4. Kapitel

Die Fahrt auf dem Roller wird quälend. Ein Schwall Wasser von der Seite, wenn ein Auto vorbeifährt, von oben gießt es wie aus Kübeln. Christoph muss sich auf den Verkehr konzentrieren, dabei gibt es so viel zu überlegen. Vorher hat er noch großspurig getönt, er werde sich umhören. Aber jetzt ist er nicht mehr sicher, ob er wirklich etwas herausfinden kann.

Vermutlich ist schnell klar, ob es Unfall oder Mord war.

Und es stellt sich auch bald heraus, dass zwei Mieter verschwunden sind. So kommen sie auf die Spur von Isabel und Eugenia.

Vielleicht lenkt jemand absichtlich den Verdacht auf die beiden Frauen. Weil er selbst der Mörder ist. Oder es sein könnte.

Kröger hat sie schikaniert, das weiß jeder im Haus.

Und sie sind flüchtig.

 

Es wird dunkel.

Christoph parkt seinen Roller in der Falckensteinstraße und geht zu Fuß weiter. Um die Ecke, in die Wrangelstraße, vorbei an den vielen kleinen Läden, der eine oder andere hat noch offen. Das Tor ist über und über mit Graffiti verziert, es ist nicht verschlossen, er schiebt es auf, es quietscht.

Im Hinterhof ist alles still.

Niemand zu sehen, auch kein Polizeiwagen.

Er öffnet die immer unverschlossene Haustür leise, biegt gleich in den düsteren Flur nach rechts.

Nur eine Wohnung hier. Die von Isabel und Eugenia. Eigentlich war es mal eine Abstellkammer. Aber der Hausmeister hat schnell erkannt, dass sich hier noch Geld machen lässt. Mit Menschen, die auf normalem Weg keine Bleibe bekommen.

Die Wohnung ist versiegelt. Also sind sie Isabel und Eugenia schon auf der Spur, vermutet er. Wahrscheinlich haben sie alles durchsucht, wissen längst, dass die beiden illegal in Deutschland sind. Macht sie das automatisch verdächtig? Was haben sie in der Wohnung gefunden, dass sie es für nötig hielten, sie zu versiegeln? Auf alle Fälle wagt er es nicht, dieses Siegel aufzubrechen.

Leise schleicht er die Treppe zum Keller hinunter. Will kein Licht machen. Dennoch sieht er die Kreideumrisse am Ende der Treppe.

Da lag Kröger. Das Blut ist weggewischt, aber ein dunkler Fleck ist noch zu sehen.

Der Tatort. Fotografiert, abgemessen, auf Spuren untersucht.

 

»Was machst du hier?«

Christoph zuckt zusammen. Er hat keine Schritte gehört, die Frau steht wie aus dem Nichts am oberen Ende der Kellertreppe.

Er antwortet nicht, was soll er auch sagen?

»Was machst du hier?«

Die Stimme klingt schärfer.

»Ich wollte eigentlich zu Isabel Hernandez.«

»Und deshalb gehst du in den Keller?«

Christoph steigt die Treppe hoch, er möchte an der Hausmeisterin vorbei, aber sie bleibt im Türrahmen und zwingt ihn, zwei Stufen tiefer zu stehen und zu ihr hochzublicken.

»Die Wohnungstür war versiegelt …«

»… und da dachtest du, deine Freundin versteckt sich da unten?«

Sie klingt höhnisch. Vielleicht ist es auch nur Misstrauen.

Sie trägt schwarz. Natürlich. Es war ihr Mann, der hier ums Leben kam.

Christoph bemüht sich, seine gute Erziehung hervorzukehren. »Ich möchte Ihnen mein Mitgefühl zum Tod Ihres Mannes aussprechen, Frau Kröger«, sagt er und versucht, dabei aufrichtig zu wirken.

»Woher weißt du, dass er tot ist?«

Mist! Das war ein Fehler. Jetzt bloß cool bleiben.

