19
„Ich wusste, dass du kommen würdest, Mama“, sagte Frida, ohne ihre Geisel aus den Augen zu lassen oder das Gewehr beiseitezulegen. „Hallo, Fanny, gut, dass du endlich da bist. Guck mal, wen ich gefangen hab.“
„Ich seh schon. Glückwunsch.“ Meine Stimme kam cooler rüber, als mir zumute war, während mein Herz nachzuzittern schien wie die letzten Zuckungen eines Erdbebens. Fridas „Fang“ mit den blonden Stachelhaaren schnaubte hörbar durch die Nase. Ich konnte es nicht fassen. Das sollte der Kapuzentyp sein, der Frida in die Katakombe entführt hatte? Also hatte ich ihn gleich richtig eingeschätzt, den feinen Herrn Strandkorbwärter.
„Das ist noch sehr die Frage“, zischte er, „wer hier wen gefangen hat.“
„Gar nicht.“ Frida ließ das Gewehr sinken, dessen metallener Lauf im Licht der Kerze bläulich schimmerte, und starrte ihn ärgerlich an. „Mia hat mich gefangen. Und ich hab jetzt dich gefangen.“
„Wo ist Mia?“
Wie bitte? Was sollte das denn jetzt. Welche Mia?
„Stopp!“, fuhr Svea dazwischen. „Stopp. Kann mich bitte mal jemand aufklären, in welchem Film ich hier bin? Wer sind Sie? Woher kennen Sie meine Tochter? Woher kennst du den Mann, Fanny? Und wer, zum Teufel, ist Mia?“
„Gestatten, Lars Andresen“, sagte der Typ und deutete eine ironische Verbeugung an.
„Das ist der Kerl, vor dem ich am Strand abgehauen und in dieses Bunkerloch gefallen bin“, schaltete ich mich ein. „Er ist Strandkorbwärter am Lister Weststrand, und zwar der mieseste unter der Sonne. Und wenn mich nicht alles täuscht, war er heute Nachmittag schon mal hier und später hat er Frida gekidnappt.“ Herausfordernd sah ich ihn an. „Irgendwie kam mir seine Silhouette bekannt vor, als Jan und ich ihn bei der Falltür zum Bunker entdeckten. Muss an dem niedlichen Bauchtäschchen liegen. Aber ich hab trotzdem nicht gleich geschnallt, wer er ist.“ Der junge Mann, dessen hochgegelter Haarschopf etwas angestaubt aussah, blickte nach unten und fingerte nervös am Verschluss seiner Kunstledertasche herum. Als er wieder hochsah, schleuderten seine Katzenaugen mir wütende Blitze entgegen.
„Du sprichst von der Falltür, bei der Jan sich mit der Polizei treffen will?“, fragte Svea. Ich nickte und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Lars Andresen zusammenzuckte.
„Polizei?“, sagte Frida. „Krass. Aber heute Nachmittag hab ich den hier nicht gesehen.“ Vorsichtig legte sie das Gewehr neben sich auf dem Schlafsack ab und strich sich mit ihren Dreckpfoten die Ponyfransen aus den Augen. „Ich hab mich nur tierisch erschrocken, als ich aus dem Gang da ein Geräusch hörte. Hab ich dir ja schon erzählt, Fanny.“ Treuherzig wie Urmel aus dem Eis blickte sie mich an. „Das war ja wirklich bescheuert vorhin, dass Mia mich erwischt hat, als ich in den Dünen aus dem Loch geklettert bin. Echt Pech. Und gut, dass sie von dir nichts mitgekriegt hat. Ich hab ganz schön Schiss gehabt.“
Moment mal. Was redete Frida denn da schon wieder? Mia? Wieso Mia? Hatte ich irgendwas verpasst? Während die Suchmaschine in meinem Kopf noch ratterte, um herauszufinden, wo hier der Missing Link war, hörte ich Svea seufzen. „Mann, verdammt, Frida, hast du eine Ahnung, was für Sorgen wir uns um dich gemacht haben? Wie konntest du bloß allein hier runterklettern, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen?“ Svea machte eine abrupte Kopfbewegung und ich hörte Sandkörner aus ihrem Haar rieseln. „Und wer ist überhaupt diese Mia? Noch so eine fragwürdige Strandbekanntschaft von euch?“
„Na, die schräge Tussi aus den Nachrichten.“ Frida zog es vor, auf Teil eins der Rede ihrer Mutter nicht weiter einzugehen, und verdrehte stattdessen die Augen über deren offensichtliche Begriffsstutzigkeit. „Die mit der Ratte, die sie schon die ganze Zeit suchen.“
„Mia Sander?“, murmelte ich. „Die vermisste Siebzehnjährige aus Friedrichstadt? Sie war der Kapuzentyp, der dich vorhin in seine Höhle verschleppt hat?“ Frida nickte und ich hätte mich auf der Stelle ohrfeigen können für meine Blödheit. Schließlich hatte ich den schuppigen Schwanz auf ihrer Schulter gesehen, bevor sie Frida zurück in den Schacht gezwungen hatte. Der musste zu ihrer Ratte gehören.
