden. Oder mit hallo Susanne S., wie in der Bildzeitung. Sozusagen mit emotionalem Sicherheitsabstand, mit Stacheldraht um deinen Namen. Damit du mir nicht mehr zu nahe kommen kannst. Damit es mich nicht mehr verletzen kann, was du getan hast. Und wie du mich belogen hast. Von meinem ersten Atemzug an.
Die ganze Geschichte fühlt sich an wie irgend so ein Schund aus der BILD. Oder eine von diesen bescheuerten Real-Soaps aus den RTL-Nachmittags-Shows, wo sich die beklopptesten Protagonisten mit emotionalem Müll bewerfen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie beschissen es sich anfühlt, plötzlich mitzuspielen in dieser unterirdischen Liga. Das nette Mittelstands-Kid mit dem Notendurchschnitt von 1,6 – schön blöd – wird zum Bastard, zur Hauptdarstellerin in einer Jauchegrube. Und hat keine Ahnung, wie es da hineingekommen ist. Soll ich dir sagen, wie ich mich fühle? WIE DER LETZTE DRECK, und so seh ich im Moment auch aus, hier unten in meiner Gruft. Ich ekle mich vor mir selbst. Aber es gibt jemanden, der mich noch mehr ekelt: dich.
Ich muss aufhören, sonst muss ich kotzen. Und davon wird’s hier nicht gemütlicher …