»Ich habe es vorne an der Straße erfahren – am Kiosk.«

Nicht schlecht für eine spontane Lüge.

»Oder von deiner Freundin, dieser Schlampe.«

Christoph zuckt zusammen. Er würde gerne heftig herausgeben, aber die Frau verunsichert ihn.

Er drückt sich an der Witwe des Hausmeisters vorbei.

»Die Polizei sucht sie schon und wird sie finden!«, ruft Frau Kröger ihm nach, als er fluchtartig das Weite sucht.

 

Christoph rennt hinaus in den Hof. Er lehnt sich gegen die Wand, atmet tief durch. Eigentlich sollte er schnell verschwinden, aber ihm ist ein bisschen flau. Das Blut, die Kreide, das Wissen darum, dass hier ein Mensch gestorben ist, vielleicht sogar ermordet wurde … Dann die Begegnung mit Frau Kröger, ihre Gehässigkeit, ihr Misstrauen 

Es war dumm, hierherzukommen, denkt er, als er den Hof verlässt.

Hat er damit nicht erst recht den Verdacht auf Eugenia und Isabel gelenkt? Die Witwe des Hausmeisters wird der Polizei doch sicher erzählen, dass er hier war.

Was soll er nun tun? Ins Waldhaus fahren und berichten?

Was kann er denn sagen? Nichts, was sie sich nicht schon denken könnten.

Außerdem: Er muss nach Hause. Oder sich wenigstens melden.

Erst Isabel. Er nimmt sein neues Handy. Ruft an.

»Ja?«

»Eure Wohnung ist versiegelt.«

»Also haben sie sie durchsucht.«

»Ja. Und die Kröger hat mich erwischt, als ich herumgeschnüffelt habe.«

»Verdammt.«

»Sie sagt, die Polizei sucht schon nach euch.«

»Pass auf dich auf.« Sie klingt besorgt.

 

Er will bei seinen Eltern anrufen. Dass er sich verspätet hat, aber gleich nach Hause kommt. Halt – falsches Handy. Er muss das alte nehmen. Doch das hat er ausgeschaltet, als er in die Waldhütte zu Isabel und Eugenia fuhr. Als er jetzt die PIN eingibt, beginnt es gleich zu brummen.

»Wo bist du?« Seine Mom. »Die Polizei möchte dich sprechen.«

 

Nein, er wird nicht vorgeladen. Sie warten schon auf ihn, als er nach Hause kommt. Das neue Handy hat er vorsichtshalber in der Garage versteckt. Wer weiß, vielleicht durchsuchen sie ihn.

»Sie erlauben doch, dass ich bei der Befragung dabeibleibe. Mein Sohn ist noch nicht volljährig.«

Typisch Dad. Aber heute ist Christoph froh um seine beschützende Haltung. Dad wird von ihm ablenken mit seinen einstudierten Anwaltssprüchen.

»Selbstverständlich können Sie von uns jede Hilfe erwarten, wenn es um die Aufklärung eines Verbrechens geht.«

»Darf ich fragen, was passiert ist?« Christoph stellt sich dumm.

»Ein Hausverwalter in Kreuzberg wurde tot aufgefunden, er ist die Kellertreppe hinuntergefallen – oder hinuntergestürzt worden.«

»Was habe ich damit zu tun?«, fragt Christoph.

»Die Fragen stellen wir.«

Die Kripobeamten teilen sich die Aufgabe. Der eine nickt und tut freundlich, der andere mustert Christoph argwöhnisch.

»Wo waren Sie heute den ganzen Nachmittag und Abend?«

Mist, er hat sich nicht um ein Alibi gekümmert. Irgendwer hätte ihn irgendwo sehen müssen. Aber nichts. Er war einfach nur unterwegs. Und hat sich nicht überlegt, was er sagen könnte.