Das war jetzt wirklich irre. Vollkommen irre. Es war Mia, die hier unten hauste? Ein Mädchen, gerade einen Tick älter als ich? Mir wurde flau im Magen. Als hätte ich eine Ahnung gehabt, als ich selbst hier unten gefangen war. Nur dass Mia offensichtlich gar nicht gefangen war, sondern vielmehr andere Leute ihrer Freiheit beraubte. „Und du bist sicher, dass sie es ist?“
„Wegen was?“
„Ihrer weißen Ratte.“ Frida blickte sich suchend um. „Vor Kurzem war sie noch da. Die ist voll süß.“
„Wo ist Mia jetzt?“, meldete sich Lars Andresen mit rauer Stimme.
„Keine Ahnung“, sagte Frida. „Weg. Hat zu tun, sagt sie.“
„Apropos: Und was haben Sie mit alldem zu tun?“, fragte Svea. „Sind Sie ein Komplize von Mia und ihrer ‚voll süßen Ratte‘?“
Lars Andresen, wenn man ihn zur Abwechslung in Ruhe betrachtete statt in Panik oder auf der Flucht, war spargeldünn und wirkte eigentlich eher zerbrechlich als gefährlich. Etwas entspannter, nachdem Frida das Gewehr zur Seite gelegt hatte, lehnte er sich gegen die Wand neben einem Mauervorsprung aus dunkelrotem Backstein, der am Eingang zum zweiten Gang rechtwinklig nach vorn ragte.
„Nein“, erwiderte er, senkte den Blick und rieb sich mit einer erschöpften Handbewegung die Stirn. „Ich bin kein Komplize oder wie Sie das nennen wollen. Mia ist meine …“
Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick vernahmen wir Geräusche, die aus dem Gang hinter ihm drangen, Geräusche von Schritten. Und leise Stimmen. Um Mia konnte es sich nicht handeln, es sei denn, sie hatte mittlerweile begonnen, Selbstgespräche zu führen. War sie nicht überhaupt geistig verwirrt, wie es in den Polizeimeldungen geheißen hatte? Kein Wunder, wenn sie hier unten lebte. Aber wer sollte das sonst sein. Die Polizei? So schnell? – Oder etwa Martin und Jan?
Sicherheitshalber löschte Svea ihre Taschenlampe, sodass nur noch die Kerze ihr diffuses Flackerlicht in den niedrigen Raum streute. Mein Körper spannte sich an wie der einer Katze Sekunden vor dem Sprung. Behutsam und bevor wir es verhindern konnten, nahm Frida das Gewehr wieder zur Hand. Gebannt starrten wir zu der Öffnung in der Wand. „Leg das Gewehr weg, Frida“, sagte Svea leise. „Das ist wahrscheinlich Jan mit den Polizeibeamten.“
„Menno!“ Frida maulte, tat aber ausnahmsweise, was ihre Mutter gesagt hatte.