»Nach der Schule bin ich nach Hause gekommen.«

»Kann das jemand bezeugen?«

Christoph schüttelt den Kopf: »Meine Eltern waren nicht da, aber meine Mutter hat mir was zum Essen hingestellt, und das habe ich gegessen, das kann man doch nachprüfen.«

Der eine Kripobeamte nickt. Good Guy.

Bad Guy fragt weiter: »Wann bist du wieder gegangen?«

Er ist zum ›Du‹ übergegangen. Aber es klingt nicht vertraulich.

»Um zwei oder drei Uhr, glaube ich.«

»Glaubst du oder weißt du?«

»Ich weiß es nicht genau.«

»Wo warst du dann?«

»Im Kino.«

»Allein?«

Christoph nickt. Ihm ist nichts Dümmeres eingefallen. Aber das wäre zumindest eine Möglichkeit, zwei oder drei Stunden dieses Nachmittags abzudecken, für den er so gar kein Alibi hat.

»Wo und was?«

»Eine Spielberg-Retrospektive im Gloria. Ich war im ›Weißen Hai‹.«

»Eintrittskarte?«

»Hab ich weggeworfen.«

»Erzähl mal was zur Geschichte.«

Christoph erzählt. Er kennt den Film aus dem Fernsehen. Er wird ausführlich. Und im hintersten Winkel seines Kopfes denkt er darüber nach, wie er die letzten paar Stunden dieses Tages erklären könnte.

»Okay, okay, du hast den Film gesehen«, sagt der Polizist, und es soll wohl so klingen, als ob er ihm die Geschichte abkauft. »Was dann?«

»Ich habe mir eine Cola gekauft und bin in den nächsten Film gegangen.«

Er sieht, dass ihm niemand glaubt, nicht einmal sein Vater. Aber der bemüht sich, das nicht zu zeigen.

»Ein Cineast.« Der Polizist sagt es spöttisch.

»Wir sind alle sehr kinobegeistert«, meint der Vater. »Und Spielberg ist nun mal ein Meister seines Fachs.«

»Was war’s denn dieses Mal? Derselbe Film?«

»Nein. ›Die Farbe Lila‹.«

Christoph wird heiß und kalt. Diesen Film hat er nicht gesehen. Isabel und er hatten ihn im Kinoprogramm angestrichen, wollten vielleicht reingehen. Aber daraus wurde nichts. Alles ist anders als gestern. Alles.

Doch es kommt keine Frage nach der Geschichte. Nur nach der Eintrittskarte. Wieder schüttelt Christoph den Kopf.

Die Beamten wechseln einen Blick.

»Was hat das mit dem toten Hausverwalter zu tun?«, fragt Christoph. Er muss den Eindruck erwecken, dass er keine Ahnung hat, was sie von ihm wollen. Auf keinen Fall darf es so aussehen, als wüsste er bereits etwas.

»In dem Haus lebt eine Freundin von dir.«

Christoph bemüht sich, den Überraschten zu spielen. Er sieht der Mimik seines Vaters an, dass ihm dies nicht besonders überzeugend gelingt.

Der weniger freundliche Cop übernimmt das Fragen.

»Isabel Hernandez ist doch deine Freundin?«

»Wir gehen in eine Klasse und sind befreundet, ja.«

»Wie sehr?«

Christoph zögert kurz. Muss er alles sagen? Ein fragender Blick zum Vater.

»Antworten Sie bitte.«

Aha, wir sind wieder beim ›Sie‹, denkt Christoph.

»Sie ist nach den Weihnachtsferien in meine Klasse gekommen. Ich habe ihr in Mathe geholfen, wir haben uns angefreundet.«

»Ein sehr verschlossenes Mädchen«, ergänzt sein Vater. »Sie war ein paarmal hier, wegen der Nachhilfe.«

»Das haben Sie uns bereits gesagt.« Der Beamte klingt kühl.

»Aber sie hat doch nichts mit dem Tod des Hausmeisters zu tun, oder?« Christoph will endlich etwas erfahren, nicht nur ausgefragt werden. Doch die Polizisten gehen nicht auf seine Frage ein.