Das war ein Fehler. Die beiden Typen, die einen sehr hellen Lichtkegel vor sich herbewegend in der Öffnung zum Gang auftauchten, sahen so wenig nach Polizei aus wie ich nach Lady Gaga. Der eine, ein muskulöser Typ mit Bomberjacke und kinnlangen fettigen Haaren, die aus seinem Rattenschwanz heraushingen, trug eine Art Autoscheinwerfer in der behandschuhten Rechten. Der andere, ein langer Dünner, hatte einen kahlen Kopf mit einer kreisrunden Nickelbrille im Gesicht, die ihm das Aussehen eines bebrillten Eis verlieh. Der freundliche Eierkopf vermochte allerdings nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass in der latexgrünen Hand eine schwarze Pistole glänzte. Ihr Lauf war auf Frida gerichtet, die der Kerl im Schein der drei Kerzendochte auf ihrem Schlafsacklager entdeckt hatte. „Hallo, Süße, wen haben wir denn da?“
Instinktiv trat ich leise zwei Schritte zurück in den Schatten des Gangs, aus dem Svea und ich gekommen waren. Hoffentlich hatten sie mich nicht gesehen. „Ist das vielleicht die kleine Mia aus Friedrichstadt?“
„Ich bin nicht deine Süße“, gab Frida zurück. „Ich heiße Frida und komme aus Hannover.“
„Haha, kleiner Witzbold, was?“, sagte der mit der Bomberjacke und machte einen Schritt auf Frida zu. Der andere ließ seine Pistole sinken und betrachtete Frida genauer. „Steh auf“, herrschte er sie an. Umständlich erhob sich Frida und blickte ihm trotzig ins Gesicht. Bisher hatten sie keinen von uns anderen entdeckt. Lars hatte sich hinter den Wandvorsprung geduckt, während Svea an ihrem Standort reglos verharrte. Ich stupste sie aus dem Dunkel an und machte ein Zeichen in Richtung Taschenlampe. Svea ließ sie in meine Hand gleiten.
„Das ist tatsächlich nicht Susannes Tochter“, sagte der Eierkopf. „Die ist viel zu jung.“
„Sag ich doch. Du kannst meine Mutter fragen.“
„Bisschen umständlich, erst deine Mutter zu suchen, was?“
„Nee, gar nicht. Die steht dahinten.“
Ich machte einen Satz in den Gang hinein und kauerte mich hinter ein Betonbruchstück, während ein Strahl aus dem Autoscheinwerfer Svea traf und ihr einen überirdisch gleißenden Halo verlieh. Sie trat in den Raum hinein auf die beiden Männer zu. „Scheiße, jetzt wird’s kompliziert“, sagte der Glatzköpfige und bedeutete Svea mit seiner Waffe, sich in Fridas Ecke zu bewegen. „Ist das hier ’n Kindergeburtstag oder was?“
„Eher nicht.“ Svea ging sehr langsam Richtung Schlafsack, um die beiden Kerle nicht zu unbedachten Handlungen zu verleiten oder womöglich ihre Reflexe zu testen. „Zu wenige Luftballons und zu wenige Gäste.“
„Wir spielen Verstecken“, warf Frida kaltblütig ein. „Vielleicht auch Mord im Dunkeln.“
Hallo? Miss Cool, oder was? Glaubte sie, sie sei der Kinderstar in einem Vorabendkrimi? Die Typen sahen nicht aus, als würden sie viel Spaß verstehen.
„Frida!“
Immerhin. Wenigstens Svea hatte begriffen, dass das hier kein Witz war.
„Was machen Sie hier und was wollen Sie von meiner Tochter?“, waren die letzten Worte, die ich verstehen konnte, bevor ich nach links um die Biegung verschwand in den langen finsteren Gang, an dessen anderem Ende Jaspers improvisierte Hundeleine herabhing. Vorausgesetzt, mein Vater war noch da und hatte nicht seinen Plan geändert, Jan allein zum Falltüreingang gehen zu lassen.
Als ich weit genug von Mias Katakombe entfernt war, sodass sie meine Schritte nicht mehr hören konnten, machte ich die Taschenlampe an und rannte, so schnell es in dem Stollen ging. Ich blendete alles aus, was mich ablenken könnte, und konzentrierte mich nur noch auf potenzielle Hindernisse. Ich nahm nichts wahr als meinen eigenen keuchenden Atem und das Stakkato meiner Schritte, die von den Wänden echoten. Es klang, als sei einer hinter mir her. Ich achtete nicht darauf.