»In der Wohnung hängt ein Foto von dir und Isabel.«

Christoph nickt und versucht es noch einmal.

»War der Sturz des Hausmeisters ein Unfall oder hat ihm jemand was getan? Das wissen Sie doch sicher schon!«

Keine Antwort, weitere Fragen.

»Weißt du, wo Isabel jetzt ist?« Christoph schüttelt den Kopf.

»Sie hat sich den ganzen Tag nicht bei dir gemeldet?« Kopfschütteln.

»Und du hast sie auch nicht kontaktiert?«

Erneutes Kopfschütteln.

»Können wir dein Handy sehen?«

Christoph überlegt kurz: Dürfen die das? Was ist, wenn er sich weigert? Es würde auf alle Fälle verdächtig wirken. Er bemerkt den auffordernden Blick seines Vaters. Warum soll er es nicht rausrücken? Er hat es doch schon bearbeitet.

Der Kripobeamte sieht sich die Einträge an, geht die SMS durch.

»Da ist nichts von Isabel Hernandez.«

Christoph schießt das Blut in den Kopf. Er hat einen Fehler gemacht. Er hätte einen Teil der SMS löschen sollen, nicht alles, schon gar nicht die Nummer. Das ist verdächtiger als alles andere.

»Vielleicht hatte sie gar kein Handy?«, schaltet sich Christophs Vater ein, aber es klingt nicht sehr überzeugend.

Die Polizisten verabschieden sich.

»Komm bitte morgen früh zu uns«, sagt der eine und gibt Christoph eine Visitenkarte.

»Trotz Schule?«

Der Kripobeamte grinst: »Du wirst schon nicht allzu viel versäumen.«

 

»Wo ist sie?«, fragt Christophs Vater, als die Polizei gegangen ist.

»Keine Ahnung.«

Der Blick seines Vaters sagt ihm: Ich weiß, dass du lügst.

Er schenkt sich ein Glas Rotwein ein, bietet auch ihm eins an, doch Christoph schüttelt den Kopf.

»Die Polizei geht schon lange nicht mehr von einem Unfall des Hausverwalters aus«, vermutet sein Vater. »Das merke ich an dem Verhalten der Beamten. Und wenn das so ist, dann steht deine Freundin unter Mordverdacht. Sonst würden sie nicht so schnell hier auftauchen – und sie auch nicht so fieberhaft suchen. Vermutlich haben sie schon eine Fahndung eingeleitet.«

Er schweigt.

»Hast du mit der Sache zu tun?«

Er schweigt.

»Du machst dich strafbar und bringst dich in Gefahr.«

Er schweigt.

»Wir machen uns Sorgen.«

Das ist seine Mutter. Sie steht in der Tür, beunruhigt, aufgewühlt.

»Ich gehe ins Bett, ich bin müde«, sagt Christoph.

»Es spricht für dich, wenn du Isabel helfen willst.« Typisch Mom.

»Aber du hast keine Chance.« Typisch Dad.

 

Er geht in sein Zimmer, legt sich aufs Bett, starrt an die Decke.

Wenn er Pech hat, erfahren die Beamten von der Frau des toten Hausmeisters, dass er schon in der Wrangelstraße war. Er hat also gewusst, dass Isabel verschwunden ist. Er hat auch gewusst, dass Kröger tot war.

Er hat gelogen – und sie werden wissen wollen, warum.

Hätte er gleich sagen sollen, dass er dort war?

Egal, er kann es ohnehin nicht mehr ändern.

Aber eines ist klar: Er muss vorsichtig sein. Denn jede seiner Bewegungen kann Isabel und ihre Mutter verraten.

Er muss stillhalten und warten.

Obwohl er viel lieber vorbeifahren würde. Jetzt. Sofort.

Aber er wagt es nicht einmal, bei ihnen anzurufen.